Bedrohung der Religionsfreiheit
2. Ausgewählte Länderbeispiele
2.1 Von Misstrauen bestimmt – Das Verhältnis von Christen und Muslimen in Ägypten
(Cornelis Hulsman)
Eine der schönsten Geschichten in der Bibel ist die vom barmherzigen Samariter (Lk 10). Hier ist der Nächste nicht der Priester, sondern ein Angehöriger einer verachteten Gruppe, ein Samariter. Die Geschichte lehrt, dass Stereotype irreführend sind.
Ich habe diese Geschichte bei einer Ansprache in einer Kirche im ägyptischen Ort Ishneen el-Nasara zitiert, ersetzte aber den „barmherzigen Samariter“ durch den „guten Muslim“. Die Gemeinde verstand sofort, was ich damit meinte. Christen in Ägypten denken heute ähnlich über Muslime wie Juden über Samariter gedacht haben. Dies gilt natürlich gegenseitig. Jesus bemühte sich, gegenseitige Stereotype aufzubrechen und zeigte, dass wir einander achten müssen, da Gottes Liebe allen gilt. Wenn wir das tun, werden sich Angehörige von Gruppen, die wir geringschätzen, in Zeiten der Not vielleicht als Boten von Gottes Gnade erweisen.
Belastet – das Verhältnis zwischen Muslimen und Christen
Mag auch das Verhältnis zwischen Juden und Samaritern schlecht gewesen sein, das Verhältnis zwischen Muslimen und Christen ist schlechter. Es herrscht gegenseitiges Misstrauen, das, mag es auch immer wieder Momente der Zusammenarbeit gegeben haben, durch Jahrhunderte der Auseinandersetzung genährt wurde: Kreuzzüge, Kolonisierung, westliche Eigeninteressen im Umgang mit der arabischen Welt, Voreingenommenheit im Hinblick auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina, eine lange Geschichte anti-islamischer Äußerungen westlicher Politiker und Autoren und kürzlich der angloamerikanische Einmarsch im Irak. In Ägypten wird man ständig an diese Geschichte erinnert. Sie hat die weit verbreitete Überzeugung zur Folge, dass der Westen den Islam immer wieder angegriffen hat und zerstören will und dass wir Zeugen eines neuen westlichen Kreuzzugs gegen den Islam sind.
Dies ist der Kontext, in dem Christen in Ägypten leben. Sie werden mit dem Westen assoziiert. Zeigt der Westen nicht mehr Interesse an ihrem Wohlergehen als an dem der Muslime? Lesen sie nicht in der selben Bibel? US-Präsident George Bush hat viel getan, um den Westen christlich erscheinen zu lassen. Wenn auch Millionen von Christen anderer Meinung sind: Die Äußerungen Bushs und anderer christlicher Führer in den USA sowie die Pläne US-amerikanischer Organisationen, Missionare in den Irak zu senden, bestärken die Überzeugung, dass der Westen den Islam zerstören will. Sie sind so oft in den arabischen Medien zitiert worden, dass verwundert, warum das Fass noch nicht übergelaufen ist. Die furchtbaren Anschläge vom 11. September 2001 haben zu Übergriffen auf Muslime in den USA und Europa geführt. Dies hatte Anschläge gegen Christen in einigen muslimischen Staaten zur Folge, nicht jedoch in Ägypten. Christen in Ägypten sind sich der Angespanntheit der Situation bewusst. Viele haben – um sich selbst zu verteidigen – öffentlich erklärt, Bush sei kein wirklicher Christ.
Das Thema Religionsfreiheit wird in Ägypten anders behandelt als im Westen. Im Westen betont man die Freiheit des Individuums. Dagegen betonen Ägypter – Muslime und Christen – das, was ihre Gemeinschaft stärkt, wie Traditionen und Glauben. Dabei versuchen sowohl Christen als auch Muslime, die Regierung auf ihrer Seite zu haben. Christen versuchen, ihre Gemeinden vor den Aktivitäten beispielsweise der Zeugen Jehovas zu schützen, Muslime widersetzen sich einer Anerkennung der Baha’i.
Sowohl Christen als auch Muslime kennen keine Hemmungen, Tatsachen zu entstellen, um ihre Gemeinschaft zu stärken, um die kollektive Ehre zu verteidigen oder um in einer Auseinandersetzung dem Gegenüber Schaden zuzufügen. Dem, der nur kurz im Land ist, bleiben die zum Teil subtilen Manipulationen oft verborgen. Viele Journalisten berichten über Geschehenes, ohne den Hintergründen die nötige Beachtung zu schenken. So wird in den Medien oft ein einseitiges und falsches Bild vermittelt und die Polarisierung zwischen arabischer und westlicher Welt verstärkt. Häufig werden Fakten entstellt, weil Muslime glauben, sie seien besser als Christen, und weil Christen glauben, sie seien besser als Muslime. Erinnert dies nicht daran, wie sich Juden und Samariter zu Jesu Zeiten begegneten?
Der christliche Bevölkerungsanteil nimmt ab
Zahlenangaben stellen generell ein Problem dar. Von koptischer Seite wird häufig behauptet, zwanzig Prozent der ägyptischen Bevölkerung seien christlich. Der Menschenrechtsbericht der US-Regierung beziffert den Bevölkerungsanteil der Christen auf acht bis zehn Prozent. Westliche Studien haben ergeben, dass wahrscheinlich nur fünf Prozent der ägyptischen Bevölkerung Christen sind. 95 Prozent davon gehören der Koptisch-Orthodoxen Kirche an. Sicher ist, dass der christliche Bevölkerungsanteil stark abnimmt. Hierbei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Um das Jahr 1925 lebten achtzig Prozent der Christen in Oberägypten, heute sind es etwa fünfzig Prozent. Viele zogen nach Kairo, nach Alexandria oder ins Ausland. Es wird geschätzt, dass siebzig Prozent der in den Westen ausgewanderten Ägypter Christen sind. Viele tausend Christen treten jährlich zum Islam über. Christliche Familien sind meist kleiner als muslimische.
Trotz der sinkenden Zahlen hat das Christentum in Ägypten in den letzten fünfzig Jahren eine nie da gewesene Renaissance erlebt. Christen konnten mehr Kirchen und Klöster bauen als in jedem anderen halben Jahrhundert seit der arabischen Eroberung Ägyptens. Das Mönchstum floriert. Die Anzahl der Priester steigt stark und kirchliche Aktivitäten expandieren.
Die meisten Konflikte innerhalb der ägyptischen Gesellschaft finden in armen Wohngebieten statt, wo die Bevölkerung um das tägliche Überleben kämpfen muss. In Auseinandersetzungen wird häufig auf religiöse Identifikationsmuster zurückgegriffen, um Unterstützung durch Freunde und Familienangehörige zu erhalten. Solche Konflikte werden im Westen oft als Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum dargestellt, aber dass sie in wohlhabenderen Wohngebieten kaum auftreten, spricht dafür, dass sie nicht allein auf religiöse Überzeugungen, sondern überwiegend auf schlechte Lebensbedingungen zurückzuführen sind.
Zwischen Gesetz und Praxis
Ägypten hat mit der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Religionsfreiheit nach Artikel 18 anerkannt, die die Freiheit zur Ausübung und zum Wechsel der Religion umfasst. Aber die ägyptische Interpretation räumt dem Schutz gesellschaftlicher Werte mehr Gewicht ein als individuellen Freiheiten. Ägyptens Regierung verfolgt eine säkulare Politik. Nach Artikel 2 der Verfassung sind jedoch die Prinzipien des islamischen Rechtssystems, der Scharia, Grundlage der Gesetzgebung. Das bedeutet, dass Gesetze nicht gegen die Scharia verstoßen dürfen.
Die Verfassung garantiert die Freiheit von Glaube und Religionsausübung und unterscheidet dabei nicht zwischen den verschiedenen Religionen. Sonst kennt die ägyptische Rechtsordnung offiziell anerkannte Religionsgemeinschaften, zu denen der Islam, das Judentum und etliche christliche Konfessionen zählen, sowie nicht anerkannte Religionsgemeinschaften. Allein die offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften und Konfessionen können ihre Anliegen vor Behörden und Gerichten geltend machen. Sie haben Zugang zu den Massenmedien und können so eine breite Öffentlichkeit erreichen. Da der Islam am weitesten verbreitet ist, dominieren seine Darstellungen in den Massenmedien. Nicht anerkannte Religionsgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas oder die Baha’i dürfen ihre Religion ausüben, solange sie nicht offensiv gegenüber einer der anerkannten Religionsgemeinschaften auftreten. Dies bedeutet in der Praxis, dass sie kaum öffentlich wirken können. Christen und Muslime sind praktisch gleich vor dem Gesetz. Christen können sich jederzeit frei in ihren Gemeindehäusern versammeln. Muslime dürfen dies nur während der fünf täglichen Gebete. Die Regierung möchte verhindern, dass sich radikale Gruppen in Moscheen versammeln.
Ägypten ist ein religiöses Land. Seine Einwohner messen den Werten ihrer jeweiligen Religion große Bedeutung zu. Christen und Muslime teilen grundlegende Werte wie die Ehre und das Bedürfnis, die eigenen Traditionen zu wahren. Artikel 98 des Strafgesetzbuches verbietet, eine der offiziell anerkannten Religionen zu beleidigen oder Konfessionsstreitigkeiten anzuzetteln. Auf diesen Straftatbestand haben sich sowohl Christen als auch Muslime berufen, um gegen Personen vorzugehen, die ihren Glauben herabgewürdigt haben.
Die ägyptische Rechtsordnung verbietet den Übertritt vom Islam zum Christentum oder vom Christentum zum Islam nicht. Denjenigen, die sich vom Islam lossagen wollen, stehen jedoch hohe bürokratische Hürden entgegen. Die Religionszugehörigkeit ist in den Ausweispapieren vermerkt. Während die Änderung des Eintrags vom Christentum zum Islam einfach ist, ist es praktisch unmöglich, den Eintrag der islamischen Religionszugehörigkeit zu ändern. Dies bringt etliche Probleme mit sich, etwa für Eheschließungen, zumal interreligiöse Ehen in vielen Fällen nicht akzeptiert werden. Führende Muslime erklären, der Austritt aus dem Islam sei erlaubt, solange der oder die Ausgetretene nach dem Austritt nicht den Islam angreife. Andere glauben, Apostasie verletze den Islam und solle mit dem Tod bestraft werden. Tatsächlich sind ehemalige Muslime nach Artikel 98 des Strafgesetzbuches verurteilt worden, aber die Todesstrafe ist dabei bisher nie zur Anwendung gekommen. Öffentliche Statistiken zur Anzahl der Konversionen fehlen. Gewiss ist aber, dass hunderte mal mehr Christen zum Islam konvertieren als Muslime zum Christentum. Christen haben behauptet, dass die Übertritte zum Islam auf physischen Zwang zurückzuführen sind. Nachforschungen haben jedoch keine Beweise dafür finden können. Grund für die Übertritte sind vielfältige soziale Probleme.
Nach offiziellen Erklärungen der ägyptischen Regierung gibt es keine Beschränkungen für den Bau und den Unterhalt von religiösen Gebäuden. Seit die Zuständigkeit für Genehmigungsverfahren im Jahr 1998 an die Gouverneure delegiert wurde, haben die Genehmigungen für Renovierungen stark zugenommen. Dabei entsteht immer wieder der Eindruck, dass der Ausgang eines Genehmigungsverfahrens von der Qualität der Beziehungen der betroffenen Kirchenführung zum Gouverneur abhängt. Genehmigungen für Neubauten werden weitaus seltener erteilt.
Diskriminierung von Christen aber keine „Christenverfolgung“
Über Diskriminierungen gegenüber Christen wird häufig berichtet. Sie können aber selten auf die Gesetze oder deren Auslegung zurückgeführt werden, sondern gehen vielmehr auf ein vergiftetes soziales Klima zurück, das von starken Überlegenheitsgefühlen und dem ausgeprägten muslimischen Bewusstsein herrührt, dass der arabischen Welt vom Westen Unrecht zugefügt worden ist. In den 1980er und 1990er Jahren haben islamische Extremisten verschiedene gewalttätige Anschläge auf Christen verübt. Im Jahr 1997 kostete ein Anschlag auf Touristen in Luxor 58 Ausländer das Leben. Die Regierung hat seit 1997 große Anstrengungen unternommen, um weitere Anschläge zu verhindern. Die Gewalttaten, von denen seit 1997 berichtet wurde, standen nicht mit extremistischen Gruppen im Zusammenhang, sondern mit Gefühlsausbrüchen von spontanen Menschenansammlungen, oft in der Nähe von Kirchengebäuden.
Es wäre nicht richtig, von Christenverfolgung in Ägypten zu sprechen, soweit damit staatlich organisierte und geplante Übergriffe oder zumindest ein systematisches Verweigern von Schutz durch die Regierung gemeint sind. Dies gibt es in Ägypten nicht, was nicht bedeutet, dass der Schutz für Christen in einzelnen Regionen nicht mangelhaft ist.
[Dieser Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Corinna Schellenberg. Er ist die kurze Zusammenfassung eines kürzlich erschienenen „Arab-West Report on freedom of religion“, der in Abstimmung mit ägyptischen Kirchenführern, Theologen und anderen Experten auf Englisch verfasst wurde. Dieser Report kann gratis über den Arab-West Report, jourcoop@intouch.com , bezogen werden. Hier sind auf Anfrage ferner weitere Artikel sowie ein arabischer Pressespiegel in englischer Sprache zum Thema „arabisch-westlicher Dialog“ erhältlich.]
Dr. Cornelis Hulsman ist ehemaliger Lehrbeauftragter für Massenkommunikation an der Amerikanischen Universität in Kairo und Begründer und Chefredakteur des „Arab-West Report“, einem Nachrichtendienst zu Themen von Bedeutung für die arabisch-westliche Verständigung.
Weiterführende Literatur:
- „Erneuerung in der Koptisch-Orthodoxen Kirche – Die Geschichte der koptisch- orthodoxen Sonntagsschulbewegung und die Aufnahme ihrer Reformansätze in den Erneuerungsbewegungen der Koptisch-Orthodoxen Kirche der Gegenwart – Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte“, Wolfram Reiss, LIT Verlag, Hamburg 1996
- „Die Zukunft der orientalischen Christen – Eine Debatte im Mittleren Osten“ // Bezug: Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Normannenweg 17 – 21, 20537 Hamburg, Telefon (0 40) 2 54 56-148, Telefax (0 40) 2 54 29 87
2.2 Zwischen Aufbruch und Anpassung – Religionspolitik in China
(Monika Gänßbauer)
„Nie gab es in China mehr Religionsfreiheit als heute“, sagt Pfarrer Bao Jiayuan, einer der stellvertretenden Generalsekretäre des Chinesischen Christenrates (CCC). Dabei vergleicht er mit Zeiten wie der Kulturrevolution (1966 – 1976), in der Bibeln verbrannt und Gläubige in den Untergrund getrieben wurden, weil jede Religion als feudalistisches Überbleibsel und als Opium galt. Glücklicherweise sind die Zeiten einer Verfolgung aller religiösen Lebensäußerungen in China tatsächlich Vergangenheit. Die im Jahr 1985 gegründete Diakoniestiftung Amity, die landesweit in sozialer Wohlfahrt, Gesundheitsvorsorge und ländlicher Dorfentwicklung aktiv ist, feierte im Jahr 2002 den Druck von 30 Millionen Bibeln. Jedes Jahr bekennen sich allein auf protestantischer Seite eine Million Menschen neu zum Christentum. Die offizielle protestantische Kirche zählt heute, konservativ geschätzt, 16 Millionen Gläubige.
Von 25 Millionen Protestanten spricht ein Dokument der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) aus dem Jahr 2000 und erkennt damit die Existenz protestantischer Gemeinden an, die sich außerhalb des CCC bewegen. Es ist allerdings kaum möglich, zuverlässige Zahlen für die in so genannten Hauskirchen organisierten Christen zu ermitteln. Insgesamt gab das KPCh-Dokument die Zahl von etwa 220 Millionen Religionsanhängern in China an: 150 Millionen Buddhisten, 11 Millionen Muslime, 5,5 Millionen Daoisten und 3,2 Millionen Katholiken. Das China-Zentrum in St. Augustin spricht von rund 12 Millionen Katholiken, die etwa jeweils zur Hälfte der offiziellen Kirche bzw. dem so genannten „Untergrund“ angehören. Die Kirche im „Untergrund“ hat sich von Anfang an offen der staatlichen Forderung widersetzt, sich von Rom zu trennen. Die offizielle Kirche hat dank der Anerkennung durch den Staat mehr Freiräume für ihre Arbeit. Sie darf aber, so bestimmt es die Regierung, keine Verbindung mit dem Vatikan haben.
Situation der nicht registrierten Kirchen
Um staatlich registriert zu werden, müssen Religionsgemeinschaften in China bestimmte Bedingungen hinsichtlich Sitz, Mitgliederzahl, Verfassung, Satzung und Einnahmequelle erfüllen. Die nicht registrierten evangelischen „Hauskirchen“ und katholischen „Untergrundkirchen“ verfügen wahrscheinlich insgesamt über mindestens ebenso viele Anhänger wie die registrierten Kirchen. Ihre Registrierung wird teilweise durch die o. g. Bedingungen oder deren Auslegung durch die Behörden erschwert. Teilweise entscheiden sich Gruppen selbst gegen eine Registrierung.
Viele nicht registrierte Gruppen werden toleriert, vor allem solange sie klein und unauffällig sind. Verschiedene Quellen berichten jedoch auch von regelmäßigen staatlichen Repressionen gegenüber Anhängern nicht registrierter Gruppen. So stellt der 6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen fest: „Gottesdienste der nicht anerkannten protestantischen ‚Hauskirchen‘ und der romtreuen katholischen Untergrundkirche werden immer wieder gewaltsam aufgelöst, Gotteshäuser zerstört, Gläubige verhaftet und teilweise in Straflager eingewiesen. In Einzelfällen kam es nach Prozessen, die rechtsstaatlichen Erfordernissen nicht genügen, sogar zur Verhängung der Todesstrafe.“
Amnesty international berichtet in seinen Jahresberichten von Drangsalierungen sowie von Verhaftungen und Verurteilungen von Christen ohne ordentliches Gerichtsverfahren, z. T. im Rahmen der 1998 angelaufenen „Kampagne gegen den Aberglauben“. Im Herbst 2001 berichtete amnesty international in mehreren Eilaktionen, dass Anhänger der als Sekte eingestuften „Südchinesischen Kirche“ verhaftet, in Haft gefoltert und zu langen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt worden waren. Laut Human Rights Watch wurden im Dezember 2002 in Wenzhou hunderte „illegaler“ Kirchen zerstört.
Corinna Schellenberg
Die Verfassung
Die am 4. Dezember 1982 erlassene und bis heute gültige Verfassung der VR China hält in Artikel 36 fest: „Die Bürger der Volksrepublik China genießen Glaubensfreiheit. Kein Staatsorgan, keine gesellschaftliche Organisation und keine Einzelperson darf Bürger dazu zwingen, sich zu einer Religion zu bekennen oder nicht zu bekennen, noch dürfen sie jene Bürger benachteiligen, die sich zu einer Religion bekennen oder nicht bekennen. Der Staat schützt normale religiöse Tätigkeiten. Niemand darf eine Religion dazu benutzen, Aktivitäten durchzuführen, die die öffentliche Ordnung stören, die körperliche Gesundheit von Bürgern schädigen oder das Erziehungssystem des Staates beeinträchtigen. Die religiösen Organisationen und Angelegenheiten dürfen von keiner ausländischen Kraft beherrscht werden.“
Der chinesische Verfassungsartikel bietet in seiner Ungenauigkeit jedoch keine ausreichende Basis für den Umgang mit Religion, beispielsweise fehlt eine Legaldefinition des Begriffs „normale religiöse Angelegenheiten“. Die Definitionsmacht für diese Formulierung liegt nach wie vor in den Händen von Partei- und Staatsvertretern, die je nach Bedarf unterschiedliche Interpretationen vornehmen und nicht bereit sind, dieses Machtinstrument zugunsten einer stärkeren Verrechtlichung im Religionsbereich aus der Hand zu geben.
Dokument Nr. 19
Das Dokument Nr. 19, am 31. März 1982 vom Zentralkomitee der KPCh erlassen, stellt bis heute das richtungsweisende Dokument der Partei zu Fragen der Religion dar und erfährt im Umgang mit allen anerkannten Religionen Chinas Anwendung. Genannt werden als anerkannte Religionen: Buddhismus, Daoismus, Katholizismus, Protestantismus und Islam. In dem Dokument wird Religion als historisches Phänomen betrachtet, das „schließlich aus der Menschheitsgeschichte verschwinden“ werde, doch erst „unter der Bedingung einer langfristigen Entwicklung vom Sozialismus zum Kommunismus und wenn alle objektiven Bedingungen dafür gegeben“ seien.
Dokument Nr. 19 sieht die Verwirklichung einer Politik der religiösen Glaubensfreiheit als eine Hauptaufgabe in der „neuen geschichtlichen Periode“. Auch müsse die „patriotische politische Bindung in jeder ethnisch-religiösen Gruppe konsolidiert und ausgeweitet werden“. Internationale Kontakte chinesischer Religionsvertreter seien erlaubt, aber man müsse wachsam sein, denn es gebe „im Ausland reaktionäre und imperialistische religiöse Gruppen“, die jede Gelegenheit nutzten, „auf das chinesische Festland zurückzukehren und China zu infiltrieren.“ Es sind vor allem die religiösen Führungspersönlichkeiten, die als „patriotische Persönlichkeiten“ im Fokus des Parteistaates stehen und ihre Loyalität zum real existierenden Sozialismus der Volksrepublik immer wieder unter Beweis stellen müssen.
Mit Dokument Nr. 19 haben sich seit den 1980er Jahren aber zumindest Wege für eine pragmatische Zusammenarbeit zwischen Religionen und Parteistaat in China aufgetan. Bei der Beschäftigung mit Religionspolitik im heutigen China gilt es außerdem, sich immer wieder bewusst zu machen, dass Religion in China nie eine eigenständige Macht dargestellt hat. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander zwischen Staat und Kirche, wie es sich in Europa entwickeln konnte, gab es in China nie.
Drei-Selbst-Bewegung und Chinesischer Christenrat
Nach dem Systemumbruch von 1949 und der Ausweisung aller ausländischen Missionare gründeten die protestantische Kirchenvertreter Chinas in den 1950er Jahren eine Drei-Selbst-Bewegung. Diese politische Einheitsfrontorganisation protestantischer Kirchen propagiert die Prinzipien Selbstverwaltung, Eigenfinanzierung und eine von Chinesen verantwortete Verkündigung. Aufgabe der ist es gemäß ihrem Statut, „die Christen in ganz China unter der Leitung der Kommunistischen Partei und der Volksregierung zu einen“. Auch der im Jahr 1980 zur Wahrnehmung innerkirchlicher Aufgaben gegründete Chinesische Christenrat (CCC) hat zum Ziel, „die Gläubigen des Landes zu vereinen, die Jesus Christus als ihren Herrn bekennen, um unter der Leitung des Heiligen Geistes, einig und in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift, den patriotischen Drei-Selbst-Prinzipien, der nationalen Kirchenordnung, der Verfassung, den Gesetzen und der Politik des Landes die Kirche gut zu leiten.“ Seit dem Jahr 1991 ist der CCC Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Inzwischen ist es ausländischen Kirchen auch wieder möglich, die theologische und soziale Arbeit des CCC finanziell zu unterstützen – „solange“, so der CCC, „diese Unterstützung nicht an Bedingungen geknüpft wird, die einer Unabhängigkeit der chinesischen Kirche entgegenstehen“.
CCC und Drei-Selbst-Bewegung wurden in China oft verglichen mit den zwei Armen eines Körpers und sollten gleichberechtigt nebeneinander stehen. Bereits in den 1980er Jahren zeigte sich aber, dass von einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen beiden Organisationen nicht die Rede sein konnte. Die Drei-Selbst- Bewegung wurde als politische Massenorganisation immer wieder vom Parteistaat für Eingriffe in innerkirchliche Angelegenheiten missbraucht. Im Jahr 1988 äußerte sich Bischof K. H. Ting in großer Offenheit über existierende Missverhältnisse in der Kompetenzverteilung. Kirchenleitende Funktionen gehörten nicht zu den Aufgaben der Bewegung, so Ting. Er erklärte dies mit der besonderen Natur der Kirche: „Die Kirche ist zwar eine gesellschaftliche Gruppe, aber sie hat auch eine heilige Dimension.“ Der Bischof sprach die Erwartung aus, dass es zwischen Staat und Kirche in Zukunft zu einer stärkeren Trennung kommen solle.
Mit der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung im Jahr 1989 kam die Diskussion um eine Neuordnung der Funktionen in der chinesischen Kirche zu einem vorläufigen Ende. Erst elf Jahre später stieß Wang Aiming, Vizedirektor des Theologischen Seminars von Nanjing, die Diskussion erneut an. Er kritisierte, dass das chinesische Christentum – bei gleichzeitiger Modernisierung aller anderen Lebensbereiche in China – noch immer „unter politischer Fürsorge“ stehe und gesellschaftlich marginalisiert sei. Wang fand, das Prinzip der Selbstverwaltung sei im Blick auf die Unabhängigkeit der chinesischen Kirche vom Ausland längst verwirklicht. Er plädierte für ein anders verstandenes Prinzip der Selbstverwaltung. Seiner Beobachtung nach handeln die Christenräte der verschiedenen Ebenen innerkirchlich oft noch immer nach Regeln, die die staatlichen Büros für Religiöse Angelegenheiten vorgeben. Nach wie vor sind die Grenzen für Leitungsverantwortung und Selbstorganisation von Christenrat und Drei-Selbst-Bewegung eng gezogen. Die Kontrolle durch den Parteistaat erschwert die Entwicklung der Kirchen zu zivilgesellschaftlich relevanten Gruppen.
Falungong
Im April 1999 hatten rund 10.000 Anhänger der seit 1992 existierenden Falungong- Bewegung 13 Stunden lang schweigend und diszipliniert vor dem Zhongnanhai- Bezirk, dem Zentrum der Macht, für eine Anerkennung als offizielle Vereinigung demonstriert. Im Oktober 1999 erließ der Nationale Volkskongress eine Resolution gegen „häretische Kulte“. Auch die führenden offiziellen Religionsvertreter Chinas erklärten öffentlich ihre Ablehnung „häretischer Kulte“ wie die Falungong-Bewegung. Mit Restriktionen wie Verhaftungen, Zwangsarbeit und Umerziehung gegen Falungong kam es allerdings im ganzen Land zu einer verschärften Kontrolle aller Religionsgemeinschaften und zu Verhaftungen von Anhängern nicht registrierter religiöser Gruppen. Nach dem Terrorakt gegen die USA vom 11. September 2001 wurde die Falungong-Bewegung neben Kräften in den Regionen Xinjiang und Tibet, die nach Autonomie streben von offizieller Seite zur potenziell „terroristischen Kraft“ erklärt.
Eine Gruppe wie Falungong, die ihre Anhängerschaft im Jahr 1999 mit 70 Millionen angab, verfolgt der chinesische Parteistaat wohl vor allem aus zwei Gründen: Zum einen wegen ihres schwer kontrollierbaren Oppositionspotenzials, zum anderen – und hier teilen sich sämtliche religiöse Gruppierungen Chinas die misstrauische Aufmerksamkeit des Parteistaats – wegen ihres für die Menschen in China attraktiven Erwartungs-, Hoffnungs- und Handlungspotenzials, das mit der noch immer für verbindlich erklärten Weltsicht des Marxismus konkurriert.
Die Sinologin und Politologin Dr. Monika Gänßbauer leitet seit 1996 die China InfoStelle, ein Studienprojekt zu protestantischem Christentum in China. Seit 1999 ist sie zudem Ostasienreferentin des Nordelbischen Missionszentrums (NMZ) in Hamburg.
Weiterführende Literatur:
- „Christentum chinesisch – in Theorie und Praxis“, Monika Gänßbauer, Breklum 2003 // Bezug: China InfoStelle c / o NMZ, Agathe-Lasch-Weg 16, 22605 Hamburg, Telefon (0 40) 8 81 81-3 13, Telefax (0 40) 8 81 81-2 10
- „Fallbeispiel China – Ökumenische Beiträge zu Religion, Theologie und Kirche im chinesischen Kontext“, Roman Malek, Steyler Verlag, Nettetal 1996
- „Religion im heutigen China. Politik und Praxis“, Donald MacInnis, Steyler Verlag, Nettetal 1993
- „Zur Lage der Menschenrechte in der VR China Religionsfreiheit“, Georg Evers, missio Aachen, Reihe Menschenrechte Nr. 1 / 2001 // Bezug: missio Aachen, Postfach 10 12 48, 52012 Aachen, Telefon (02 41) 75 07-00, Telefax (02 41) 75 07-61-2 53, EMail: menschenrechte@missio-aachen.de
2.3 Auf dem Weg zum Hindu-Staat – Indiens Christen unter Druck
(Klaus Schäfer)
Indien stellt für viele Menschen im Westen ein großartiges Beispiel religiöser Toleranz dar. Bestätigt wird dieses wesentlich von Mahatma Gandhi geprägte Bild auch durch die indische Verfassung, in der es in Artikel 25 zur Religionsfreiheit heißt: „Unter Berücksichtigung öffentlicher Ordnung, Moral und Gesundheit und anderer Verordnungen dieses Teils (sc. der Verfassung, die sich mit Grundrechtsartikeln beschäftigt) haben alle Personen gleichermaßen Anspruch auf die Freiheit des Gewissens und das Recht, (ihre) Religion frei zu bekennen, zu praktizieren und zu propagieren.“
Mit dem in der Verfassung verankerten Prinzip der Säkularität ist – so sehen es jedenfalls die meisten Inder – nicht nur die Neutralität des Staates den verschiedenen Religionen gegenüber zum Ausdruck gebracht, sondern eine positive Würdigung und ein Respekt den Religionen gegenüber verbunden. Verschiedene andere Verfassungsartikel halten daneben fest, dass den religiösen Minderheiten besonderer Schutz gewährt wird. Dass Indien eine Kommission für die Minoritäten hat, in der die verschiedenen Religionen vertreten sind und in der Probleme der religiösen Minderheiten behandelt werden können, und dass Indien bis heute verschiedene Zivilgesetzbestimmungen für Hindus, Muslime und Christen kennt, ist Ausdruck dieser in der Verfassung festgehaltenen Prinzipien, die die Multikulturalität und Multireligiosität schützen will.
Auf der anderen Seite sind diese Verfassungsprinzipien, die in Indien nie ganz unumstritten waren, in neuerer Zeit wieder Gegenstand heftiger Debatten geworden. Unter dem Schlagwort der Hindutva, Hindutum, und dem Slogan „Eine Nation, ein Volk, eine Kultur“ verfolgen eine ganze Reihe neuerer und älterer hindu-nationalistischer Gruppen eine mehr oder weniger aggressive Politik einer „Hinduisierung“ der indischen Nation, die religiöse Minderheiten auszugrenzen sucht. Unter diesen Gruppen ist auch die seit dem Jahr 1998 in Koalition mit anderen Parteien regierende Baratiya Janata Party (BJP). Betroffen sind besonders die muslimische und christliche Minderheit, denen von den radikalen Hindu-Gruppen auf Grund ihres Ursprungs außerhalb des indischen Mutterlandes entweder ein Heimatrecht in Indien rundheraus bestritten oder denen doch zumindest eine Anerkennung der Vorherrschaft einer vom Hinduismus geprägten indischen Kultur abverlangt wird.
„Antikonversionsgesetze“
Bereits in den 1960er und 1970er Jahren wurden in drei indischen Bundesstaaten – Orissa, Madhya Pradesh und Arunachal Pradesh – Gesetze erlassen, die die Religionsfreiheit massiv einschränken. Offiziell sind diese Gesetze zum Schutze der Religionsfreiheit eingeführt. Doch aus der Sicht der indischen Kirchen handelt es sich um nichts anderes als „Antikonversionsgesetze“, die den Wechsel von einer Religion zur anderen außerordentlich schwierig machen. Unter Strafe gestellt wird hier zwar nicht die Konversion selbst – also die freie Entscheidung eines Menschen, eine andere Religion anzunehmen –, sondern eine auf „Bekehrung“ im Sinne eines Religionswechsels zielende Tätigkeit, die sich unlauterer Mittel bedient und mit „Zwang“, „Verlockungen“ oder „betrügerischen Mitteln“ arbeitet. Ähnliche Gesetze sind im Oktober 2002 im indischen Bundesstaat Tamil Nadu und im März 2003 im Bundesstaat Gujarat beschlossen worden. Ersterem entsprechend kann eine solche Tätigkeit mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren sowie einer Geldstrafe geahndet werden. Jeder Übertritt einer Person von einer Religion zu einer anderen muss vor der offiziellen Übertrittszeremonie – also etwa der christlichen Taufe – dem Distriktmagistrat gemeldet werden. Ein solches Gesetz möchte die in Delhi regierende BJP gern für ganz Indien einführen.
Die Problematik dieser Gesetze liegt nicht so sehr darin, dass hier einem Missbrauch gewehrt werden soll, – eine Bekehrungstätigkeit, wie sie hier angegriffen wird, ist in der Tat verwerflich – sondern darin, dass die vagen Formulierungen der Gesetzestexte der willkürlichen Auslegung durch staatliche Behörden und der Agitation durch nichtstaatliche Akteure Tür und Tor öffnen. Weil jegliche Art öffentlichen Engagements von Christen in der Gesellschaft, etwa die Einrichtung von Schulen, das Angebot medizinischer Hilfe, das Engagement in Entwicklungsprojekten, ja sogar die Veranstaltung von Gottesdiensten, als ungebührliche Beeinflussung zur Konversion diskreditiert werden kann, breitet sich unter Christen große Unsicherheit aus. Diese wird durch die Erfahrung massiver Einschüchterungen sowie gewalttätiger Übergriffe gegen Christen und kirchliche Institutionen und Symbole von Seiten hindu-nationalistischer Kreise zusätzlich genährt.
Auffällig und aus der Sicht der Betroffenen – etwa der Adivasi, den Angehörigen der Urbevölkerung, aber auch der Frauen – entwürdigend ist zudem, dass die Gewissensentscheidung der Einzelnen überhaupt nicht in den Blick kommt und die Menschen insgesamt wie Unmündige behandelt werden. Die Kritik an diesem Gesetz, die nicht nur von Christen und Muslimen kommt, hebt aus diesen und anderen Gründen zu Recht hervor, dass solche Gesetze nicht nur eine massive Einschränkung der Religionsfreiheit bedeuten, sondern auch zusätzlich den Versuch darstellen, kritische soziale Bewegungen einzudämmen, deren sozialer Protest gegen das mit dem Hinduismus verbundene Stigma der Unberührbarkeit und die gesamte brahmanisch geprägte Kastenordnung sich nicht selten in Konversionsbewegungen äußert.
Religiöse Diskriminierung indischer Dalits
Religiöse Diskriminierung zeigt sich auch im Blick auf die Behandlung der vormals „unberührbar“ genannten, bis heute stark marginalisierten indischen Bevölkerungsschicht der „Kastenlosen“, die sich heute selbst Dalits, die Zerbrochenen, die Zertretenen, die Unterdrückten, nennen. Die indische Verfassung hat in Artikel 17 die Aufhebung der „Unberührbarkeit“ erklärt. Verbunden mit dieser Erklärung ist in den Artikeln 15 – 17 ein allgemeines Verbot der Diskriminierung aus Gründen von Religion, Rasse, Kaste, Geschlecht oder Geburtsort (Art. 15). Artikel 15,3 hält fest, dass der Staat „besondere Vorkehrungen für die Förderung der sozial und bildungsmäßig rückständigen Klassen der Bürger und der Scheduled Castes, Dalits, und Scheduled Tribes, Adivasi oder Stammesvölker,“ vornehmen kann.
In der Praxis zeigt sich diese „positive Diskriminierung“ in der Förderung benachteiligter Bevölkerungsgruppen durch die indische Regierung. So gibt es für benachteiligte Gruppen beispielsweise Quoten bei der Vergabe von Arbeitsplätzen in staatlichen Einrichtungen und bei Ausbildungsplätzen sowie finanzielle Förderung in Form von Stipendien. Allerdings galten diese Fördermaßnahmen zunächst ausschließlich für Hindus; im Jahre 1956 wurden sie auf Sikhs und im Jahre 1990 auch auf Buddhisten ausgedehnt. Christen und Muslime, die in sozialer Hinsicht genauso benachteiligt sind wie Dalits aus der Hindu-Religion, sind von solchen Förderungsmaßnahmen ausgenommen. Und ein Dalit, der Christ oder Muslim wird, verliert die Förderung, auf die sein Hindu-Nachbar weiter Anspruch hat.
Religiöse Diskriminierung in der indischen Zivilgesetzgebung
Ein dritter Bereich, in dem religiöse Diskriminierung durch Gesetzgebung in massiver Weise wirksam ist, betrifft das indische Zivilrecht. In den 1950er Jahren wurden eine Reihe von Zivilgesetzen verabschiedet, die zu einer nachhaltigen Reform der für Hindus geltenden „persönlichen Gesetze“, personal laws, führten. Dabei ist allgemein anerkannt, dass diese neuen Gesetze eine wirkliche Modernisierung und Demokratisierung der bürgerlichen Gesetzgebung – zum Beispiel im Blick auf die Rolle der Frau – bedeuteten. Auf der anderen Seite hatten zahlreiche dieser Gesetze aber negative Konsequenzen für die Religionsfreiheit. Im Gesetz zur Eheschließung von Hindus, Hindu Marriage Act, von 1955 wird zum Beispiel gesagt, dass ein Partner, der die Hindu-Gemeinschaft durch Übertritt zu einer anderen Religion verlässt, dadurch eine Legitimation für eine Ehescheidung bietet. Das hinduistische Elternrecht von 1956 disqualifiziert einen Konvertiten, Vormund seines eigenen Kindes oder auch der Vormund seiner Frau zu sein, wenn sie noch minderjährig ist. Und das Adoptionsrecht von 1956 sieht vor, dass ein Konvertit nichts unternehmen kann, wenn sein oder ihr Partner ein Kind adoptieren möchte, und dass ein Elternteil das Kind zur Adoption freigeben kann, ohne dass der andere Elternteil, der zu einer anderen Religion übergetreten ist, dem zustimmen muss.
Die Zukunftsfrage: Säkularer Staat oder Hindutva-Nation
Alle drei genannten Bereiche zeigen die Tendenz, dass es um den Schutz und die Verteidigung der Hindu-Gemeinschaft und die Politik einer Hinduisierung der indischen Gesellschaft geht. Nicht alle Gesetze sind vom Geist – oder Ungeist – der Hindutva-Ideologie geprägt, doch spiegeln sie alle ein tiefes Ressentiment gegenüber dem Gedanken eines Rechtes auf freie Wahl einer Religion. Bei der Mehrheit der Hindus und insbesondere bei den Repräsentanten der heute so einflussreichen Hindutva-Ideologie herrscht ein Religionsverständnis vor, das zum einen davon ausgeht, dass ein Mensch bei der Religion bleiben solle, in der er geboren worden ist. Zum anderen betont es, dass jede Nation eine spezifische kulturell-religiöse Prägung besitzt. Für Indien charakteristisch, so wird hier argumentiert, ist die hinduistisch bestimmte Kultur, die zwar ein weites Spektrum von Glaubensformen akzeptiert – auch die in Indien entstandenen Religionen der Sikhs und der Buddhisten werden so unter einen kulturell verstandenen Begriff des Hindutums subsumiert –, das sich aber klar von Religionen unterscheidet, die nicht in Indien entstanden sind.
Religionsfreiheit ist in Indien eine sehr komplexe Angelegenheit, in der sich unterschiedliche Religionsanschauungen gegenüberstehen: Auf der einen Seite ein Religionsverständnis, in dem das Territorium eine entscheidende Rolle spielt, weil es Indien als Land der „Hindus“ definiert. Auf der anderen Seite eine universale Religion, die die individuelle Gewissensfreiheit betont. Wenn zur juristisch und politisch motivierten Benachteiligung außerdem noch die Erfahrung massiver Gewalt von Seiten hindu-nationalistischer Kreise kommt in Form von Attacken gegen Moscheen und Kirchen, wenn Bibeln verbrannt und Menschenleben bedroht werden und diese Gewalt politisch gedeckt wird, muss man über die Zukunft der religiösen Minderheiten in Indien besorgt sein. In einer Situation, in der die Frage nach der nationalen Identität Indiens zudem neu in Bewegung gekommen ist und in der man sich darüber streitet, ob Indien weiterhin ein säkularer Staat oder ein hinduistisch geprägtes Gemeinwesen ist, haben religiöse Minderheiten es schwer, ihre Anliegen zu Gehör zu bringen, ihren Glauben zu leben und in der Öffentlichkeit für ihn einzustehen.
Pfarrer Dr. Klaus Schäfer ist Leiter der Abteilung Studien und Öffentlichkeitsarbeit im Evangelischen Missionswerk in Deutschland, Hamburg.
Weiterführende Literatur:
- „Indien – Diskussion um Minderheiten-Schutz in Indien anlässlich der Übergriffe auf die christliche Minderheit“, ems-Informationsbrief 1 / 1999 // Bezug: Evangelisches Missionswerk in Südwestdeutschland e. V., Vogelsangstr. 62, 70197 Stuttgart, Telefon (07 11) 6 36 78-71, Telefax (07 11) 6 36 78-55
- „Theologie der Religionen – Frieden, Vergebung und Versöhnung im Islam, Hinduismus und Christentum“, ems-Dokumentationsbrief 1 / 2002 // Bezug: s. o.
2.4 In Gefahr? Religionsfreiheit in Indonesien
(Olaf Schumann)
In welcher Beziehung die verschiedenen Religionsgemeinschaften in einem unabhängigen Indonesien zueinander stehen sollten, war eine der sensibelsten Fragen, denen sich die nationale Bewegung seit den 1920er Jahren bis zur Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1945 gegenübersah. Einige ihrer Führer hielten die europäischen säkularen Staatstheorien, die eine Trennung von religiöser und staatlicher Organisation und eine rechtliche Gleichstellung aller Staatsbürger anstreben, auch für Indonesien geeignet. Dem widersprachen die islamischen Nationalisten. Sie konnten sich, einem Trend in der internationalen islamischen Modernisierungsbewegung entsprechend, nur ein Gegenmodell zu europäischen, durch Kolonialismus und Imperialismus diskreditierten Staatsformen vorstellen und forderten einen „Islam- Staat“ mit dem islamischen Rechtssystem Scharia als Grundlage der Verfassung.
Die Pancasila – Chance für ein friedliches Nebeneinander der Religionen
Den Ausweg aus diesem Dilemma fand der spätere erste Staatspräsident Indonesiens, Sukarno. Er entwarf im Jahr 1945 die Staatsideologie Pancasila, nach der die staatliche Ordnung Indonesiens auf fünf weltanschaulichen Prinzipien ruhen sollte. Eines davon war der Glaube an einen alles umfassenden Gott. Der Staat hat die Aufgabe, die Religionen und ihren Lebensraum zu schützen, doch entscheiden die Glaubensgemeinschaften über die Art und Weise ihrer Beteiligung am gesellschaftlichen Leben und darüber, in welchen Glaubenslehren sie sich ausdrücken. Dabei tragen sie auch Verantwortung für das harmonische Zusammenleben in der Gesellschaft. In der Verfassung von 1945 wurde jedem Staatsbürger und jeder Staatsbürgerin die freie Wahl der Religion garantiert.
Bevor die Verfassung von 1945 mit der Pancasila in der Präambel verabschiedet wurde, versah eine kleine Kommission, die die Verfassungsinhalte genauer bestimmen sollte, das „religiöse“ Prinzip auf Drängen einiger islamischer Mitglieder mit dem Zusatz „mit der Verpflichtung, dass (die Anhänger des Islam) die Scharia befolgen“. Diese später als „Jakarta Charta“ bekannt gewordene Formel wurde bei der Verabschiedung der Verfassung wieder verworfen, da sie die Aufsicht des Staates über die internen Angelegenheiten einer Religionsgemeinschaft zur Folge gehabt hätte und dem nationalen Prinzip der rechtlichen Gleichbehandlung aller Staatsbürger widersprach. Verschiedene Versuche seitens islamischer Politiker, die „Jakarta Charta“ wieder in Kraft zu setzen, sind bisher misslungen.
Seitens der nationalen Gesetzgebung droht derzeit keine grundsätzliche Gefahr für die Religionsfreiheit in Indonesien. Der weitaus größte Teil der muslimischen Politiker steht hinter dem nationalen Programm der „Einheit der Nation“. Die „Nahdlatul Ulama“ (NU), mit rund 40 Millionen Anhängern die größte islamische soziale Organisation weltweit, tritt in ihrer Mehrheit für einen religionsneutralen Staat und eine plurale Gesellschaft ein. Auch die „modernistische“, eher städtisch orientierte „Muhammadiyah“, die zweitgrößte islamische soziale Organisation mitrund 25 Millionen Anhängern, hat sich vor allem unter ihrem derzeitigen Vorsitzenden Syafi’i Ma’arif seit Mitte der 1990er Jahre für Demokratie und Pluralismus eingesetzt. Im Jahr 2002 hat sie gemeinsam mit der NU und kleineren Gruppen Bemühungen um Aufnahme der „Jakarta Charta“ in die Verfassung eine deutliche Absage erteilt. Für eine solche Aufnahme traten vor allem die Vertreter islamischer Parteien, die über nicht mehr als rund 16 Prozent der Wählerstimmen verfügen, und einzelne Politiker aus anderen Parteien ein. Einige kleine islamistische Gruppen wie Laskar Jihad treten offensiv und unter Einsatz massiver Gewalt für eine Verdrängung des Christentums ein und verfügen über beträchtliche finanzielle und militärische Mittel. Sie erhalten ihre Unterstützung aber überwiegend aus dem Ausland und haben in Indonesien verhältnismäßig wenige, wenn auch gewaltbereite Anhänger.
Angriffe auf die Religionsfreiheit
Es gab jedoch, zunehmend in der Ära Mohamed Suharto (1966 – 1998), verschiedene Versuche, staatlich Einfluss auf das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften zu nehmen. Anlass dafür waren insbesondere solche religiösen Aktivitäten, die in andere Religionsgemeinschaften hineinwirken und deshalb die gesellschaftliche Harmonie stören konnten. Dies trifft insbesondere auf Mission und Da’wa, was Ruf / Einladung bedeutet, von Christentum und Islam zu. So legte Suharto, als er im Jahr 1967 die Religionen zur Unterstützung seiner Entwicklungspolitik zu gewinnen versuchte, den Christen nahe, auf ihre Mission zumindest unter Menschen, „die bereits einer Religion anhängen“, zu verzichten; damit waren vor allem die Muslime gemeint. Die Christen verweigerten einen formellen Verzicht auf die Mission, da die auch unter Christen betriebene Da’wa gar nicht angesprochen wurde und da die Christen den missionarischen Auftrag als interne religiöse Angelegenheit verstanden, in die der Staat kein Einspruchsrecht hat. Sie wurden für das Scheitern dieser ersten „interreligiösen Beratung“ verantwortlich gemacht. Einen weiteren Angriff auf die Freiheit der christlichen Mission unternahm im Jahr 1977 der damalige Religionsminister durch zwei Erlasse, in denen die Diakonie als Instrument des Proselytismus bezeichnet wurde. Außerdem sollte jegliche kirchliche Entwicklungshilfe über das Religionsministerium geleitet werden. Die islamische Da’wa wurde wiederum nicht angesprochen. Die christlichen Kirchen – Protestanten und Katholiken – lehnten auch diese Erlasse ab.
Christliche Kirchen sahen und sehen sich einer Reihe weiterer Schwierigkeiten gegenüber, so bei der Beantragung behördlicher Genehmigungen für den Bau von Kirchen. Hinderlich ist vor allem eine Verordnung, nach der jeder Bau einer religiösen Andachtsstätte der Zustimmung der umliegenden Anwohner bedarf. Christen leben fast überall als Minderheit. Dass sie die Zustimmung dennoch in vielen Fällen erhalten, beweist die Vielzahl der bestehenden Kirchengebäude. Es kommt aber auch zu Ablehnungen. Die Vielzahl der kirchlichen Denominationen führt zu einer Vielzahl von Anträgen. Für Nichtchristen ist nicht immer plausibel, warum wenige Meter neben einer Kirche eine andere Gruppe ihre eigene Kirche bauen muss. Seit einigen Jahren zeigt sich zudem eine zunehmende und manchmal aggressiv wirkende Prunksucht vor allem charismatischer Gemeinden beim Bau ihrer Tempel. Dieses Phänomen wirkt nicht nur provokativ, sondern ist auch theologisch bedenklich und stellt eine Anfrage an das soziale Verantwortungsgefühl dar.
Die gewaltsamen kommunalen Auseinandersetzungen während der letzten Jahre in Ambon, Nordmolukken, Aceh, West- und Zentralkalimantan, Papua sowie in Poso (Zentralsulawesi) haben weitere Schwierigkeiten für die Kirchen mit sich gebracht. In ihnen sind viele tausend Menschen getötet, hunderttausende in die Flucht getrieben und Hunderte Kirchen und etliche Moscheen zerstört worden, wobei die Gewalt vielfach entlang religiöser oder ethnischer Grenzen aufbrach. Dies ist ein sehr kompliziertes Problemfeld und lädt daher zur Bildung von Klischees ein, die die Dinge für Beobachter vereinfachen. Solange nicht offen und uneingeschränkt über die Verwicklung militärischer Sondereinheiten, die seit jeher in einem engen Solidaritätsverhältnis zum früheren Präsidenten Suharto standen, diskutiert werden kann, können alle Analysen nur Teilaspekten der Gesamtproblematik gelten. Generell ist festzustellen, dass Gruppen und Personen, die vom Suharto-Regime als potenziell kritisch eingestuft wurden, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit Ziel von Übergriffen wurden, die religiös verursacht schienen. Da über soziale, religiöse, rassische oder interkommunale Ausschreitungen öffentlich nicht diskutiert werden durfte, gab es keine zuverlässigen Untersuchungen über ihre tatsächlichen Hintergründe. Opfer waren zumeist Christen, Chinesen oder Anhänger der NU.
Bei der Suche nach den Ursachen religiöser Auseinandersetzungen müssen die Transmigrationsprogramme berücksichtigt werden, mit denen seit der Kolonialzeit Bewohner des dichtbesiedelten kolonialen Kerngebietes auf Java und Bali auf andere Inseln des heutigen Indonesiens umgesiedelt werden. Die Programme erhielten unter dem Motto des gemeinsamen Mutterlandes weithin Zustimmung, haben aber vielfach zu Spannungen zwischen Siedlern und der einheimischen Bevölkerung geführt. Sie gerieten in den Verdacht, zu politischer Machtumverteilung missbraucht worden zu sein, als sich in Gegenden mit christlicher Bevölkerungsmehrheit durch die Transmigranten der religiöse Bevölkerungsproporz veränderte und als zu Beginn der 1990er Jahre die sog. „proportionale Demokratie“ nach dem Religionsproporz eingeführt und die lokale Bevölkerung politisch, ökonomisch und rechtlich massiv marginalisiert wurde.
Regionale Autonomiebestrebungen – eine akute Gefahr für die Religionsfreiheit
Eine demgegenüber akutere Gefahr für die Religionsfreiheit in Indonesien droht derzeit durch Autonomiebestrebungen in den Regionen bzw. Provinzen. Diese Bestrebungen wurden bisher vor allem als Gegenbewegung zur Zentralisierungspolitik im ökonomischen Sektor wahrgenommen. Derzeit lässt sich in den meisten Provinzen jedoch auch ein starker Trend zur Wiederbelebung der einheimischen Kultur feststellen, in die Religion fest verwoben ist. Dies gilt insbesondere für einige ethnisch und religiös relativ homogene Gebiete wie das islamisch geprägte Aceh im nördlichen Zipfel Sumatras, Westjava, Südsulawesi oder das hinduistisch geprägte Bali. Da auf der nationalen Ebene die Einführung der islamischen Scharia nach wie vor blockiert wird, versuchen nun einige Regionalpolitiker unter dem Vorwand der Stärkung der kulturellen Identität wenigstens Teile der Scharia oder des Hindurechts in ihren Regionen durchzusetzen. So erhielt Aceh kürzlich den ersten Scharia-Gerichtshof. Die oft geäußerte Versicherung, dass Nichtmuslime von den Vorschriften der Scharia ausgenommen seien, ist reine Theorie. Wenn zum Beispiel Speisevorschriften in Lebensmittelläden und Gaststätten eingehalten werden müssen, betrifft das auch Nicht-Muslime. Gleiches gilt für das Personenstandsrecht. Religiöse Mischehen unter Bürgern Indonesiens waren bisher schon äußerst schwierig zu schließen; in Zukunft werden sie praktisch ausgeschlossen sein. Auf Bali werden in manchen Bandjar-Kommunen (traditionellen Wohngemeinschaften) alle Bewohner, auch die Nicht-Hindus, zu Abgaben für den Erhalt und die kultische Pflege der hinduistischen Ortstempel gezwungen. Manchen Nicht-Hindus bleibt da nur der Umzug in religiös gemischte Dörfer oder Stadtteile. Dadurch wird nicht nur die in der Verfassung garantierte freie Wohnungswahl beeinträchtigt. Auch der Religionsfreiheit droht ernster Schaden. Zudem werden von der Staatsführung möglicherweise ernstgemeinte Bemühungen um ein für alle Staatsbürger in gleicher Weise verbindliches, nationales Recht wirkungsvoll unterlaufen.
Prof. Dr. Olaf Schumann lehrt Religions- und Missionswissenschaft am Institut für Missions-, Ökumene- und Religionswissenschaften an der Universität Hamburg. Von 1970 – 1981 arbeitete er für den Rat der Kirchen in Indonesien in Jakarta. Von 1989 bis 1992 nahm er eine Gastprofessur an der Theologischen Hochschule Jakarta wahr.
Weiterführende Literatur:
- „Politik der Gewalt – Gewalt in der Politik: Indonesien“, Peter Kreuzer, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), HSFK-Report 4 / 2000 // Bezug: HSFK, Leimenrode 29, 60322 Frankfurt, Tel. (0 69) 95 91 04-0, Telefax (0 69) 55 84 81, EMail: kreuzer@hsfk-uni-frankfurt.de
- „Religion und politische Konflikte in Indonesien“, ems-Informationsbrief 5 / 2000 // Bezug: Evangelisches Missionswerk in Südwestdeutschland e. V., Vogelsangstr. 62, 70197 Stuttgart, Telefon (07 11) 6 36 78-71, Telefax (07 11) 6 36 78-55
- „Gewalt und Versöhnung. Herausforderungen an Indonesiens Kirchen“, ems- Informationsbrief 2 / 2001 // Bezug: s. o.
2.5 Christlich-Muslimische Beziehungen in Nigeria
(Frieder Ludwig)
Nigeria ist mit rund 130 Millionen Einwohnern mit Abstand der bevölkerungsreichste Staat Afrikas. Hier leben mehr Christen und mehr Muslime als in jedem anderen afrikanischen Land. Beide Religionen verzeichnen ein starkes Wachstum. Nach neuesten Schätzungen sind zwischen 40 und 45 % der Nigerianer Christen und zwischen 40 und 45 % Muslime. Zu Konflikten kam es in den letzten Jahren vor allem durch die Einführung des islamischen Rechts, der Scharia, in zwölf nördlichen Bundesstaaten. Diese Konflikte wurden auch deshalb von der internationalen Öffentlichkeit mit Aufmerksamkeit verfolgt, weil die lange Phase der Militärherrschaft im Jahr 1999 durch eine demokratisch gewählte Zivilregierung abgelöst worden war. Während die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in der Form neu sind, können sie ohne historische Voraussetzungen nicht verstanden werden, denn sowohl Muslime wie auch Christen begründen ihre derzeitige Position mit Verweisen auf eine Unterdrückung in der Vergangenheit.
Die Entwicklung von Christentum und Islam in Nigeria
Der Islam drang in Nigeria seit dem 11. Jahrhundert vom Norden her vor. In den folgenden Jahrhunderten wurde die herrschende Schicht des nordnigerianischen Haussa- Volkes muslimisch. Der größere Teil der Bevölkerung aber wurde erst mit dem „Heiligen Krieg“ (Jihad) des Usman dan Fodio zu Anfang des 19. Jahrhunderts islamisiert. Das von dan Fodio gegründete Kalifat mit der Hauptstadt Sokoto war das größte westafrikanische Reich des 19. Jahrhunderts. Auch außerhalb der Sokoto unterstehenden Emirate gewann der Islam an Einfluss. Als die britische Krone Nordnigeria unterwarf, verstärkte sich diese Tendenz, da der Einflussbereich der Emire unter der Anwendung des Prinzips der „indirekten Herrschaft“ ausgeweitet wurde. Zwar mussten die muslimischen Herrscher die britische Oberhoheit anerkennen, doch bestand das islamische Recht mit einzelnen Modifikationen fort. Nur bestimmte „anstößige Strafmaßnahmen“ wie Steinigung, Kreuzigung und Amputation wurden verboten.
Jihad
Mit Jihad bezeichnet der Koran das uneingeschränkte Bemühen um den Islam. Dazu gehören der Kampf gegen die eigenen Leidenschaften und der persönliche Einsatz von Leib und Gut für den Glauben. Krieg und Kampf werden mit anderen Worten bezeichnet. Trotzdem benutzen extremistische Kräfte seit längerem das Wort im Sinne von „Heiligem Krieg“. Dieser Ausdruck hat seine Wurzeln in alttestamentlichen Traditionen und wurde von den Kreuzfahrern im 11. Jahrhundert geprägt.
Quelle: EMW
Nach ersten (katholischen) Missionsbemühungen im 16. Jahrhundert kam es seit dem 19. Jahrhundert zu einer langfristigen Etablierung des Christentums. Anglikanische, methodistische und presbyterianische Missionare arbeiteten ab 1842 in Süd- Nigeria. Die anglikanische Niger-Mission war bis in die 1880er Jahre ausschließlich Afrikanern anvertraut und wurde von einem ehemaligen Sklaven, Samuel Ajayi Crowther, geleitet. Auch die ab 1865 einsetzende kontinuierliche katholische Missionsarbeit hatte in ehemaligen Sklaven aus Brasilien einen Rückhalt. Ab der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts wurden unabhängige afrikanische Kirchen zu einem wichtigen Faktor für die Ausbreitung des Christentums in Südnigeria. In den muslimischen Gebieten Nordnigerias war die Missionsarbeit während der britischen Herrschaft – von Ausnahmen abgesehen – zwar verboten, doch wurden andere neu „befriedete“ Gebiete nun der Mission zugänglich. So wurden 1904 und 1906 Missionsstationen im Plateau im mittleren Landesteil eröffnet. Dänische Lutheraner missionierten ab 1913 in Adamawa.
Konflikte zwischen Christen und Muslimen
Seit der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1960 kam es wiederholt zu Konflikten zwischen Christen und Muslimen. Der Biafra-Krieg (1967 – 70) hatte insofern eine religiöse Komponente, als die überwiegend christlichen Ibos im Südosten eine Dominanz des muslimischen Nordens befürchteten und sich in der unabhängigen Republik Biafra abspalten wollten. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde eine Politik der Aussöhnung verfolgt, doch führte die lange, von einer Unterbrechung von 1979 bis 1983 abgesehen bis 1999 andauernde Phase der meist aus dem Norden stammenden Militärherrscher zu neuen Konflikten: Einerseits grenzten sich radikalere muslimische Gruppierungen von dem durch die Öleinnahmen reich gewordenen Establishment ab, andererseits fühlten sich Christen in zentralen Fragen wie etwa dem Beitritt Nigerias zur „Organisation der Islamischen Konferenz“ übergangen. Sporadisch kam es zu Unruhen in den nordnigerianischen Städten wie etwa im Jahr 1991 in Kano – eine Reaktion auf eine geplante Massenveranstaltung des deutschen Predigers Reinhard Bonnke. Auch die Konflikte in Kaduna im Jahr 1987 und in Kafanchan im Jahr 1996 entstanden im Zusammenhang mit Evangelisationen.
Nach dem Übergang zu einer demokratisch gewählten Zivilregierung unter dem aus dem Südwesten stammenden Christen Olusegun Obasanjo im Mai 1999 verstärkten sich die Spannungen. Zunächst wurde in Zamfara und dann in elf weiteren Bundesstaaten die „ganze Scharia“ eingeführt, das heißt die Anwendung des islamischen Rechts in allen Bereichen (Zivil- und Strafrecht) und mit den traditionellen muslimischen Strafen. Während viele Kommentare der südnigerianischen Zeitungen das Vorgehen als Versuch betrachteten, die Zentralregierung mit ihrem christlichen Präsidenten zu schwächen, begründeten die demokratisch gewählten Gouverneure ihr Vorgehen mit dem „Wunsch des Volkes“, bzw. der muslimischen Bevölkerungsmehrheit in ihren Bundesstaaten, sich von der kolonialen bzw. westlichen Bevormundung zu befreien und dem Niedergang des Rechtssystems in Nigeria – der in einer hohen Kriminalitätsquote ebenso zum Ausdruck kommt wie in häufigen Willkürentscheidungen der Polizei – entgegenzuwirken. Auch unter nigerianischen Christen ist die Ansicht verbreitet, dass der Weg durch die Instanzen zu lang ist und dass man mit Kriminellen „kurzen Prozess“ machen soll.
Die nordnigerianischen Gouverneure sehen die Einführung des islamischen Rechtssystems nicht im Widerspruch zur Bundesverfassung und verweisen auf die Gestaltungsmöglichkeiten, die den einzelnen Bundesstaaten eingeräumt sind. In einzelnen Punkten, so führte der Gouverneur Zamfaras A. Sani im Jahr 2000 aus, habe man nachgegeben: So habe man etwa auf die Todesstrafe für Muslime verzichtet, die sich einem anderen Glauben zuwenden, da dies mit der in der Verfassung zugesicherten Religionsfreiheit kollidiere. Immer wieder wird betont, dass die Scharia nur für Muslime gelten solle, was de facto heißt, dass es ein zweigleisiges Rechtssystem mit Magistrats- und Scharia-Gerichtshöfen gibt. Die Einführung der Scharia sei deshalb, so argumentieren Muslime wie Gouverneur Sani weiter, nicht mit einer Politik der Islamisierung gleichzusetzen. In der Tat gibt es Versuche, Christen einzubinden. In Gombe etwa ist ein anglikanischer Bischof Mitglied des „Customary Courts Committee“, das gemeinsam mit dem „Scharia Committee“ von der Regierung eingesetzt wurde. In Bauchi finden sich Christen in den Führungspositionen des Justizministeriums. In Zamfara haben die Vertreter der Christian Association of Nigeria (CAN), einer im Jahr 1976 entstandenen Dachorganisation, in der protestantische, katholische und unabhängige afrikanische Kirchen zusammenarbeiten, offenen Zugang zum Gouverneur. In Sokoto erklärten führende Vertreter der CAN, dass auch Christen keine Probleme damit hätten, Ehebruch, Prostitution und übermäßigen Alkoholkonsum zu verbieten. In Katsina und Zamfara werden neben den muslimischen Pilgern nach Mekka auch christliche Jerusalem-Pilger unterstützt. Auch an neu gegründeten Universitäten wie der Staatlichen Islamischen Universität von Katsina werden christliche Studenten zugelassen.
Die Einführung der Scharia wirft jedoch für Christen schon deshalb Probleme auf, weil bei Streitfällen vor einem Scharia-Gericht die Aussagen muslimischer Zeugen höher gewichtet werden als diejenigen von Christen – und die Aussagen von Männern höher als diejenigen von Frauen. Zudem zeigt gerade die Neugründung islamischer Universitäten und islamischer Schulen, dass die Maßnahmen über eine Reform des Rechtssystems hinausgehen. Auch die Angelegenheiten, die das Geben von Almosen, Zakat, betreffen, werden nun in Zamfara, Jigawa, Niger und Yobe zentral geregelt, um die regelmäßige Zahlung und eine gerechte Verteilung zu gewährleisten. Viele Christen erkennen in diesen Vorgängen eine Tendenz, das Verhältnis zwischen Staat und Religion grundsätzlich neu zu ordnen. Sie befürchten, dass die öffentlichen Ressourcen vorwiegend Muslimen zugute kommen. Bestätigt wird dies durch die Erfahrung, dass es im allgemeinen sehr schwierig ist, Grundstücke für den Bau von neuen Kirchen zu erwerben.
Die fünf Säulen im Islam:
1. Die Bezeugung des Glaubens im Bekenntnis (Schahada)
2. Die Verrichtung des rituellen Gebets fünfmal täglich (Salat)
3. Die Selbstbesteuerung für die Armenhilfe (Zakat)
4. Die Übung in Selbstbeherrschung und Disziplin durch das Fasten (Saum)
5. Die Pilgerfahrt nach Mekka (Haddsch)
Quelle: „Was jeder vom Islam wissen muss“, Hrsg. velkd / EKD, 6. Aufl., Gütersloh 2001
Gleichzeitig ist die Einführung der Scharia mit der Durchsetzung islamischer Wertmaßstäbe im alltäglichen Leben verbunden, von der auch Christen betroffen sind. Die Geschlechtertrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln schränkt die Mobilität auch von Christinnen ein. Ebenso haben muslimische Kleidungsvorschriften Auswirkungen, wobei freilich Versuche, nicht-muslimische Mädchen zu zwingen, den hijab, Schleier, zu tragen, die Ausnahme sind und rückgängig gemacht wurden. In der ersten Phase hinderten die Hisbah-Gruppen, Milizen, die zur Durchsetzung der Scharia gegründet wurden, auch Christen daran, nach 21 Uhr auszugehen. Sprecher christlicher Organisationen wie der CAN und der Katholischen Bischofskonferenz von Nigeria wandten sich in öffentlichen Erklärungen gegen die Maßnahmen, und im März 2001 erwog die katholische Kirche rechtliche Schritte.
Gewaltsame Ausschreitungen und ihre Ursachen
Vor allem in den großen Städten in Nordnigeria, die wegen ihres starken Wachstums und der großen sozialen Probleme erhebliches Konfliktpotenzial bergen, verstärkten sich die Spannungen. Diese schlugen sich zuerst in Kaduna nieder. Ein Protestmarsch der Christen am 20. Februar 2000 führte dort zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Etwas später, im September 2001, brachen in Jos im zentralnigerianischen Bundesstaat Plateau Unruhen aus. Die Region hatte bislang als „Heimat des Friedens und des Tourismus“ für sich geworben. Zu weiteren Konflikten kam es im Zusammenhang mit der in Nigeria geplanten Wahl zur Miss World wiederum in Kaduna im November 2002. Bei den Zusammenstößen starben Berichten zufolge insgesamt über tausend Menschen, sowohl Christen als auch Muslime. Zahlreiche Kirchen und Moscheen wurden zerstört. Die Auseinandersetzungen verliefen freilich keineswegs immer entlang klar definierter „religiöser“ Linien. In ihnen äußerten sich auch soziale Spannungen und ethnische Konflikte zwischen den Volksgruppen der Haussas und den weitgehend christianisierten Kajes und Katafs, die von den Briten gegen ihren Willen in den islamischen Herrschaftsbereich eingegliedert worden waren. In Jos wurden aus dem Süden stammende Muslime sowohl von muslimischen Haussas als auch von Christen bedroht.
Andererseits solidarisierten sich Christen und Muslime in manchen Stadtteilen gegen Unruhestifter und Plünderer. Die CAN forderte Untersuchungen über die Rolle der Polizei während der Konflikte. Gleichzeitig intensivierten sich auch die Gespräche zwischen den Vertretern der Religionsgemeinschaften. So hat der katholische Erzbischof von Jos, Ignatius Ayan Kagama, alle Führer der Religionsgemeinschaften, Christen wie Muslime, zu gemeinsamen Veranstaltungen aufgefordert. In verschiedenen Stadtteilen wurden christlich-muslimische Gespräche initiiert.
Auch wenn sie damit keineswegs die Ausschreitungen rechtfertigen, erkennen viele Christen an, dass sich Muslime durch die Veranstaltung eines Schönheitswettbewerbs in einer nordnigerianischen Stadt während des Fastenmonats Ramadan verletzt fühlten. Bei einigen führenden christlichen Vertretern lässt sich eine Tendenz feststellen, die Einführung der Scharia unter der Bedingung zu akzeptieren, dass sie nur auf Muslime und nur unter bestimmten Voraussetzungen zur Anwendung kommt. Gegen Benachteiligungen und Menschenrechtsverletzungen, wie etwa gegen die Steinigung von „Ehebrecherinnen“, werden sie mit Recht weiter protestieren. Es ist zu hoffen, dass diese Differenzierungen, die auch auf muslimischer Seite wahrzunehmen sind, ein friedliches Zusammenleben der Religionsgemeinschaften ermöglichen.
Assoc. Prof. Dr. Dr. Frieder Ludwig studierte Theologie und Geschichte und unterrichtet Missionswissenschaft am Luther Seminar in St. Paul, USA. Er unterrichtete 1999 / 2000 an der Universität Jos (Nigeria) und ist zur Zeit an einem internationalen Forschungsprojekt zum Thema „The sharia debate and the Shaping of Muslim and Christian Identities in Northern Nigeria“ beteiligt.
2.6. Demokratie oder Theokratie? Pakistan am Scheideweg
(Clement John)
Pakistan errang seine Unabhängigkeit im Jahr 1947. Bei der Teilung des Subkontinents in die Staaten Indien und Pakistan versprach der Gründer der islamischen Unabhängigkeitsbewegung Ali Jinnah, ein liberaler Jurist, dass Pakistan ein demokratischer Staat sein werde, in dem Menschen verschiedener Religionen Freiheit der Religionsausübung und gleiche Rechte genießen sollten. Daneben gab es islamische Parteien, die einen theokratischen Staat anstrebten, der nach islamischen Grundsätzen zu gestalten sei.
In den grundlegenden Interpretationsunterschieden der verschiedenen islamischen Parteien in Bezug auf Natur und Charakter des Staates und darauf, inwieweit islamische Prinzipien auf das zivile und politische Leben angewandt werden sollen, liegt die Wurzel von Pakistans Problem. Die Grundfrage, ob Pakistan ein moderner demokratischer Staat oder ein theokratischer Staat sein solle, hat niemals eine eindeutige Antwort gefunden. Infolgedessen haben militärische und politische Führer seit der Unabhängigkeit den Islam als Manipulationsinstrument zum Zweck persönlicher Macht und politischer Vorteile benutzt. Dabei wurden die Rechte religiöser Minderheiten verschiedentlich beeinträchtigt.
Der erste Fall religiöser Manipulation und Gewalt erschütterte das Land im Jahr 1954. Er richtete sich gegen die Minorität der Ahmadiya Gemeinschaft, eine Gruppierung mit islamischer Tradition, die aber die Offenbarung durch den Propheten Mohammed nicht als abschließend anerkennt. Hunderte von Ahmadiyas wurden in Massakern umgebracht, ihre gottesdienstlichen Räume geplündert. Der Bericht der staatlichen Untersuchungskommission, die eingesetzt worden war, um „die Ursachen der Ahmadiya-Unruhen“ aufzuklären, hält fest, dass die islamischen Gelehrten bei der Definition einer „muslimischen Person“ keine Übereinstimmung finden konnten – ein Ergebnis, das die Kommission im Hinblick auf kompliziertere Fragen als bedenklich einstufte.
Missbrauch religiöser Symbole und Ausdrucksformen
Im Jahr 1976 machte der damalige Premierminister Zulfikar Ali Bhutto, ein liberaler Demokrat, den Freitag anstatt des Sonntags zum wöchentlichen Feiertag und verbot Alkohol, Pferderennen und Glücksspiele. Ihren Höhepunkt erreichte die Manipulation von Religion und religiösen Symbolen unter der Herrschaft von General Zia ul-Haq, der das Land von 1977 bis 1988 regierte. Zia führte verschiedene Änderungen in der Rechtsordnung ein: Bei der gerichtlichen Beweiserhebung hat die Aussage einer Frau oder eines Nicht-Muslimen nur halb soviel Gewicht wie die eines Mannes; eingeführt wurden parallele Scharia-Gerichte, die Steinigung bei Ehebruch, die Todesstrafe bei Gotteslästerung, die öffentliche Auspeitschung und separate Wahlkreise für religiöse Minderheiten.
Das System der separaten Wahlkreise beruht auf der islamischen Vorstellung, dass in einem islamischen Staat alle Nicht-Muslime Bürger zweiter Klasse, dhimmis, sind. Nach diesem System kann ein Nicht-Muslim keine wichtige Position in der Regierung, in der Armee oder in den höchsten Gerichten innehaben. Bei allgemeinen Wahlen kann ein Nicht-Muslim nur für nicht-muslimische Kandidaten auf einer besonderen Liste für dafür reservierte Parlamentssitze stimmen. Dieses System hält die religiösen Minderheiten von einer Beteiligung am nationalen und politischen Leben effektiv fern. Die Minoritäten haben es Präsident Pervaiz Musharraf zu danken, dass die getrennten Wahllisten im Jahr 2001 abgeschafft und das gleiche Wahlrecht wieder hergestellt wurde.
Durch einen Putsch im Oktober 1999 hatte General Musharraf die gewählte Regierung unter Premier Nawaz Sharif gewaltsam abgelöst und damit eine für Minderheiten weit reichende Gesetzesvorlage verhindert – auch wenn dies nicht Grund des Staatsstreiches war. Dieser zufolge sollten Koran und Sunnah zur Verfassungsgrundlage erklärt, ein Gremium von „frommen Muslimen“ zur Interpretation der islamischen Tradition benannt, das Parlament abgeschafft und ein islamisches Parlament – die Schura, die aus „frommen Muslimen“ besteht – einberufen werden. Öffentliche Ämter sollten allein „frommen Muslimen“ vorbehalten werden, Minoritäten nur die Praktizierung ihrer Religion, ihres Familienrechts, ihrer Sitten und Gebräuche gestattet sein. Das Wahlrecht und andere Grundrechte sollten Nicht- Muslimen genommen, im Strafrecht islamische Bestrafungen wie Auspeitschung, Amputation von Gliedmaßen und öffentliche Hinrichtung eingeführt werden.
Auch wenn es beim Vorhaben blieb – unter den religiösen Minoritäten wurde eine tiefe Verunsicherung ausgelöst. Da auch die jetzige Regierung unfähig ist, Klarheit über die Grundlagen des Staatswesens zu schaffen, bleibt der politische und rechtliche Status der Minoritäten ungewiss. Sie leben in einer Situation der Unsicherheit und Perspektivlosigkeit.
Zunehmende Intoleranz – vermehrte Anschläge
Diskriminierung in Theorie und Praxis nimmt zu, besonders auf dem Land, seit General Zia begann, die „Herrschaft des Propheten“, Nizam-eMustafa, zu propagieren. Die Vorbeter, Imame, der örtlichen Moscheen fördern Hass und Gewalt gegen Christen, indem sie sie Kollaborateure des Westens nennen und so zum Klima der Intoleranz beitragen. Die Diskriminierung gegen Christen steht in einem direkten Verhältnis mit der seit den 1970er Jahren zunehmenden Behauptung einer islamischen Identität der pakistanischen Gesellschaft, die seitdem immer intoleranter gegenüber anderen Religionen wird.
Nach der amtlichen Volkszählung im Jahr 1999 stellen Christen mit ungefähr 2,5 Prozent die größte religiöse Minderheit in Pakistan; 51 Prozent von ihnen gehören zur Römisch-Katholischen Kirche. Die große Mehrheit sind Nachkommen von Angehörigen unterdrückter Hindu-Kasten, die zwischen 1880 und 1930 Christen wurden. Zwar gab es Christen bereits seit dem Jahre 525 n. Chr. auf dem indischen Subkontinent, doch erst die Missionsbewegung im 19. Jahrhundert führte zu einer systematischen Verbreitung des Christentums in Nordindien. Von historischer Bedeutung ist das Engagement von Christen und Kirchen im Erziehungs- und Bildungswesen, in der Gesundheitspflege und in der Sozialarbeit. Damit sind beachtliche Leistungen für die ganze Gesellschaft erbracht worden. Gleichwohl kam es infolge des Afghanistan-Krieges unter Führung Amerikas zu einer ganzen Serie von Anschlägen auf christliche Einrichtungen, darunter mehrere Kirchen, ein Krankenhaus, eine Schule und die christliche Friedens- und Menschenrechtsorganisation Idara Aman-oInsaf, die eine langjährige Partnerschaft mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) und Misereor verbindet. Viele Tote und Verletzte waren zu beklagen.
Das wachsende Klima von Hass und Intoleranz hat eine tiefe Wirkung auf das Leben, vor allem der armen Christen auf dem Land. Ausbeutung und Unterdrückung, Armut und fehlende Bildung haben den Menschen Resignation eingeträufelt. Sie nehmen ihr Leiden und ihren Schmerz als Schicksal hin und überleben in einer Kultur des Schweigens. Die Situation von Hindus ist um nichts besser. Die meisten Mitglieder der Hindu-Gemeinschaft leben in den ländlichen Regionen der Provinz Sindh und gehören zu den untersten Kasten. Sie sind zumeist Analphabeten, landlose Kleinbauern oder verrichten die niedrigsten Arbeiten. Es gibt zunehmend Berichte über die Entführung von Mädchen aus christlichen oder hinduistischen Familien, die zum Übertritt zum Islam gezwungen werden. Der andere Faktor, unter dem die Hindus leiden, ist die allgemeine Feindschaft gegen Indien, das als Hauptfeind Pakistans gilt. Darum wird ihre Loyalität grundsätzlich bezweifelt.
Seit der Staatsgründung gibt es aber auch große Spannungen zwischen den beiden Hauptströmungen des Islam. Die pakistanische Gesellschaft besteht vorwiegend aus Sunniten. Schiiten machen ungefähr 35 Prozent der Bevölkerung aus. Beide Richtungen haben ihre militanten Zweige und seit in der Amtszeit von General Zia sunnitische Ordnungen Gesetz wurden, eskalierten die Spannungen. Es kam zu zahlreichen Todesopfern, aber bei den Schiiten war die Zahl der Opfer höher. Allein in den ersten Wochen des Jahres 2003 wurden zwölf Schiiten bei ihrem Gebet an heiliger Stätte erschossen.
Unter einer Decke – Militär und islamische Militanz
Rechtsordnung und Rechtsprechung sind – nach wiederholten Eingriffen des Militärs in die Verfassung und die Gesetze – in chaotischem Zustand. Für einen normalen Bürger ist es zunehmend schwierig geworden, bei den Gerichten Hilfe zu finden. Während die unteren Gerichte korrupt und unfähig sind, haben die Obergerichte viel von ihrer Unabhängigkeit an die Exekutive verloren. Straflosigkeit durchsetzt die pakistanische Gesellschaft. Der Gotteslästerungs-Paragraph wird vielfach zu Zwecken persönlicher Rache missbraucht. Die Gerichte sind kaum in der Lage, unvoreingenommene Verfahren durchzuführen, weil die Richter eingeschüchtert werden und Angst vor islamischen Gruppen haben. In einigen Fällen, in denen die Angeklagten für unschuldig befunden und freigesprochen wurden, mussten sie wegen Lebensgefahr das Land verlassen. Auch die Regierung steht unter dem Druck von islamischen Gruppen und ändert die Verfahrensregeln beim Gotteslästerungs- Paragraphen nicht. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die Regierung überhaupt noch in der Lage ist, die Gewalt durch religiöse und sektiererische Gruppen zu verhindern.
Seit der Herrschaft General Zia ul-Haq’s hat das militärische Establishment ein breites Spektrum von militanten islamischen Gruppen ermutigt und gefördert mit dem Ziel, den „heiligen Krieg“ in Afghanistan und Kaschmir zu unterstützen und Einfluss in den zentralasiatischen Republiken zu erringen. Im Hinblick auf Afghanistan geschah dies mit Unterstützung der USA, im Hinblick auf Kaschmir auch Saudi- Arabiens. Die Ereignisse des 11. September 2001 führten zu einer Kehrtwende der pakistanischen Politik. Obwohl aber die Entwaffnung militanter Gruppen nur halbherzig durchgeführt wurde, gehört die daraus resultierende Wut zum Hintergrund mancher gewaltsamer Anschläge auf Ausländer und einheimische Christen. Die Islamisten wollen den Krieg in Afghanistan und im Irak als einen „Kampf der Kulturen“ darstellen. Für sie führt der christliche Westen Krieg gegen den Islam. Selbst gemäßigte Muslime beklagen den doppelten Maßstab des Westens in internationalen Beziehungen und weisen darauf hin, dass Israels Missachtung von Resolutionen der Vereinten Nationen unbeachtet bleibt. Diese Entwicklungen haben den Einfluss gemäßigter Kreise in der islamischen Welt geschwächt und führen zu Angst und Sorgen bei den religiösen Minderheiten.
Pakistan steht heute in einer historischen Entscheidungsstunde. Das Volk muss ein für allemal entscheiden, ob es in einem modernen demokratischen Staat oder in einem islamischen theokratischen Staat leben will. Das militärische Establishment muss sich der Verantwortung stellen und die Wiederherstellung der Demokratie erlauben, die auf den Werten der Toleranz und des Pluralismus beruht.
Clement John ist Referent für internationale Beziehungen beim Ökumenischen Rat der Kirchen.
[Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Warner Conring.]
Weiterführende Literatur:
- „Länderheft Pakistan“, Evangelisches Missionswerk in Deutschland (EMW), Breklum 2002 // Bezug: EMW, Normannenweg 17 – 21, 20537 Hamburg, Telefon (0 40) 2 54 56-1 48, Telefax (0 40) 2 54 56-4 48, EMail: service@emw-d.de
- „State of Human Rights 2002 – Annual Report of Human Rights Commission in Pakistan (HRCP) 2002“ // Bezug: HRCP, Aiwan-iJahmoor, 107-Tipu Block, New Garden Town, Lahore-54600, Pakistan, Telefax (00 92) (0) (42) 5 88 35 82, EMail: info@hrcp-web.org, Internet: www.hrcp-web.org/hpublications.htm
2.7 Religionsfreiheit in Russland?
(Gerd Stricker)
Staatlich gesteuerte Religionsverfolgung, wie sie für die im Jahr 1991 untergegangene Sowjetunion charakteristisch war, gibt es im heutigen Russland bzw. der „Russischen Föderation“ nicht mehr. Bereits unter dem früheren Präsidenten Michail Gorbatschow war 1990 ein Religionsgesetz erlassen worden, das westlichen Vorstellungen von Religionsfreiheit weitgehend entsprach. Es beendete die staatliche Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten, die die Religionsgemeinschaften praktisch zu Gefangenen des Sowjetregimes gemacht hatte, und versprach die Gleichberechtigung aller Glaubensrichtungen. Zunächst herrschte Skepsis, ob die Bestimmungen des Gesetzes je umgesetzt würden. Aber in der sich auflösenden Sowjetunion und dann noch viel stärker in der Russischen Föderation setzten sich zumindest seine zentralen Bestimmungen durch: Die Behörden begannen allmählich, Religionsgemeinschaften als eigenständige Größen zu betrachten.
Eine Religionsstatistik für die Russische Föderation zu erstellen, ist unmöglich. Unter ihren rund 150 Millionen Einwohnern ist die Russische Orthodoxe Kirche jedoch eindeutig die stärkste Glaubensgemeinschaft. Das Moskauer Patriarchat beziffert die Anzahl ihrer Mitglieder auf 70 bis 110 Millionen, gefolgt vom Islam mit 15 Millionen (davon vielleicht zehn Millionen praktizierende) Muslime. Juden und Buddhisten dürften sich jeweils an der Millionengrenze bewegen; wie viele von ihnen den Glauben praktizieren, ist nicht festzustellen. Die orthodoxen Altgläubigen (Priestertreue und Priesterlose) zählen sicher einige Millionen. Auf Katholiken und Lutheraner, die Evangelisch-lutherische Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS), die Evangelisch-lutherische Kirche Ingriens und andere Gruppierungen, dürfte jeweils eine halbe Million Gläubige entfallen. Problematisch ist die Einschätzung der Freikirchen. Gab es schon in Sowjetzeiten die Teilung in „registrierte“ (staatlich zugelassene) und „nichtregistrierte“ (staatlich nicht zugelassene) Evangeliumschristen-Baptisten, Adventisten und Pfingstchristen, so ist die Zersplitterung nach der „Wende“ weiter fortgeschritten. Konkurrierende, zum Teil einander befehdende Gruppen beherrschen das Bild. Pfingstler, unter denen charismatische Gruppen eine große Rolle spielen, gelten als die am stärksten wachsende christliche Denomination. Methodisten, Reformierte, Heilsarmee, aber auch Zeugen Jehovas, Hare Krischna und andere stellen mikroskopische Größen dar.
Gegen eine Gleichbehandlung aller Religionen
Die junge Russische Föderation begann allmählich alle Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln (in manchen Gegenden gleich gut, in anderen gleich schlecht). Bald wurde deutlich, dass ausländische, zum Beispiel aus den USA oder aus Südkorea stammende Gruppierungen aus dem evangelikalen Bereich, aber auch sektiererische Gruppen sowie die Scientologen, die Moon-Sekte, neuchristliche und auch neuheidnische Gruppierungen mit teilweise aggressiven Methoden und viel Geld Evangelisation und Missionierung betrieben. Dies wurde auf Seiten der Russischen Orthodoxen Kirche, die gezwungen war, trotz geringer finanzieller Mittel eine Infrastruktur wieder aufzubauen und Priesternachwuchs auszubilden, als Bedrohung ihrer Existenz empfunden. Sie besann sich darauf, dass sie einst Volks- und Staatskirche gewesen war und die Geschichte und Kultur des russischen Volkes entscheidend geprägt hatte. Daraufhin versuchten verschiedene Gruppen im Parlament, Gesetzesinitiativen einzubringen, die dem Moskauer Patriarchat eine Vorrangstellung gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften verschaffen sollten.
Die Russische Orthodoxe Kirche beruft sich nicht zuletzt auf ihre Mitgliederstärke. Anfang der 1990er Jahre hatte ein „religiöser Boom“ viele Millionen Menschen der Orthodoxie zugeführt. Täglich tauften Priester, die kaum theologisch ausgebildet waren, meist ohne vorbereitende Katechese hunderte von Russen. Von denen, die sich heute orthodox nennen, sind nach übereinstimmenden demoskopischen Untersuchungen lediglich drei Prozent „praktizierende Christen“ in dem Sinne, dass sie mindestens einmal im Monat an der sonntäglichen Liturgie teilnehmen. Für die meisten von ihnen sind kulturelle, historische und nationale – weniger aber religiöse – Gesichtspunkte für ihre Zugehörigkeit zur Kirche maßgeblich. Auf jeden Fall ist die Russische Orthodoxe Kirche heute ein quantitativer Faktor, mit dem jeder Politiker im Lande rechnen muss. Die Orthodoxie ist mittlerweile der Kern einer nationalrussischen Staatsideologie und viele neu entstehende nationalistische Gruppen und Parteien geben sich ebenfalls orthodox.
Das Religionsgesetz von 1997
Das so gestärkte Moskauer Patriarchat bemühte sich um eine Neufassung des Religionsrechtes. Nach verschiedenen Fehlversuchen hatte es im Jahr 1997 Erfolg. Der damalige Präsident Boris Jelzin unterzeichnete ein neues Religionsgesetz, das der Russischen Orthodoxen Kirche in der Präambel eine führende Rolle zubilligt: „Die Föderationsversammlung (…) erkennt den besonderen Beitrag der Orthodoxie in der Geschichte Russlands, beim Entstehen und bei der Entfaltung seiner Kultur und Geisteswelt an.“ Schon der Gesetzesentwurf hatte weltweit Proteste hervorgerufen.
Das Gesetz von 1997 schränkt die Entfaltungsmöglichkeiten der nicht-orthodoxen Religionsgemeinschaften ein. Neue religiöse Gruppen und Gemeinden können die Rechte einer juristischen Person erst 15 Jahre nach ihrer Etablierung in Russland und durch „Registrierung“ nach umständlichen Überprüfungsverfahren erhalten. Überregionalen bzw. gesamtrussischen religiösen Zusammenschlüssen wie Kirchen, Gemeindeverbänden usw. wird der Status einer juristischen Person nur dann zugestanden, wenn sie nachweisen können, dass ihre Organisationen mehr als 50 Jahre auf russischem Boden existent sind – wie etwa das Moskauer Patriarchat, die muslimischen, jüdischen und buddhistischen Gemeinschaften, die lutherische und die römisch-katholische Kirche oder die Union der Baptisten.
Das neue Religionsgesetz verordnet aber auch die Neuregistrierung aller längst anerkannten religiösen Institutionen wie Gemeinden, Kirchenleitungen, theologischen Anstalten, Klöster usw. Das Registrierungsverfahren ist kompliziert und aufwändig. Gummiparagraphen und Lücken im Gesetzestext öffnen der Behördenwillkür Tür und Tor. Sicherlich gab es Fälle, in denen auch orthodoxe Institutionen von noch immer sowjetisch gesinnten Beamten barsch behandelt wurden. Meistens jedoch traf die Willkür nicht-orthodoxe Gemeinden und Gruppen, deren Anträge wegen „Formfehlern“ oder des Fehlens von Dokumenten, wie zum Beispiel von Urkunden über die Gründung der römisch-katholischen oder auch der lutherischen Kirche, zurückgewiesen wurden. Neue orthodoxe oder auch griechisch-katholische Gruppierungen, die – etwa durch das Auslösen von Abspaltungen – eine Konkurrenz für das Patriarchat darstellen könnten, haben kaum eine Chance, eine angemessene Rechtsstellung zu erhalten. Aus alledem ergibt sich die heute sehr komplizierte Lebenssituation der einzelnen Religionsgemeinschaften, die sich darüber hinaus in jedem Verwaltungsgebiet unterschiedlich darstellt – bis hin zu regionalen Religionsgesetzen, die diejenigen der Föderation zum Teil an Schärfe übertreffen.
Das Argument des „Kanonischen Territoriums“
Zur Begründung der zivilrechtlichen Benachteiligung der nicht-orthodoxen Religionsgemeinschaften führt die Russische Orthodoxe Kirche das theologische Argument an, die gesamte frühere Sowjetunion sei das „Kanonische Territorium“ der Russischen Orthodoxen Kirche – mit Ausnahme Georgiens mit seiner orthodoxen Nationalkirche, jedoch unter Einschluss des nord-ostpreußischen Gebiets Königsberg / Kaliningrad. Damit bezieht sie sich auf ein altkirchliches Prinzip, nach dem an einem Ort nur ein Bischof sein sollte.
Auf dem „Kanonischen Territorium“ wird jede Mission durch Nicht-Orthodoxe, auch die an Ungläubigen, als Abwerbung von der Orthodoxie („Proselytismus“) verstanden. Nach der Erhebung der vier Apostolischen Administraturen in Russland (Moskau, Saratow, Nowosibirsk, Irkutsk) zu vollwertigen römisch-katholischen Diözesen hat sich das Verhältnis zwischen Russischer Kirche und Vatikan abgekühlt. Staatliche Behörden haben den römisch-katholischen Bischof von Irkutsk, Jerzy Mazur (einen polnischen Staatsangehörigen), und fünf weitere Geistliche, die nicht Bürger der Russischen Föderation sind, ausgewiesen.
Andere Kirchen, denen ebenso der Vorwurf des Proselytismus gemacht werden könnte, werden besser behandelt. Dies gilt zum Beispiel für die Evangelisch-lutherische Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS). Aufgrund interkonfessioneller Eheschließungen sind in ihren Gemeinden neben Deutschstämmigen auch Russen Mitglieder. Dennoch ist die ELKRAS nicht annähernd solchen Anfeindungen ausgesetzt wie die römisch-katholische Kirche. Dafür gibt es sicher verschiedene Gründe. Einer mag darin liegen, dass die ELKRAS noch wenig konsolidiert und von der Mitgliederzahl relativ klein ist. Andererseits verbindet sich eine lange und anerkannte Geschichte mit den „deutschen Lutheranern“ in Russland. Die ELKRAS sieht sich dieser Geschichte verpflichtet und bemüht sich um große ökumenische Nähe zur Orthodoxie.
Auch der Russischen Orthodoxen Kirche sind Grenzen gesetzt. Zwar zeigt sich Präsident Putin in der Öffentlichkeit demonstrativ als praktizierender Orthodoxer, trotzdem kann er das Moskauer Patriarchat nicht zur Staatskirche erheben. Den Muslimen zuliebe propagiert er zudem die „Eurasismus“Idee, welche die europäischen und asiatischen sowie die orthodoxen und islamischen Wurzeln Russlands gleichermaßen betont.
Gerd Stricker ist stellvertretender Chefredakteur der in Zürich erscheinenden Zeitschrift „G2W – Glaube in der 2. Welt. Forum für Religion und Gesellschaft in Ost und West“ (www.kirchen.ch/g2w/).
Weiterführende Literatur:
- „Die Russische Orthodoxe Kirche: Segen für die ‚neuen Zaren‘? – Religion und Politik im postsowjetischen Russland (1991 – 2000)“, Kathrin Behrens, Schöningh, Paderborn 2002
- „Die Zeit des Enthusiasmus ist vorbei – Fragen zum Verständnis des Begriffes ‚orthodox‘ in Russland“, Andrej Danilov in: Glaube in der 2. Welt (G2W) 5 / 1997 // Bezug: G2W, Birmensdorferstr. 52, CH-8004 Zürich, Telefon 00 41 (0)43 32 2 22 44, Telefax 00 41 (0)43 32 22 40, E-Mail: g2w.sui@bluewin.ch, www.kirchen.ch/g2w/
- „Die Zusammenarbeit trägt gute Früchte – Staat und Russische Orthodoxe Kirche unter Jelzin und Putin“, Gerd Stricker in: Osteuropa – Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 11 / 2002, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde // Bezug: Verlegerdienst München, Dennis Haarmann, Postfach 12 80, 82197 Gilching, Telefon (0 81 05) 3 88-2 12, Telefax (0 81 05) 3 88-1 80
2.8 Zerrissen zwischen Politik und Religion – Das Beispiel Sudan
(Marina Peter)
Der Islam ist quasi Staatsreligion im Sudan, auch wenn die Verfassung von 1998 die freie Religionsausübung garantiert. Der Sudan hat seit vielen Jahren eine islamistische Regierung, die jedoch nicht demokratisch legitimiert ist. Die Scharia, das islamische Rechtssystem, das im Jahr 1983 im Sudan offiziell eingeführt wurde, bestimmt das gesamte öffentliche Leben. Daran entzündet sich ein vielfältiges Konfliktpotenzial.
Christlicher Süden, muslimischer Norden?
Im Bewusstsein der Meisten zerfällt das Land in einen christlichen Süden und einen muslimischen Norden. Diese Wahrnehmung ist allerdings nicht korrekt. Es gibt sowohl eine nicht unerhebliche Anzahl von Christen im Norden des Landes – und das nicht nur als Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Süden – wie es auch Muslime im Süden gibt. In beiden Landesteilen haben darüber hinaus viele Angehörige von traditionellen Religionen bisher allen Missionierungsversuchen von beiden Seiten standgehalten bzw. pflegen ihren alten Glauben nach einem – oft erzwungenen oder aus Opportunitätsgründen erfolgten – Übertritt im Privaten weiter. Ihr Anteil wird auf immerhin ein Viertel der Gesamtbevölkerung geschätzt.
Der Bürgerkrieg im Sudan, der – nur von 1972 bis 1983 unterbrochen – bereits seit fast 50 Jahren erbittert geführt wird, wird meistens als ein Religionskrieg zwischen dem christlichen Süden und dem islamischen Norden bezeichnet. Aber diese einfache Beschreibung trifft nicht den Kern der Konflikte, die ganz wesentlich auf ungleiche Entwicklung, ungerechte Verteilung von Macht und Ressourcen sowie Rassismus zurückzuführen sind. Für die Menschen allerdings, die Verfolgung, Versklavung, Folter, Bombardierungen, Vertreibungen und Hungertod ausgesetzt sind, macht es kaum einen Unterschied, ob dies nun aus religiösen, rassistischen, wirtschaftlichen oder politischen Gründen geschieht – Opfer sind sie allemal. Oft fällt es ihnen schwer, genauer zu analysieren, ob sie als Christen oder wegen ihrer ethnischen oder politischen Zugehörigkeit verfolgt werden. Für Außenstehende ist die gesamte Situation so vielschichtig und unübersichtlich, dass auch sie die eigentlich recht einfache Frage, ob es im Sudan eine Christenverfolgung gibt, manchmal nicht eindeutig beantworten.
Die religiöse Vielfalt im Sudan ist historisch und geografisch begründet. Die ersten Spuren christlicher Missionierung im Nordsudan lassen sich bis in das 6. Jahrhundert zurückverfolgen. Erst mit dem endgültigen Zerfall der christlichen Reiche des Volkes der Nubier Anfang des 16. Jahrhunderts fand das Christentum im Nordsudan fast vollständig sein Ende. Der Islam etablierte sich zunächst in den Küstengebieten und stellenweise bei den Völkern der Wüste im Landesinneren. Nur vereinzelt wurde er durch Händler, Krieger und Wanderprediger in die anderen Landesteile gebracht, wobei er häufig eine Vermischung mit bereits existierenden Religionen erfuhr. Mit den im 16. Jahrhundert beginnenden Eroberungen durch die Türken im Nordsudan setzte sich eine eindeutig islamische Herrschaftsordnung durch. Im Jahr 1822 wurde der gesamte Nordsudan Teil des ägyptisch-türkischen Reiches. Der Süden blieb weiterhin schwer zugänglich und fast unberührt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde britischer Einfluss bestimmend. Im Jahr 1956 wurde der Sudan unabhängig.
Der Islam im Sudan gehört zur sunnitischen Schule, er fächert sich heute in zahlreiche unterschiedliche Strömungen auf. Darunter gibt es sehr moderate, dialogbereite Gruppierungen wie die Republikanischen Brüder, deren Führer bei Einführung der Scharia im Jahr 1983 hingerichtet wurde. Die religiösen Bewegungen Kaddmiya und Maddiya und ihre entsprechenden Parteien, die Demokratische Unionistische Partei (DUP) und die Nationale Umma Partei, stellten über viele Jahre Regierungen auf nationaler Ebene und Gouverneure in den Regionen. Die Nationale Islamische Front mit ihrer streng fundamentalistischen Ausrichtung wurde erst Ende der 1970er Jahre zu einer starken politisch-religiösen Kraft im Land, sie stützt sich auf die Muslimbruderschaft.
Die verschiedenen islamischen Ausprägungen entwickelten sich häufig entlang ethnischer Gruppierungen, was auch für das Christentum gilt. Die Zahl der Muslime wird derzeit mit über 50 Prozent an der Gesamtbevölkerung angegeben, im Nordsudan sollen es mindestens 70 Prozent sein. Nur ein sehr geringer Teil davon ist den radikalen islamistischen Strömungen zuzurechnen, die die derzeitige Regierung stützen. Exakte Angaben über den Anteil von Christen an der Gesamtbevölkerung gibt es nicht, wahrscheinlich sind es im Durchschnitt 14 Prozent bei großen regionalen Unterschieden. Derzeit verzeichnen die Kirchen in den von der Regierung nicht kontrollierten Gebieten im Süden ein sehr starkes Wachstum, während viele der aus dem Südsudan stammenden Christen, die als interne Flüchtlinge im Norden leben, mit Islamisierungsversuchen konfrontiert sind.
Die römisch-katholische Kirche ist die größte im Sudan mit Diözesen im ganzen Land, gefolgt von der anglikanischen Kirche (Episcopal Church) mit ihren Ursprüngen in West-Equatoria. Die Presbyterianer (Presbytarian Church) sind überwiegend im Volk der Nuer am oberen Nil zu finden. Traditionell im Norden beheimatet sind die Kopten, deren Mitglieder überwiegend Sudanesen ägyptischer Herkunft sind, wie auch die Mitglieder der Evangelical Church. Bis zum Jahr 1989 gab es im Norden relativ starke Missionsbestrebungen pfingstlerischer Gruppierungen aus Amerika, die jetzt zunehmend versuchen, im Süden Einfluss zu gewinnen.
Die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen
Durch die derzeitige Islamisierungswelle und den anhaltenden Bürgerkrieg sind die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen stark angespannt. Die Christen fühlen sich ausnahmslos verfolgt und unterscheiden jetzt kaum noch zwischen staatlichen Repressionsmaßnahmen und traditionell gemäßigteren muslimischen Gruppen. Es wird seitens der Kirchen immer wieder betont, bis Anfang der 1980er Jahre habe man trotz gewisser staatlicher Repressalien privat weitgehend problemlos zusammengelebt und die jeweiligen Feste in gutnachbarschaftlichem Einvernehmen gemeinsam gefeiert. Dies habe sich erst mit der Einführung der Scharia geändert.
Fast alle politischen Kräfte sind bei genauerer Betrachtung komplex zusammengesetzt. In der Führung der Befreiungsbewegungen des Südens sind auch Muslime vertreten. In der größten oppositionellen Sammlungsbewegung, der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA), sind Christen auch mit islamisch religiös definierten traditionellen Parteien verbunden. Eine der Hauptforderungen der NDA besteht in einer
säkularen Staatsverfassung.
Unter Druck: die Kirchen
Die heutige Situation der christlichen Kirchen ist stark vom Bürgerkrieg gezeichnet. Viele kirchliche Mitarbeiter, Bischöfe, Priester, Pastoren und Katecheten gingen ins Exil oder wurden vertrieben. Die Kirchen haben in dieser bedrängten Lage eine enge Zusammenarbeit gesucht. Die Mehrzahl der christlichen Kirchen im Sudan, einschließlich der römisch-katholischen, arbeitet seit dem Jahr 1967 in einem Kirchenrat zusammen, dem Sudan Council of Churches (SCC). Seit dem Jahr 1989 existiert auch ein Zusammenschluss der Kirchen für die gemeinsame Arbeit in den südlichen nicht-regierungskontrollierten Gebieten, der New Sudan Council of Churches (NSCC).
Die Arbeit der Kirchen war bis zum Jahr 1994 stark eingeschränkt durch ein seit 1962 bestehendes Gesetz über Missionsarbeit (Missionary Societies Act), das Missionstätigkeit genehmigungspflichtig machte und die Ausweisung von Missionaren zuließ, was auch rigoros praktiziert wurde. Das Gesetz untersagte missionarische Tätigkeit unter Nicht-Christen, Arbeit mit Waisen sowie soziale und karitative Tätigkeiten. Es wurde für den Süden im Jahr 1972 außer Kraft gesetzt, behielt aber für den Norden weiterhin Gültigkeit. Ein zunächst provisorisches Gesetz mit dem Titel Miscellaneous Amendment bietet seit Oktober 1994 eine neue Grundlage für die Arbeit von Nicht-Regierungs-Organisationen (NROs) im Sudan. Dieses Gesetz soll auch für die Kirchen gelten, deren Arbeit damit den Richtlinien für NROs unterworfen wird. Sie müssen sich als NROs registrieren lassen. Das stieß auf den Widerstand insbesondere der katholischen Kirche. Verhandlungen mit der Regierung haben noch zu keinem endgültigen Ergebnis geführt.
Eine politische Öffnung in den späten 1990er Jahren führte zu einer neuen Verfassung, die freie Religionsausübung garantiert. Damit hat sich die Lage für die Kirchen etwas entspannt, insbesondere in der Hauptstadt. Gottesdienste und christliche Feste können hier jetzt relativ ungehindert gefeiert werden.
Die Kirchen unterliegen aber weiterhin Restriktionen beim Kirchbau, bei dem Erwerb von Grundbesitz sowie bei jeder Art von Sozialarbeit, insbesondere in den Lagern der Flüchtlinge aus dem Südsudan in und um Khartoum. Der Lehrplan in den Schulen ist durchgängig islamisiert. Bis heute werden Visa und Aufenthaltserlaubnisse für ausländische kirchliche Mitarbeiter oft nicht erteilt oder nicht verlängert. Sudanesische kirchliche Mitarbeiter erhalten häufig keine Ausreisegenehmigungen zur Teilnahme an internationalen Konferenzen. Denn die meisten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kirchen sind tatsächlich Südsudanesen und unterliegen damit von vornherein dem Verdacht, Sympathie für die oppositionellen Bewegungen zu hegen oder diese gar zu unterstützen. Es fällt schwer, zu unterscheiden, ob Repressalien auf religiöse oder politische Motive zurückzuführen sind. Sicher ist: viele Christen fühlen sich doppelt diskriminiert, als Christen und als Südsudanesen.
Wie auch immer eine zukünftige Regierung im Sudan aussehen wird: Kritisch wird die Scharia-Frage bleiben. Auch die wichtigsten Oppositionsparteien definieren sich islamisch-religiös, wenn auch nicht islamistisch. Die Kirchen haben sich deshalb der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der südlichen Regionen einschließlich der Option auf staatliche Trennung des Südens vom Norden angeschlossen.
Marina Peter, Dipl. päd. Interkulturelle Beziehungen, leitet seit 1997 das europäische Büro des Sudan Focal Point, eines internationalen Zusammenschlusses von Kirchen und Nicht-Regierungs-Organisationen mit dem Ziel der Informations- und Lobbyarbeit zu Frieden und Menschenrechten im Sudan.
Weiterführende Literatur:
- „Länderheft Sudan“, Evangelisches Missionswerk in Deutschland (EMW), Breklum 1995 // Bezug: EMW, Normannenweg 17 – 21, 20537 Hamburg, Telefon (0 40) 2 54 56-1 48, Telefax (0 40) 2 54 56-4 48, E-Mail: service@emw-d.de
2.9 Die Situation der christlichen Minderheiten in der Türkei
(Gerhard Duncker)
Die moderne Türkei versteht sich selbst als ein laizistischer (säkularer) Staat. Die vom Staatsgründer Kemal Atatürk intendierte konsequente Trennung von Religion und Politik bringt strenge Einschränkungen der religiösen Praxis mit sich. Hiervon ist auch die muslimische Mehrheit betroffen, der nach offiziellen Angaben 99 Prozent der Bevölkerung angehören. So ist es in staatlichen Einrichtungen wie Behörden, Schulen oder Universitäten verboten, Kopftücher zu tragen. Angestellten im öffentlichen Dienst ist es untersagt, während der Arbeitszeit das Gebet zu verrichten. Laizismus bedeutet in der Türkei jedoch nicht, dass der Staat gegenüber den verschiedenen Religionsgemeinschaften einen gleich großen Abstand hielte. Vielmehr scheint gerade sein Verhältnis zu den winzigen religiösen Minderheiten höchst gespannt zu sein.
Zwischen Gesetz und Praxis
Völkerrechtliche Grundlage für die Stellung der nicht-muslimischen Minderheiten ist in erster Linie der Vertrag von Lausanne, der von der jungen Türkischen Republik am 24. Juli 1923 unterzeichnet wurde. In dessen Artikel 40 heißt es: „Türkische Staatsangehörige, die nicht-muslimischen Minderheiten angehören, genießen rechtlich und tatsächlich die gleiche Behandlung und Sicherheit wie andere türkische Staatsbürger. Insbesondere haben sie das gleiche Recht, auf eigene Kosten karitative, religiöse und soziale Einrichtungen, Schulen und andere Bildungs- und Ausbildungsstätten zu errichten, zu betreiben und die Aufsicht darüber zu führen, einschließlich des Rechts, sich in diesen Einrichtungen uneingeschränkt ihrer eigenen Sprache zu bedienen und ihre Religion auszuüben.“ Die nicht-muslimischen Minderheiten wurden im Lausanner Vertrag nicht im Einzelnen aufgeführt. Nach der herkömmlichen staatlichen Interpretation werden als solche nur die Griechen, Armenier und Juden anerkannt. Anderen religiösen Minderheiten, etwa der syrisch- orthodoxen Kirche, verschiedenen katholischen Denominationen, den ausländischen Gemeinden oder der jungen türkisch-evangelischen Gemeinde wird dieser Status verweigert.
Wie sieht nun die konkrete Rechtslage für Christen in der Türkei aus, die heute etwa 150.000 Menschen oder 0,3 Prozent der Bevölkerung umfassen? Zunächst gilt es festzuhalten, dass die türkische Verfassung das Recht der freien Religionsausübung kennt. Allerdings ist dieses Recht ein Individualrecht, das heißt, der einzelne muslimische Türke kann sich zum Beispiel als Erwachsener taufen lassen. Hingegen gibt es keine Religionsfreiheit für die Kirchen als verfasste Gemeinschaften oder Gemeinden. Sie besitzen keine Rechtspersönlichkeit und sind damit nicht rechtsfähig. Das gesamte Eigentum der Kirche muss durch kirchliche Stiftungen verwaltet werden. Diese werden nach Artikel 136 der Türkischen Verfassung aus dem Jahr 1982 von einem eigenen Ministerium, dem „Präsidium für Religionsangelegenheiten“ beaufsichtigt. De jure hat dieses Präsidium die Aufgabe, den verfassungsmäßigen Laizismus zu schützen. De facto bevorteilt es den Islam, und zwar den sunnitischen, der in der Türkei mit einem Anteil von mehr als 70 Prozent der Bevölkerung vorherrscht. Zu den religiösen Minderheiten, die dadurch benachteiligt werden, zählen auch die Aleviten, eine Richtung des schiitischen Islam, die zwischen 15 und 25 Prozent der Bevölkerung stellen.
Neben dem Präsidium für Religionseinheiten spielt in der Religionspolitik der Türkischen Republik auch der staatliche Minderheitenausschuss eine bedeutende Rolle. Diesem Ausschuss, der sich mit den Problemen der Minderheiten befassen soll, gehören jeweils ein Vertreter des „Nationalen Sicherheitsrates“, des „Nationalen Nachrichtendienstes“, des „Innen- und Außenministeriums“ sowie des „Staatsministeriums für die Stiftungen“ an. Die Minderheiten selbst sind weder in diesem Gremium vertreten noch können sie es anrufen. Seine Entscheidungen sind endgültig und können vor Gerichten nicht angefochten werden.
Unter staatlicher Aufsicht
Die religiösen Stiftungen der Christen dürfen Grundstücke weder kaufen noch verkaufen. Weder sie noch einzelne Kirchengemeinden können nach eigenem Belieben kirchliche Mitarbeiter einstellen, vor allem dann nicht, wenn diese aus dem Ausland kommen. Seit siebzig Jahren besteht ein Gesetz, das ausländischen Pfarrern jede Tätigkeit in der Türkei verbietet. Alle ausländischen Theologen einschließlich der beiden deutschen, die in der Türkei arbeiten, gehören darum offiziell zu ihren jeweiligen diplomatischen Vertretungen.
Im August 2002 wurde das strikte Verbot für die christlichen Stiftungen, Immobilien zu erwerben, Grundstücke zu veräußern oder zu kaufen, durch ein neues Gesetz gelockert. Dieses Gesetz sieht vor, dass die Kirchen durch ihre Stiftungen Grundbesitz erwerben können, allerdings unter der Voraussetzung, dass sämtlicher Grundbesitz vorher dem Staat gemeldet wird. Nun haben die Gemeinden in den letzten Jahrzehnten häufig Häuser oder auch Grundstücke erworben, um für den Tag X, an dem wieder volle Religionsfreiheit herrscht, gerüstet zu sein. Diese Käufe sind auf die Namen von Gemeindemitgliedern erfolgt. Die meisten Kirchen haben nach August 2002 zu diesen Käufen keinerlei Angaben gemacht: Aus Furcht, sie selbst könnten damit künftige Enteignungen erleichtern.
Auch die kleiner werdenden Kirchen in der Türkei brauchen Stätten für den Gottesdienst, Gemeindehäuser und Schulen, um ihren Glauben praktizieren zu können. Von offizieller türkischer Seite wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es zumindest in Istanbul genügend Kirchen für die Christen gäbe. Dies stimmt zwar statistisch, aber nicht praktisch. Die meisten Kirchen in der Stadt gehören nämlich den Griechen. Ihre kleine Gemeinschaft kann diese Gotteshäuser aber längst nicht mehr alle nutzen. Sie könnte einige davon an die syrisch-orthodoxe Kirche abtreten, die in Istanbul keine eigene Kirche besitzt, aber etwa 12.000 Gemeindemitglieder zählt. Dies ist jedoch nach den geltenden Gesetzen verboten.
Besonders schwer haben es die evangelischen türkischen Gemeinden, die aus getauften Muslimen bestehen. Sie verfügen aufgrund ihrer kurzen Geschichte nicht über Grundeigentum und dürfen auch keines erwerben, da sie keine Rechtsfähigkeit besitzen. Sie müssen also einem ihrer Mitglieder vertrauen, das auf seinen Namen mit dem Geld der anderen etwa eine Eigentumswohnung kauft. Wenn diese Wohnung dann als gottesdienstliche Stätte genutzt werden soll, müssen alle anderen Hausbewohner dem zustimmen. Dies geschieht aber nur in Ausnahmefällen.
Mangel an ausgebildeten Geistlichen
Ein weiteres dringendes Problem für die Minderheitenkirchen in der Türkei ist das Verbot, Priester und Religionslehrerinnen und lehrer auszubilden. Im Jahre 1972 veranlasste der Staat die Schließung aller theologischen Hochschulen, auch der islamischen. Letztere wurden kurze Zeit später wieder geöffnet. Die kirchlichen Ausbildungsstätten dagegen blieben bis heute geschlossen. Dadurch ist die Ausbildung des theologischen Nachwuchses praktisch zum Erliegen gekommen. Pfarrer und Lehrer aus dem Ausland zu holen, ist den Kirchen verboten. Es bleibt einzig die Möglichkeit, junge Armenier und Griechen etwa zum Studium ins Ausland zu schicken. Sind die jungen Männer aber erst einmal im Ausland, kehren sie oft nicht mehr in ihre Heimat zurück. Jüngst hat der türkische Staat der griechisch-orthodoxen Kirche angeboten, den theologischen Nachwuchs analog etwa zum deutschen Vorbild an den staatlichen Universitäten ausbilden zu lassen. Doch während in Deutschland die Theologieprofessoren Christen sein müssen, wären es in der Türkei muslimische Hochschullehrer, welche die künftigen armenischen und griechischen Geistlichen ausbilden würden. Deshalb wurde das staatliche Angebot von christlicher Seite zum Teil heftig zurückgewiesen.
Das Verbot, Theologen auszubilden, trifft nicht nur Gemeinden, sondern auch die wenigen verbliebenen kirchlichen Schulen in ihrem Nerv. Die Erteilung des Religionsunterrichtes durch immer weniger Religionslehrer wird immer schwieriger. Von Pfarrern kann der Unterricht nicht erteilt werden, da diese keine Schule als Lehrer betreten dürfen, auch keine kirchliche. Auch leiden die Schulen darunter, dass sie nur Schüler der eigenen Konfession aufnehmen dürfen. Besucht zum Beispiel ein armenisches Kind eine armenische Schule, ist dies noch keine Garantie dafür, dass es hier auch seinen Abschluss machen kann. Hat beispielsweise dieser Schüler einen armenischen Vater und eine muslimische Mutter und stirbt der Vater, so wird dieses Kind nicht mehr als armenisch angesehen: Es darf daher keine kirchliche Schule mehr besuchen und muss auf eine staatliche Schule überwechseln.
Im Tur Abdin, ihrem traditionellen Siedlungsgebiet im nördlichen Zweistromland, leben heute nur noch etwa 2.000 aramäische (assyrische) Christen, von denen die meisten der syrisch-orthodoxen Glaubensrichtung angehören. Den syrisch-orthodoxen Klöstern Mar Gabriel und Deyr-ul-Zafaran wurde 1997 verboten, Religionsunterricht in aramäischer Sprache, der Sprache ihrer Liturgie und ihrer reichen schriftlichen Überlieferung, zu geben. Das Aramäische ist auch die Sprache, die Jesus von Nazareth gesprochen hat.
Die Schatten der Vergangenheit
Der christliche Glaube ist ursprünglich von Palästina und Kleinasien ausgegangen und dann in alle Teile der Welt vorgedrungen. Heute sind die Christen in der Türkei nur noch eine winzige Minderheit. Sie werden derzeit zwar nicht verfolgt, aber in ihrer freien Religionsausübung stark eingeschränkt. Geht man den Ursachen für diese Diskriminierung auf den Grund, kommt man unter anderem zu dem Ergebnis, dass die Türkei Erfahrungen gemacht hat, die bis heute nachwirken. Im Osmanischen Reich und in der Türkischen Republik waren und sind die religiösen Minderheiten immer auch ethnische oder nationale Minderheiten, die stets als unsichere Staatsbürger galten bzw. gelten. Viele muslimische Türken fühlen sich in ihrer Existenz durch diese vermeintlich feindseligen Gruppen gefährdet, befürchten gar eine „Balkanisierung“ der Türkei. Solchen Befürchtungen ist rational nur sehr schwer zu begegnen. Bis heute verleugnet und verdrängt die Türkei die Völkermordverbrechen der Jungtürken an den Armeniern und Aramäern in den 1920er und 1930er Jahren sowie die Vertreibung der pontischen und kleinasiatischen Griechen während des Ersten Weltkrieges.
Hat das Christentum in der Türkei überhaupt eine Zukunft? Vor einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union müssen den Christen in Istanbul und Ankara die gleichen Rechte und Freiheiten gewährt werden, wie sie für Christen und Muslime in Berlin oder Kopenhagen selbstverständlich sind. Hoffentlich ist es dann nicht schon zu spät.
Kirchenrat Gerhard Duncker war von 1993 bis 2002 Pfarrer der Evangelischen Gemeinde Deutscher Sprache in der Türkei und Beauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland am Sitz des Ökumenischen und Armenischen Patriarchates in Istanbul / Konstantinopel. Seit September 2002 ist er im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen u. a. zuständig für Mittel- und Osteuropa und für Grundfragen im christlich-islamischen Dialog.
Weiterführende Literatur:
- „Zur Lage der Menschenrechte in der Türkei – Laizismus = Religionsfreiheit?“, Otmar Oehring, Reihe Menschenrechte Nr. 5 / 2001 // Bezug: missio Aachen, Postfach 10 12 48, 52012 Aachen, Telefon (02 41) 75 07-00, Telefax (02 41) 75 07-61-2 53, Internet: http://www.missio-aachen.de/