Für ein Leben in Würde. Die globale Bedrohung durch HIV/Aids und die Handlungsmöglichkeiten der Kirche
Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Texte 91, 2007
1. Zur Würde bestimmt, zur Verantwortung gerufen, zur Gemeinschaft befähigt
Der Glaube an Gott den Schöpfer, den Erlöser und Versöhner ist die Mitte der christlichen Theologie; er gibt allem Reden und Handeln eine Orientierung. Im Glauben an den dreieinigen Gott ist der Mensch genauso in seiner unverlierbaren Würde im Blick wie in seiner Verantwortung für andere und in seiner bleibenden Beziehung zu einer ihn tragenden Gemeinschaft. Der Glaube ist kritischer Maßstab genauso wie Grund und Motivation all derjenigen, die sich in unseren Kirchen und in sozialer Verantwortung engagieren. Dies gilt im besonderen Maße auch für die Auseinandersetzung der Kirchen mit den Fragen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass weltweit HIV/Aids zur Bedrohung des persönlichen Lebens, der Sozialbeziehungen sowie wesentlicher kultureller Errungenschaften geworden ist.
1.1 Zur Würde bestimmt
Es ist die grundlegende Überzeugung des christlichen Glaubens, dass jedem Menschen von Gott eine unverlierbare Würde zukommt. Diese Würde des Menschen ist die Basis menschlichen Zusammenlebens und aller Menschenrechte. In den politischen wie in den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten ist das niedergelegt, wessen jeder bedarf und was unter keinen Umständen verletzt werden darf.
In christlicher Perspektive ist die unverlierbare Würde des Menschen begründet in der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Von Gott ist der Mensch dazu berufen, Gottes Schöpfungswerk zu bewahren und zu pflegen. Biblisch fundiert wird dies mit dem Verweis auf den ersten Schöpfungsbericht: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei ... Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und er schuf sie als Mann und Weib. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch, und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und alles Getier, das auf Erden kriecht.“ (1. Mos 1, 26-28). Der Mensch wird in diesem Schöpfungsbericht in seinem Gegenüber zu Gott verstanden. Er wird von Gott angeredet und soll ihm antworten. Er hat eine Bestimmung und ist berufen zur Gemeinschaft mit Gott in Freiheit. Ihm ist die Welt zur verantwortlichen Gestaltung anvertraut. Das verleiht ihm seine unverlierbare Würde.
Die Gottebenbildlichkeit ist also nicht in der biologischen Beschaffenheit des Menschen begründet, sondern in der bleibenden Zusage Gottes. Durch diese Bezogenheit auf Gott verdient der Mensch als Mensch – also jeder Mensch in jeder Phase seiner Entwicklung und in jeder Verfassung seines Daseins – Achtung, weil ihm Würde eignet, die ihm mit seinem Dasein von Gott gegeben ist. Diese unverlierbare Würde des Menschen ist Grund und Motivation aller kirchlichen Bemühungen und sozialethisch begründeten Auseinandersetzungen mit der Aids-Pandemie in der Gegenwart. Die christliche Theologie tritt für die Würde des Menschen ein, gerade dort, wo sie missachtet wird.
1.2 Zur Verantwortung gerufen
In christlicher Perspektive hat jeder Mensch seine Würde nicht aufgrund dessen, was in ihm steckt, sondern dadurch, dass Gott ihn zu seinem Ebenbild berufen und ihm damit seine unverlierbare Würde zugesprochen hat. Diese Würde wird auch durch die Zusage des Evangeliums von der Liebe Gottes begründet, die sich in Christus offenbart hat und jedem Menschen gilt – besonders den Schwachen und Leidtragenden (Matth 5,4). Denn in Christus selbst hat Gott sich als ein Gott offenbart, der Leiden, Schwachheit und Tod nicht von sich gewiesen, sondern erduldet hat und gerade so dem Leiden und dem Tod die letzte Macht genommen hat.
Die Möglichkeiten Gottes sind bezeugt im Leben Jesu, in seinem Sterben und Auferstehen. In Jesu Tod am Kreuz wird der Mensch seiner Entfremdung ansichtig: Die Verfahrenheit seiner Situation vor sich selbst und vor Gott, seine Verstrickung in Schuldzusammenhänge und Entfremdung verdichtet sich im Tod Jesu am Kreuz. In Jesus Christus handelt Gott im Angesicht des Menschen.
Auch angesichts von Sünde und Schuld, von Lähmung und Entfremdung gilt die Berufung zur Freiheit, gilt die Bestimmung des Menschen, eine „neue Kreatur“ zu werden. Auch als Sünder und mit seiner Schuld ist der Mensch als Gottes Ebenbild zur Verantwortung für sich und andere gerufen und zur tätigen Liebe befreit.
1.3 Zur Gemeinschaft befähigt
Im christlichen Bekenntnis zum dreieinigen Gott ist der Glaube an den Heiligen Geist lebendig. Der Mensch ist angerührt durch das Wirken des Heiligen Geistes, der ihn verbindet mit der „Gemeinschaft der Heiligen“, mit der gesamten Menschheit sowie der mitgeschöpflichen Welt.
Als der zur Gemeinschaft mit der Menschheit und der Schöpfung Gerufene trägt er Verantwortung für die Gemeinschaft und die Gemeinschaft für ihn. Das Bekenntnis zum Heiligen Geist, der den Menschen in die Gemeinschaft mit Gott und der Mitwelt zurückholt, ist für die Kirche wie für Christinnen und Christen Grundlage aller Bemühungen, HIV/Aids-Erkrankte auch in ihrer Mitte wahrzunehmen und in die heilende und vermittelnde Gemeinschaft der Christen zu integrieren.