Wandeln und gestalten

4. „Entscheidung wagen“: Verdichten und Wachsen als kirchliche Aufgabe

Im Folgenden sollen zunächst einige theologische Zielsetzungen für die missionarische Arbeit der Kirche in ländlichen Räumen entfaltet werden (a). Den Ausgangspunkt bildet dabei der Begriff des Wachstums als theologische Zielsetzung; dieser Begriff bedarf jedoch einer Entfaltung, um theologisch recht verstanden zu werden.

Danach werden einzelne Strategien entwickelt, in deren Vielfalt sich etwas von der Heterogenität der ländlichen Räume widerspiegelt (b). Wichtig ist dabei zu beachten, dass die Strategien den verschiedenen dargestellten Typen nicht einszueins zugeordnet sind, wie schon ihre unterschiedliche Anzahl anzeigt. Dennoch bestehen Affinitäten von bestimmten Strategien zu bestimmten Raumtypen, die im Text markiert sind. Den Abschluss bilden Ausführungen zur Bedeutung der ökumenischen Zusammenarbeit in ländlichen Räumen (c).


a) Theologische Zielsetzungen

Die Kirche hat - theologisch gesehen - in ländlichen Räumen wie in städtischen Kontexten Anteil an dem einen, allgemeinen Auftrag der Kirche, der ihr von Jesus Christus als Herrn der Kirche gegeben ist. Hier wie dort geht es darum, das Evangelium von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus offenbart und in der Schrift bezeugt ist, in Wort und Tat zu verkündigen. Hier wie dort geht es um ein einladendes und ansprechendes „Reden von Gott in der Welt“. Hier wie dort legen Menschen durch ihr Reden und Handeln innerhalb wie außerhalb der Kirche Zeugnis ab von der Freiheit des Glaubens, aus der sie leben. Hier wie dort sind Haupt, Neben und Ehrenamtliche entsprechend in den vielfältigen Feldern kirchlicher Arbeit engagiert.

Dennoch ist es sinnvoll und notwendig, die Besonderheiten zu benennen, vor denen kirchliche Arbeit speziell in ländlichen Räumen steht, und die theologischen Zielsetzungen zu skizzieren, mit denen kirchliche Arbeit auf diese Eigenarten des ländlichen Raumes reagieren sollte. Zu den spezifischen Merkmalen ländlicher Räume gehören u.a. eine schwächer ausgebildete allgemeine Infrastruktur, eine geringere Besiedlungsdichte, die Notwendigkeit individueller Mobilität, eine Gesellschaft des „SichKennens“ und sozialer Überschaubarkeit, die agrarkulturelle Prägung, ein besonderes Natur und Zeitempfinden, die starke Bedeutung des unmittelbaren Lebensraumes, z.T. ausgeprägte verwandtschaftliche Verbindungen. Was diese und andere Eigenarten des ländlichen Raumes für die Praxis bedeuten, soll hier - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - für einige exemplarische Themenfelder kirchlichen Lebens entfaltet werden: Kirchengebäude, Gottesdienst, Beheimatung, Gemeindeformen, kirchliche Mitarbeitende. Die Ausführungen haben dabei den Charakter von theologischen Zielorientierungen und bilden so den Gesamtrahmen und Bezugspunkt für die verschiedenen Strategien der einzelnen Typen, in denen auf diese allgemeinen Überlegungen Bezug genommen wird.

In den verschiedenen Bereichen spielt angesichts der notwendigen Konzentrationsprozesse kirchlicher Arbeit der Gedanke der „Stärkung der Stärken“ eine wichtige Rolle. Damit ist gemeint, theologisch begründete Schwerpunktsetzungen zu bilden, gelingende kirchliche Arbeit weiter zu entwickeln und andere traditionell verankerte Arbeitsfelder aufzugeben, wenn sie nur einen gleich bleibenden oder kleiner werdenden Personenkreis ansprechen. Der Anspruch, an allen Orten alles in gleicher Weise anzubieten, ist auf die Dauer nicht finanzierbar. Er bindet vor allem die wertvolle Zeit und Arbeit kirchlicher Mitarbeitender, die an anderen Stellen effektiver, sinnvoller und - für alle Beteiligten - auch freudvoller eingesetzt werden könnte. Daher bedarf es der Entwicklung von konzeptionell abgestimmten Strukturen in größeren kirchlichen Gestaltungsräumen, durch die wechselseitige Entlastung und Bereicherung geschaffen wird. Dabei ist besonders dem Aspekt der missionarischen Öffnung der Kirche „nach außen“ Rechnung zu tragen. Was dies im lebensweltlichen Kontext ländlicher Räume konkret bedeutet, soll nun entfaltet werden.

Wachstum als Leitbegriff kirchlichen Handelns
Wachstum ist ein Begriff, der im biblischen Zeugnis eine wichtige Rolle spielt. An zahlreichen Stellen und in unterschiedlichen Zusammenhängen ist vom Begriff oder der Sache die Rede: angefangen von den Verheißungen an die Erzväter (z.B. 1. Mose 48,4.16; 49,22) und der bildreichen Sprache der Psalmen und alttestamentlichen Prophetie (z.B. Ps 92,13; Jes 65,9; Jer 23,3; Ez 17), über die Gleichnisreden Jesu in den Evangelien (z.B. Mk 4,1332; Joh 15) bis hin zu den Schilderungen und Aufforderungen zum Gemeinde bzw. Glaubenswachstum in der Apostelgeschichte (z.B. Apg 5,14; 12,24) und in den neutestamentlichen Briefen (z.B. 1. Kor 3,59; Eph 2,21; 4,15f., 2. Petr 3,18). Wer da wächst (das Volk Israel, die Gemeinde oder der Einzelne), worin das Wachstum besteht (zahlenmäßiges Wachstum, innere Entfaltung), wie es sich vollzieht und unter welchem Aspekt es betrachtet wird, ist an den verschiedenen Stellen unterschiedlich. Deutlich ist jedoch, dass die Vorstellung des Wachsens in einer besonderen Beziehung zur biblischen Botschaft steht. Das Evangelium von der Liebe Gottes schließt - wenn es sich einem Menschen als heilsame, froh machende, rettende Botschaft erschließt - den Willen und die Aufgabe zur Weitergabe ein. Der Glaube des Einzelnen will sich mitteilen und entwickeln. Die Gemeinde als Gemeinschaft der Glaubenden ist sich selbst nicht genug, sondern strebt nach Entfaltung und Wachstum. Im Bild des Wachstums drückt sich (neben anderen soziokulturellen Bezügen) vor allem die ländlichagrarisch geprägte Erfahrungswelt des biblischen Entstehungskontextes aus.

Wenn der Begriff des Wachstums hier im Blick auf die Entwicklung von Kirche in ländlichen Räumen gebraucht wird, so wird damit also nicht eine von sich aus fremde oder gar unangemessene Vorstellung an sie herangetragen. Kirche ist, insofern sie sich selbst auf die betont universelle Sendung und Beauftragung durch Jesus Christus bezieht (Mt 28,1820; Joh 17,18; 20,21; Apg 1,8), zumindest von ihrer Ausrichtung her eine wachsende Kirche.

Der Wachstumsbegriff steht der irrigen Annahme entgegen, dass sich die Weitergabe des Evangeliums losgelöst von der Institution Kirche vollziehen würde. Die geläufige Aussage, dass „ich auch ohne die Kirche Christ sein kann“, täuscht sich im Blick auf die Bedingungen, unter denen Glaube entsteht, lebt und sich entfaltet. Ohne den wechselseitigen Zuspruch und die Tröstung der Glaubenden, ohne die Verkündigung des Evangeliums und die Feier der Sakramente, ohne das lebendige Zeugnis in Gottesdienst, Seelsorge, Diakonie und Unterricht, in die Öffentlichkeit hinein und im persönlichen Leben der anderen Christen entsteht kein Glaube und besteht auch auf die Dauer kein Glaube. Die Organisation Kirche ist dabei - neben dem individuellen Glauben des Einzelnen und den christlichen Elementen der allgemeinen Kultur - nur eine Form des Christentums, aber eine notwendige Form.

Der Wachstumsbegriff zielt weiterhin auf einen Mentalitätswechsel bei denen, die in der Kirche mitarbeiten und Verantwortung tragen. Es geht darum, das kirchliche Reden und Handeln nicht ausschließlich primär an den Menschen auszurichten, die als so genannte „KernGemeinde“ sozial eingebunden und religiös gut versorgt sind. Vielmehr gilt es dem kirchlichen Auftrag nachzukommen, „die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“ (Barmer Theologische Erklärung, These 6). „An alles Volk“ - das schließt ein, sich kirchlich für Menschen unterschiedlicher sozialer Milieus, Lebensstile, Generationen und Frömmigkeitsstile zu öffnen und vorhandene Verengungen kirchlicher Arbeit zu überwinden. „An alles Volk“ - das heißt, sich nicht mit der gegenwärtigen Praxis von Gottesdiensten und kirchlichen Amtshandlungen (Taufe, Trauung, Bestattungen) zufrieden zu geben, die selbst viele der eigenen Mitglieder nicht mehr erreicht. „An alles Volk“ - das meint vor allem ein einladendes und ansprechendes Reden von Gott in der Welt, ein aus eigener Überzeugung stammendes liebevolles und stilvolles Werben für den Glauben und für die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden. Der Wachstumsbegriff schließt also immer eine qualitative Dimension der inneren Entwicklung und eine quantitative Dimension der äußeren Entfaltung ein. Im Blick auf die Frage, wie die kirchlichen Entwicklungsmöglichkeiten in einem bestimmten ländlichen Raum eingeschätzt werden können, sind beide Aspekte von Bedeutung: sowohl die Frage, in welcher qualitativen Weise Menschen dort kirchlich erreicht werden können, als auch die Frage, wie viele Menschen dort erreicht werden können. Im Blick auf beide Dimensionen kirchlichen Wachstums bedarf es eines kirchlichen Bewusstseinswandels: im Blick auf die Steigerung der Qualität kirchlichen Handelns wie im Blick auf ein quantitatives Wachstum.

Allerdings muss auf Grund der „dunklen“ Erfahrungen aus der Missionsgeschichte der Kirche und auf Grund eines weit verbreiteten äußerlichen Verständnisses von Wachstum der Begriff gegenüber möglichen Missverständnissen abgegrenzt werden:
Eine Gefahr bei der Rede von Wachstum in Bezug auf Kirche ist, dass der Begriff als Ausdruck reiner institutioneller Selbsterhaltung verstanden wird. Die Gewinnung von Mitgliedern, Sicherung von Finanzen und Ausweitung von kulturellem Einfluss würden so zum losgelösten Selbstzweck von Kirche. In diesem selbstbezüglichen Sinn steht „Wachstum“ dem Auftrag der Kirche zur Verkündigung des Evangeliums von der Freiheit des Glaubens an Jesus Christus entgegen. Die Gefahr einer solchen selbstbezüglichen und auftragsvergessenen Ausrichtung der Institution Kirche ist, wie ihre Geschichte zeigt, stets vorhanden.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass sich mit dem Begriff des Wachstums zum Teil ideologisierte Vorstellungen von ungebrochenen Fortschrittsentwicklungen und Erfolgsgeschichten verbinden. Solche Wachstumsideologien widersprechen nicht nur dem wirklichen Verlauf von Wachstumsprozessen. Sie führen zudem dazu, dass Wachstum entweder selbst und fremdtäuschend simuliert wird - oder dass die uneingelösten Wachstumsziele auf die Dauer entmutigen, demotivieren und so Wachstum verhindern, eben weil die überhöhten Ideale nie erreicht werden können. Solche Wachstumsvorstellungen sind in sich höchst problematisch und Ausdruck einer zutiefst unevangelischen Fortschrittsgläubigkeit.

Schließlich besteht ein weiteres Bedenken gegen die Rede von kirchlichem Wachstum darin, dass Wachstum ein einseitig oder zumindest primär quantitativ bestimmter Begriff sei und den Blick daher sachlich unangemessen auf Äußerlichkeiten richte. Die Wirkung kirchlichen Redens und Handelns, bei denen es letztlich um die Verkündigung des Evangeliums geht, lasse sich auf diese Weise nicht wahrnehmen.
Die genannten Einwände und Möglichkeiten zum Missverstehen sind wahrzunehmen und zu beachten. Dennoch wird hier bewusst der Begriff des Wachstums als Leitbegriff für die Beurteilung kirchlicher Entwicklung gewählt. Durch ihn wird in mehrfacher Hinsicht eine Perspektive auf die Entwicklung von Kirche eröffnet, die sachgemäß, sinnvoll und geboten ist und die dennoch auch das Kleine und Unscheinbare zu würdigen versteht. Der Wachstumsbegriff wird als Leitbegriff für die Beurteilung der kirchlichen Entwicklung in ländlichen Räumen gewählt, um die kirchliche Arbeit nicht an der Wahrung ihres Bestandes, sondern an ihren verheißungsorientierten Möglichkeiten auszurichten.

Kirchen
Die Kirchen als Gebäude spielen für die kirchliche Arbeit in ländlichen (wie städtischen) Räumen eine zentrale Rolle. Sie haben über ihren unmittelbaren „Gebrauchswert“ für Gottesdienste, Gemeindeveranstaltungen und individuelle Frömmigkeit hinaus einen kaum zu überschätzenden „Symbolwert“: Kirchen sind Erfahrungsräume der Gegenwart Gottes, „durchbetete Orte“, Oasen der Stille und des Friedens im Alltag, Kristallisationspunkte biographischer Kirchenbindung, sichtbare Erinnerungsanker des kulturellen religiösen Gedächtnisses - und fungieren so als „Zeichen in der Zeit“. Diese vielfältige Bedeutung der Kirchen ist in den letzten Jahren neu ins Bewusstsein gerückt. Sie lässt sich im Blick auf die Funktion für die Gemeinde, die Gesellschaft und den Einzelnen hin näher entfalten.
Für die Gemeinden ist die Kirche daher - noch vor Gemeindehaus und Pfarrhaus - der kirchliche Zentralraum schlechthin, auch wenn sich das in der vergangenen Nutzungspraxis nicht immer niedergeschlagen hat. In jüngerer Zeit wird der Kirchenraum von Gemeinden zunehmend als Ort nicht nur der gottesdienstlichen Aktivitäten neu entdeckt: Kirchlicher Unterricht, Gruppen, Kontaktstellen und auch Pfarr und Gemeindebüro finden ihren Weg (zurück) in entsprechend gestaltete Räume in der Kirche.

Im Blick auf die Gesellschaft kommt den Kirchengebäuden im Zentrum des Dorfes oder der ländlichen (Klein)Stadt eine symbolische Kraft zu. In ihrer architektonischen Lage, Bauart und Größe spiegelt sich oft ihre besondere Bedeutung. Sie repräsentieren Inhalte, Bräuche und Werte der christlichen Tradition; sie sind Orientierungspunkte der Bürgergemeinde bei kulturellen Anlässen, in FestZeiten und in Krisensituationen; sie erfüllen eine gesellschaftliche Stellvertretungsfunktion, die auch von Kirchenfernen und Konfessionslosen oft hoch geschätzt wird. Dies findet seinen Ausdruck in der breiten Unterstützung von Kirchenbauvereinen - auch von Menschen, die nicht (mehr) zur Gemeinde gehören.

Schließlich sind die Kirchen von besonderer Relevanz für individuelle Religiosität, Glaube und Frömmigkeitspraxis. Menschen kommen in die Kirche, um Stille zu finden, nachzudenken, zu bitten und danken, zu klagen und loben, eine Kerze anzuzünden, sich an Schönes und Schweres zu erinnern, der Orgel zu lauschen, die (Fenster)Bilder zu betrachten oder einfach nur um die besondere Atmosphäre des Raumes zu spüren. Offene Kirchen und kirchenpädagogische Erschließungshilfen bieten niederschwellige Angebote, die gerade von Besuchern während der Urlaubszeit oft in Anspruch genommen werden. Der bewusst gestaltete Zugang zum Kirchenraum ist - durch das sprechende Zeugnis der „lebendigen Steine“ (vgl. 1. Petr 2,4f.) - eine wichtige Zugangsmöglichkeit zum Glauben.

In vielen ländlichen Räumen findet sich ein Schatz an solchen Kirchengebäuden, in deren Geschichte sich die Lebensgeschichte von einzelnen Menschen, Familien und Gemeinden widerspiegelt. Strategisch gesehen sind es „Schlüsselräume für die Zukunft der Kirche“. Sie stellen den Identifikationspunkt der Gemeinde dar, den es nach allen Möglichkeiten zu erhalten gilt. Zugleich ist das Potential der Kirchenräume noch stärker als bisher zu entfalten: hinsichtlich der Nutzung durch die Gemeinde, der Öffnung für individuelle Frömmigkeitspraxis und auch in Bezug auf die Erschließung für „zufällige Besucher“, denen Kirche, Glaube und Gott sonst fremd geworden sind. Die Bewahrung und Pflege der ländlichen Stadt und Dorfkirchen stellt jedoch angesichts zurückgehender kirchlicher Finanzen vor zunehmende Herausforderungen. Die Kirchen sind dabei die Gebäude, deren Erhalt vor Pfarr und Gemeindehäusern Aufgabe der Kirche ist. Um dies zu bewältigen, ist Phantasie und Engagement gefragt: im Blick auf breite öffentliche Unterstützung, auf ansprechende Gestaltung und kirchliche Nutzung und - wenn nötig - auf verantwortliche kulturelle „Fremdnutzung“. Zum Erhalt der Kirchen gehört es dabei wesentlich, dass sie gottesdienstlich belebt bleiben. Der dafür notwendige Einsatz wird von manchen Gemeinden als positiver Impuls für das Gemeindeleben insgesamt erfahren. Das Aufgeben von Kirchengebäuden wird aber trotz solcher Anstrengungen als Grenzfall nicht auszuschließen sein. Ein solcher schmerzlicher Prozess bedarf einer angemessenen Begleitung und Einbeziehung aller daran beteiligten Personen und Einrichtungen. Und das Aufgeben eines Kirchengebäudes sollte, wenn es denn dazu kommt, so gestaltet sein, dass es dem bleibenden Zeugnis des Gebäudes verantwortlich Rechnung trägt, sich nicht in stil und liebloser Verwahrlosung niederschlägt und die bleibende Lesbarkeit des Kirchengebäudes ermöglicht. Doch vor dieser letzten Möglichkeit sollten alle anderen Chancen zum Erhalt des „KirchengebäudeSchatzes“ für die kommenden Generationen genutzt werden.

Gottesdienst
Nach reformatorischem Verständnis gehört der Gottesdienst mit Evangeliumsverkündigung und Sakramentsfeier zu den wesentlichen Lebensäußerungen und Kennzeichen der Kirche (vgl. Augsburger Bekenntnis, Artikel 7). Auch nach den Erwartungen der Kirchenmitglieder und Konfessionslosen zählt er - zusammen mit Seelsorge, Diakonie und Verkündigung - zu den zentralen Aufgaben der Kirche. Das zeigen die Kirchenmitgliedschaftsstudien der Evangelischen Kirche in Deutschland aus den letzten dreißig Jahren für Stadt und Land gleichermaßen. Insbesondere die „Kasualien“, also die gottesdienstlichen Handlungen aus Anlass von Taufe, Trauung oder Bestattung, erfahren dabei eine sehr hohe Wertschätzung. Doch auch der „normale“ SonntagsGottesdienst ist - unabhängig von der eigenen Teilnahme (!) - ein zentrales Element im ErwartungsBild an Kirche. Die Kirche wird hier z.T. in der Funktion einer stellvertretend(en) Handelnden gesehen.

Im Blick auf die gottesdienstliche Wirklichkeit zeigt sich in ländlichen Räumen ein sehr unterschiedliches Bild. Es gibt Gegenden, in denen der sonntägliche Gottesdienstbesuch weit über dem landeskirchlichen Durchschnitt liegt. Der Gottesdienst ist hier - wenn auch anders als früher - eine wichtige Stätte der Begegnung, ein fester Teil des sozialen Lebens am Ort. Manche gottesdienstlich engagierten ländlichen Gemeinden bieten eine reiche Vielfalt von Gottesdiensten mit einem hohen Einsatz von ehrenamtlichen Mitarbeitenden an. In anderen ländlichen Räumen dagegen stellt der „Gottesdienst mit Wenigen“ den sonntäglichen Normalfall dar. Vor allem in den östlichen Landeskirchen leitet ein Pfarrer bzw. eine Pfarrerin oft vier, fünf oder mehr Gottesdienste an einem Wochenende. In vielen solcher Gemeinden ist der Pfarrer, die Pfarrerin dabei für alle Aufgaben im Gottesdienst zuständig - einschließlich Küsteraufgaben, Lesungen und z.T. auch musikalischer Begleitung. Neben dem Mangel an Mitarbeitenden ist vor allem die geringe Resonanz des Gottesdienstes eine Anfechtung für die Verantwortlichen. Viele liturgische Elemente setzen eine größere Anzahl von Teilnehmenden voraus und auch die Kirchen sind auf eine gewisse Mindestzahl von Menschen ausgelegt, um nicht leer zu wirken. Der Gottesdienst wird so in manchen ländlichen Gemeinden von den Verantwortlichen und den Teilnehmenden als Anfechtung, als demotivierende Infragestellung der eigenen Arbeit, ja als Karikatur seiner selbst erfahren. Für andere ländliche Gemeinden dagegen bildet er das ausstrahlungsstarke Zentrum gemeindlichen Lebens und einen Ort spiritueller Bereicherung für alle Beteiligten.

Im Blick auf die zukünftige Entwicklung in ländlichen Räumen steht die Kirche vor einer mehrfachen strategischen Aufgabe:

Zunächst gilt es, die Gottesdienste als eine der zentralen Lebensäußerungen der Kirche wahrzunehmen, in ihrer Qualität zu sichern und zu steigern und ansprechend, offen und einladend „nach außen“ zu gestalten. Ein Kriterium für ein in dieser Hinsicht gelungenes gottesdienstliches Handeln ist es, dass ein „zufälliger Zaungast“ sich eingeladen fühlt mitzufeiern, geistlich bereichert den Gottesdienst verlässt und den Wunsch verspürt, wiederzukommen. Eine solche ausstrahlungsstarke Gestaltung ist in manchen ländlichen Räumen bereits jetzt Wirklichkeit, in anderen wird sie nur gelingen, wenn sich die Struktur der bisherigen Gottesdienste deutlich verändert. An Stelle einer flächendeckenden Versorgung, bei der eine Pfarrerin oder ein Pfarrer an vielen Orten nacheinander mit wenigen, älteren Personen einen Gottesdienst nach dem anderen feiert, bedarf es einer strukturellen und inhaltlichen Neuausrichtung. In solchen, kirchlich schwächeren Gegenden wird eine radikale Konzentration der Kräfte und Veranstaltungen notwendig sein, um das, was gemacht wird, wirklich gut zu machen und die ehren wie hauptamtlich Engagierten nicht in treuer Pflichterfüllung in überkommenen Strukturen zu verschleißen. Der Gottesdienst darf dabei nicht der alleinigen Verantwortung des Pfarrers, der Pfarrerin überlassen werden, sondern muss eine Veranstaltung der ganzen Gemeinde sein, die von der Einbringung der vielfältigen Gaben der Glieder Christi lebt (vgl. 1. Kor 12): vom Chor und der Orgelmusik, über die ansprechende Gestaltung des Gottesdienstraumes und den Kollektendienst bis hin zu Lesungen, Gebeten und gottesdienstlicher Planung. Es braucht Gottesdienste, die den aktiv Beteiligten - vom Organisten bis zur Pfarrerin - Freude machen, Gottesdienste, von denen die Gottesdienstteilnehmer zu Hause, bei der Arbeit und im Freundeskreis von sich aus weiter erzählen, Gottesdienste, zu denen man mit gutem Gewissen einladen kann. Auch wenn der Gottesdienst nicht an jedem Sonntag diesem Maßstab in gleicher Weise entsprechen wird, so ist die Ausrichtung des gottesdienstlichen Handelns dennoch grundsätzlich zu überdenken und verändern, wenn dieser Maßstab dauerhaft unterschritten wird.

Weiterhin gilt es in Bezug auf das Verhältnis von gottesdienstlicher Tradition und Erneuerung eine doppelte Strategie zu verfolgen. Die tradierte Form des „agendarischen“ Gottesdienstes hat einen wichtigen Wiedererkennungswert - auch wenn nur ein Teil der Mitglieder durch regelmäßige Teilnahme in ihm beheimatet ist. Er ermöglicht verschiedene Weisen der gottesdienstlichen Partizipation. Er vermittelt Menschen geistliche Vertrautheit auch an anderen kirchlichen Orten. Und er bietet eine wichtige Bezugsfolie, ohne die auch viele alternative Gottesdienstformen nicht funktionieren würden. Eine wichtige kirchliche Aufgabe besteht so darin, den Sinn und die Schönheit der tradierten Formen und Zeiten zu vermitteln und spirituelle Beheimatung in ihnen zu ermöglichen. Der Gottesdienst in traditioneller Form kann und muss dabei jedoch nicht jeden Sonntag und an allen kirchlichen Orten eines ländlichen Gestaltungsraumes abgehalten werden. Und es bedarf nicht notwendig einer Pfarrerin oder eines Pfarrers dazu. Als eine Möglichkeit sind hier auch die „gottesdienstlichen Kerne“ zu nennen, die in manchen Gemeinden ohne die Mitwirkung einer Hauptamtlichen, eines Prädikanten oder einer Lektorin von nicht funktionsgebundenen Gemeindegliedern abgehalten werden. Desgleichen gilt es, regionale Vernetzungen zu schaffen und auszubauen, die zu wechselseitiger Entlastung und Bereicherung führen und von den Gemeinden getragen werden. Weiterhin bietet sich gerade in diesem Bereich eine Konzentration der Kräfte an, damit dort, wo Kirche begegnet, dies auch in einer überzeugenden und ansprechenden Weise geschieht. Es bedarf eines reflektierten und transparenten Nebeneinanders von leicht vorzubereitenden „Kleinen liturgischen Formen für Wenige“ und ausstrahlungsstarken, einladenden Gottesdiensten in Zentren ländlicher Räume. Speziell der „Gottesdienst mit Wenigen“ sollte in seinen liturgischen Herausforderungen erkannt und entsprechend den kommunikativen Rahmenbedingungen besonders gestaltet werden. Gottesdienste mit Wenigen stehen in der Gefahr, als private und enge Form erlebt zu werden. Dennoch müssen sie den Charakter einer öffentlichen Feier behalten.

Komplementär zur Pflege gottesdienstlicher Tradition gilt es den liturgischen Reichtum und die Vielfalt an Gottesdiensten zu anderen Zeiten, in alternativen Formen und für bestimmte Zielgruppen zu fördern und zu pflegen. Gerade bei diesen Gottesdiensten gelingt es, viele ehrenamtlich Mitarbeitende einzubinden. Um dies in ländlichen Räumen gewährleisten zu können und die haupt und ehrenamtlich Mitarbeitenden nicht zu überlasten, bedarf es gleichfalls einer bewussten Konzentration an bestimmten Zentralorten. Diese Gottesdienste stehen nicht in Konkurrenz zu den zuerst genannten, sondern öffnen die Kirche für Menschen aus anderen Milieus und Altersstufen. Sie sind dringend notwendig, weil viele Menschen - Kirchenmitglieder wie Konfessionslose - in den tradierten Formen nicht mehr zu Hause sind oder sein wollen. Die Abstimmung mit den Füßen der nicht Anwesenden ist ernst zu nehmen: sei es als Ausdruck des Nichtangesprochenseins durch Stil und Gestaltung des Gottesdienstes, sei es als Ausdruck der geistlichen Suche nach anderen religiösen Erfahrungsräumen, sei es als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Art und Weise, in der hier das Evangelium kommuniziert oder eben nicht kommuniziert wird.

Besonders intensiver Vorbereitung und qualitativ ansprechender Gestaltung bedürfen dabei die stark besuchten Gottesdienstfeiern des Kirchenjahres und aus Anlässen des öffentlichen Lebens. Die Kirche wirkt hier in besonderer Weise „nach außen“ und hinterlässt bei Konfessionslosen und distanzierteren Kirchenmitgliedern einen oft lange nachwirkenden und alleine für sich stehenden Eindruck kirchlichen Lebens, der - im negativen Fall - nur schwer zu verändern ist. Dieser Eindruck sollte daher so positiv sein, dass der Wunsch nach „mehr“ geweckt wird: Interesse, Lust und Engagement, weitere kirchliche Erfahrungen zu machen. Um dies gewährleisten zu können, bedarf es auch hier einer Freistellung kirchlicher Kräfte, um diesem Anspruch genügen zu können. Gerade an den zentralen Festtagen stellt zugleich die hohe Gottesdienstfrequenz eine Herausforderung an die Haupt und Ehrenamtlichen dar.

Schließlich ist die Qualität von Taufen, Trauungen und Bestattungen zu sichern, zu pflegen und zu steigern. Die Amtshandlungen spielen für die biographische Kirchenbindung von Menschen eine wichtige Rolle im Zusammenspiel mit weiteren Erfahrungen. Sie bleiben für Jahre, manchmal ein Leben lang in Erinnerung. Für Konfessionslose bilden sie zwar nicht unbedingt einen Grund, aber oft einen Anlass, um über die eigene Beziehung zu Gott, Glaube und Kirche neu nachzudenken. Die Amtshandlungen sind ortsnah, persönlich ansprechend und qualitativ hochwertig zu gestalten. In der liebevollen und sorgfältigen Gestaltung dieser „persönlichen Gottesdienste“ kommt etwas von der Menschenzugewandtheit Gottes erfahrbar zum Ausdruck, von der das Evangelium zeugt. Die Feier von Amtshandlungen gehört, wie der ökumenische Vergleich zeigt, zugleich zu einer der dezidierten Stärken der evangelischen Kirche, die es entsprechend zu pflegen gilt. Die persönliche Bindung an die Heimatkirche, die soziale Verankerung der familiären Feiern im dörflichen bzw. kleinstädtischen Leben und der Reichtum lokaler Traditionen bieten dafür im ländlichen Raum wichtige Bezugspunkte.

Beheimatung
Ohne hier auf die vielfältigen Verwendungsweisen und unterschiedlichen Vorstellungen von „Heimat“ einzugehen, seien einige Strukturmomente aufgegriffen, die für die Frage der Beziehung von Glaube, Kirche und Heimat im ländlichen Raum relevant sind. „Heimat“ ist ein emotional besetzter Begriff. Er steht für die Empfindung des Bekannten, Vertrauten, Verwandten. Zugleich verbinden sich mit ihm aber auch Gefühle der Sehnsucht und der unerfüllten Hoffnung, theologisch gesprochen, des „noch nicht“. Für das Gefühl der „Heimat“ spielt dabei die Wechselbeziehung von Lebensgeschichte, Ursprungserfahrungen, Gemeinschaft, Räumen, Zeiten und Handlungsvollzügen eine wichtige Rolle. Reduktionen dieses Gefüges führen in der Regel zu problematischen Verkürzungen und „Verdinglichungen“ des Heimatgefühls.

• Lebensgeschichtlich verbindet sich mit Heimat der Gedanke der Herkunft, des Ursprungs, der Verwurzelung, aber auch der prägenden Lebensphasen (biographischer Aspekt).

• Räumen kommt für das Empfinden von Heimat eine zentrale Bedeutung zu. Herkunftsorte werden daher leicht mit „Heimat“ gleichgesetzt (territorialer Aspekt).

• Aber auch der Zeitfaktor prägt die Wahrnehmung dessen, was unter „Heimat“ verstanden wird. Heimat kann ihre je eigene (lebens)geschichtliche Zeit haben (temporaler Aspekt).

• Zum Gefühl des Vertrauten, Bekannten gehören schließlich andere Personen, mit denen man dieses Gefühl teilt (sozialer Aspekt), und

• Riten, Bräuche, Handlungsvollzüge, in denen sich dieses Empfinden ausdrückt und manifest wird (rituellkommunikativer Aspekt).

Wenn Glaube und Kirche im ländlichen Raum als Beheimatung erfahren werden, so wirken diese verschiedenen Aspekte ineinander. Sie kommen auf Grund des Phänomens des SichKennens und der Übersichtlichkeit in ländlichen Gemeinden in besonderer Weise zum Tragen: Kirche ist Heimat, weil die Dorf oder Stadtkirche Orientierungspunkt der eigenen „Lebenslandkarte“ ist, weil hier - zum Teil schon seit Generationen - die Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Jubiläen und Trauerfeiern der Familie stattgefunden haben, weil man in der Gemeinde Menschen begegnet ist, die einem wichtig geworden sind, weil sie einem das Evangelium und den Glauben vermittelt hat, ... . Wichtig ist es dabei zu beachten, dass die Art und Weise, in der Kirche von Menschen als Heimat erfahren wird, ganz unterschiedlich ist. Kirchliche Heimat darf nicht mit der aktiven Mitarbeit und Teilnahme an den Gruppen und Kreisen der Kerngemeinde gleichgesetzt werden. Es gibt in den verschiedenen Generationen, sozialen Gruppen und Milieus, bei Alteingesessenen und Neuzugezogenen, bei Kindern, Jugendlichen, Männern und Frauen vielmehr sehr unterschiedliche Formen „kirchlicher Beheimatung“. Diese soziale Vielschichtigkeit kann in ländlichen Räumen leicht übersehen werden, wenn sich die kirchliche Arbeit nur in wenigen bestimmten alters bzw. milieuspezifischen Bevölkerungsgruppen vollzieht. Eine Vernetzung kirchlicher Arbeit und Strukturen ist hier notwendig, um dieser Pluralität entsprechen zu können.

Zu der allgemeinen wie kirchlichen Beheimatung leistet die FestKultur in ländlichen Räumen einen wichtigen Beitrag. Feste haben - wie oben ausgeführt - eine elementare Beziehung zur Religion, die sich bei vielen Feiern im ländlichen Raum zeigt. Oft gehen weltlicher und kirchlicher Festanlass dabei ineinander über. Werden Feste und kirchliche Religiosität voneinander getrennt, so bedeutet dies in aller Regel einen kulturellen Verlust für beide Seiten. Eine wichtige Aufgabe besteht daher in der sorgfältigen wechselseitigen Pflege dieser Beziehung. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Festkultur verarmt und den Gefahren der Selbstbanalisierung bzw. Kommerzialisierung erliegt - und dass umgekehrt die kirchliche Religiosität freudlos, blass und lebensarm wird. Eine kirchlich verankerte und sorgfältig gepflegte Festkultur ist in missionarischer Hinsicht bedeutsam: Durch sie können auch kirchlich distanzierte Menschen niederschwellig in Kontakt zur Kirche und zum Pfarrer treten; es werden Menschen verschiedener Milieus und Altersstufen erreicht; die Kirchengemeinde pflegt die Beziehung zu wichtigen kommunalen Vereinen und Institutionen und wirkt medial folgenreich in der Öffentlichkeit. Bei der Kooperation bedarf es dabei eines klaren kirchlichen Profils und einer mutigen Offenheit und kreativen Gestaltungskraft, das Evangelium auch außerhalb gewohnter Kontexte angemessen und glaubhaft zu kommunizieren.

Im Zusammenhang mit Beheimatung in ländlichen Räumen ist auch die Rolle der Land und Forstwirtschaft zu bedenken. Innerhalb der Landwirtschaft hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten ein Strukturwandel vollzogen, der sich weiter fortsetzt. Viele agrarische Betriebe wurden eingestellt, andere haben den Weg des Größenwachstums gewählt, ihre Produkte verändert, sich auf ökologischen Landbau umorientiert oder die Vermarktung neu ausgerichtet. Der Anteil der Landwirtschaft an der wirtschaftlichen Produktion in den ländlichen Räumen hat dabei insgesamt abgenommen. Zugleich gibt es ein zunehmendes allgemeines Bewusstsein für die Bedeutung hochwertiger Nahrungsmittel und ökologischer Fragen. Auch die Forstwirtschaft ist ihrerseits unter einen gestiegenen Wirtschaftlichkeitsdruck geraten. Es haben sich neue Nutzungskonzepte aufgetan, wie etwa die regenerative Energieerzeugung.

Land und Forstwirtschaft tragen - unabhängig von ihrem prozentual errechneten Anteil an der Wirtschaftsleistung - wesentlich zum Kulturwert einer Landschaft bei. Ein ländlicher Raum mit brachen Äckern und undurchforsteten Wäldern verliert für die dort ansässigen Bewohner wie für Urlauber und Besucher an Attraktivität. Umgekehrt leistet eine ökologisch verantwortete Land und Forstwirtschaft einen wichtigen Beitrag zum Gefühl der Beheimatung in einem ländlichen Raum. Die landwirtschaftsbezogene Beheimatung ist mit der kirchlichreligiösen eng verwoben, da „Heimat“, wie oben beschrieben, stets ein mehrdimensionales Phänomen darstellt.

Berggottesdienste, Gottesdienste im Grünen oder auf Höfen erschließen religiöse Erfahrungsräume; Landwirtschaft und Kirchengemeinde arbeiten bei Gemeinde oder Erntedankfesten eng zusammen; das Schöpfungsthema wird in Kindertagesstätten, Schulen und kirchlichem Unterricht vielfach in Kooperation mit Bauernhöfen, BioLäden und Forstämtern erschlossen; die Erfahrungen, die Menschen in der land und forstwirtschaftlich gepflegten Natur machen, stellen einen wichtigen Bezugspunkt christlicher Glaubensdeutung dar; nicht zuletzt zeichnet sich die Arbeit der Pfarrerin bzw. des Pfarrers durch eine bewusste Teilhabe an der ländlichen und landwirtschaftlichen Erfahrungswelt aus.

Gemeindebild
In ländlichen Räumen gehört die Ortsgemeinde (Parochie) zur weithin vorherrschenden Strukturform kirchlicher Arbeit. Wenn von „Kirchengemeinde“ die Rede ist, so ist diese territoriale Organisationsform selbstverständlich mitgedacht: Zur Gemeinde gehört, wer Kirchenmitglied ist und vor Ort seinen ersten Wohnsitz hat. Die Dominanz der Ortsgemeinde im ländlichen Raum macht einen wichtigen Unterschied zur kirchlichen Arbeit im städtischen Kontext aus. In ihr spielen neben den Ortsgemeinden andere Gemeindeformen - Personalgemeinden, Institutionsgemeinden, Profilgemeinden, Bekenntnisgemeinden, situative Gemeinden auf Zeit u.a. - eine wichtige und in ihrer Bedeutung zunehmende Rolle. Das Verhältnis von kirchlicher Arbeit in ländlichen und städtischen Kontexten wird daher oft von der spannungsvollen Beziehung parochialer und funktionaler Arbeit überlagert. Der Grund für die starke Präsenz der Ortsgemeinden in ländlichen Räumen hängt dabei - neben anderen, auch historischen Gründen - mit dem schwächeren Grad der Besiedlung und der Hochschätzung der Ortsnähe in der kirchlichen Arbeit zusammen.

Längst hat sich jedoch die Situation der Ortsgemeinden auch in den ländlichen Räumen verändert. In strukturschwachen Räumen hat sich der Zuständigkeitsbereich der Pfarrämter so stark ausgeweitet, dass die Hauptamtlichen einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit im Auto zubringen und bei der ortsnahen Gewährleistung von Grundvollzügen kirchlichen Lebens an ihre Grenzen stoßen. In anderen Räumen haben sich faktisch „unter der Hand“ Parallelstrukturen zur parochialen Organisation ausgebildet. Das belegt etwa die zunehmende Zahl von Amtshandlungen in anderen Gemeinden, von Umpfarrungen, von Profilbildungen in den Gemeinden, von Schwerpunktbildungen und Kooperationen auf Kirchenkreisebene oder von der regelmäßigen Teilnahme an den Gottesdiensten, Chören und Angeboten anderer Gemeinden.

Ohne die breite und z.T. kontrovers geführte Diskussion um das Verhältnis von Parochie und anderen Gemeindeformen hier im einzelnen aufzunehmen, sollen hier einige Leitlinien benannt werden, die für die Entwicklung des Gemeindebildes in ländlichen Räumen unter den aktuellen Herausforderungen wichtig sind.

Die im Zusammenhang kirchlicher Finanz und Stellenkürzungen regelmäßig wiederkehrende Kontroverse parochiale kontra funktionale Stellen erscheint im Blick auf die anstehenden Fragen wenig hilfreich. Es geht nicht um die Konkurrenz zweier bisheriger Organisationsformen, die oftmals unverbunden nebeneinander her existiert haben, sondern um die Entwicklung neuer Strukturen, die den veränderten Bedingungen Rechnung tragen. Eine solche Weiterentwicklung der Selbstorganisation kirchlicher Arbeit setzt voraus, die Stärken der jeweiligen Strukturansätze auf intelligente Weise zu verknüpfen. Dabei gilt es in allen kirchlichen Tätigkeitsbereichen zu entfalten, worin der Gemeindebezug der jeweiligen Arbeit besteht, wie sie innerkirchlich auf die Arbeit der anderen bezogen ist und wie sie so zur Erfüllung des gesamtkirchlichen Auftrages beiträgt. Theologisch formuliert muss es daher das Kriterium für die Strukturüberlegungen sein, den kirchlichen Auftrag von der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus „an alles Volk“ möglichst gut und effizient umzusetzen. Kirchliche Strukturen sind dabei nach evangelischer Auffassung weder gleichgültig noch religiös vorgegeben, sondern haben sich vielmehr an ihrer Zweckdienlichkeit für diesen Verkündigungsauftrag im umfassenden Sinne zu legitimieren. Dem korrespondiert die Tatsache, dass die meisten Menschen - Kirchenmitglieder wie Konfessionslose - die Frage, wie die Kirche ihre Arbeit organisiert, überhaupt nicht wahrnehmen. Es geht darum, diese Menschen außerhalb der so genannten „Kerngemeinde“ in der Vielfalt ihrer Milieus, Lebensstile, Frömmigkeitsformen und Altersstufen durch kirchliche Arbeit - Gottesdienst, Seelsorge, Diakonie, Bildung, Öffentlichkeitsarbeit - überhaupt zu erreichen und ihnen Erfahrungsräume christlichen Glaubens zu eröffnen. Das setzt eine Pluralisierung und Weiterentwicklung der bestehenden Gemeindeformen voraus. Es braucht in ländlichen Räumen verschiedene, konzeptionell aufeinander abgestimmte Gemeindestrukturen, die es ermöglichen, dass Menschen auf verschiedene Weise in der Kirche sind und ihren Glauben leben können - und dass Menschen neu durch die Kommunikation des Evangeliums erreicht werden. Wie diese aufeinander abgestimmten „regionalen GemeindestrukturEnsemble“ aussehen, hängt von den Gegebenheiten des jeweiligen ländlichen Raumes ab. Die Kooperation auf KirchenkreisEbene wird hier notwendig an Bedeutung gewinnen. Ein unverbundenes Nebeneinander einzelner Ortsgemeinden und von Ortsgemeinden und funktionalen Diensten wird es nicht mehr geben können.

Kirchliche Mitarbeitende
Die kirchlichen Mitarbeitenden bilden die wichtigste „Wachstumskraft“, welche die Kirche besitzt. Die Verkündigung des Evangeliums kann sich zwar auf vielfältige Weise durch unterschiedliche Medien vollziehen, doch werden auch diese letztlich von und durch Menschen vermittelt. Und es gehört zu den wichtigen Einsichten der reformatorischen Tradition, dass das Evangelium als „Geschrei von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes“ (Luther) seinen angemessensten Ausdruck in der persönlichen, lebendigen Stimme eines Gegenübers findet. Dabei haben alle Christen den Auftrag, im jeweils eigenen Lebenszusammenhang durch ihr Leben, Reden und Handeln an der Verkündigung des Evangeliums mitzuwirken. Ob in der Familie, in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis, ob in der Schule, im Büro oder am Arbeitsplatz - jeder „weltliche Beruf“ und jede soziale Beziehung hat so nach protestantischer Auffassung immer auch die Dimension der geistlichen Berufung.

Die evangelische Kirche zeichnet sich als Volkskirche zugleich aber auch dadurch aus, dass ein aktives ehrenamtliches Engagement in der Gemeinde - so wichtig und notwendig dies für die Kirche insgesamt ist - keine Bedingung dafür darstellt, dass jemand zur Kirche und Gemeinde gehört. Und die Tatsache, dass sich jemand kirchlich nicht in wahrnehmbarer Weise engagiert - so wie die Mehrheit der Kirchenmitglieder -, darf nicht zu dem Schluss führen, dass ihm oder ihr Glaube oder Kirche nicht wichtig wären.

Insgesamt gibt es in der evangelischen Kirche eine beeindruckende Anzahl von ehrenamtlich bzw. freiwillig engagierten Menschen. Genaue Angaben sind hier wegen der Frage der Abgrenzung schwierig. Das Statistische Bundesamt geht von 4 Millionen Menschen aus, die sich in den beiden großen Volkskirchen freiwillig engagieren. Der Bereich der ehrenamtlichen bzw. freiwilligen Tätigkeit erstreckt sich dabei über ein weites Feld: Die Wahrnehmung von Prädikanten und Lektorenaufgaben, das Mitsingen oder Musizieren im Chor, die Mitarbeit im (Kinder) Gottesdienst, in Gruppen, Kreisen und bei Freizeiten, die praktische Unterstützung bei Festen, Veranstaltungen und Aktionen, das Gestalten und Verteilen des Gemeindebriefes, das Engagement in Kinder, Jugend, Frauen, Männer oder Seniorenarbeit, diakonische, seelsorgliche, ökologische und soziale Tätigkeiten, Besuchsdienste, Leitungstätigkeit auf Gemeinde, Kirchenkreis oder Landeskirchenebene, (religions) pädagogische Mitarbeit und Unterstützung in Kindergarten, Schule oder Konfirmandenunterricht - und vieles andere mehr. In vielen ländlichen Räumen hat sich durch die insgesamt schwächere öffentliche Infrastruktur eine besondere Kultur ehrenamtlicher Mitarbeit herausgebildet. Bürgergemeinde und Kirchengemeinde gehen dabei oft fließend ineinander über. Mit diesem Engagement verbindet sich oft ein hohes Maß an Selbständigkeit, Eigenverantwortung und auch Selbstbewusstsein.

Zugleich gibt es aber auch ländliche Räume, in denen die ehrenamtliche Arbeit vor erheblichen Problemen steht bzw. sich nur schwer entwickelt. Zu solchen Schwierigkeiten bei der ehrenamtlichen Arbeit in manchen ländlichen Räumen gehören: Der Pfarrer oder die Pfarrerin wird als Repräsentant der Kirche in einer universalen Zuständigkeit gesehen; das Potential für bestimmte Tätigkeitsbereiche ist in manchen Regionen geringer als im städtischen Kontext; die ehrenamtliche Tätigkeit ist von einem bestimmten sozialen Milieu besetzt (z.B. durch die alteingesessenen Dorfbewohner); es gibt - speziell in ostdeutschen Regionen - eine kaum ausgebildete bzw. abgebrochene Tradition kirchlicher Mitarbeit; manche kirchlich HochEngagierte werden immer wieder und für alle Bereiche beansprucht und auf die Dauer verbraucht; es fehlt z.T. an Wertschätzung, Würdigung, Begleitung, Fortbildung, Anteilgabe an Leitungsverantwortung und hinreichender Ausstattung der ehrenamtlichen Arbeit.

Wichtig im Blick auf die freiwillige bzw. ehrenamtliche Mitarbeit in der Kirche ist es, dass sie nicht billiger Ersatz für hauptamtliche Arbeit sein kann und darf - gleichsam eine strukturelle Notlösung aus finanziellem Druck. Es geht vielmehr um eine angemessene Umsetzung des evangelischen Verständnisses des allgemeinen Priestertums der Getauften und um eine möglichst effektive Gestaltung kirchlicher Arbeit. Zu den Aufgaben der Kirche gehört es entsprechend, die Kultur ehrenamtlicher bzw. freiwilliger kirchlicher Mitarbeit zu pflegen, zu fördern und weiterzuentwickeln. Das erfordert, an den oben genannten Defizitpunkten zu arbeiten. Angemessene Formen der Wertschätzung und Würdigung des Engagements sind zu entwickeln; die Hauptamtlichen müssen in der Gewinnung, Begleitung und Förderung von Ehrenamtlichen geschult werden; für die freiwillig bzw. ehrenamtlich Tätigen bedarf es eines attraktiven Tätigkeitsprofils und interessanter, qualitativ guter Fortbildungsmöglichkeiten; freiwillige bzw. ehrenamtliche Tätigkeiten benötigen klare, transparente und verlässliche Vereinbarungen als Basis - einschließlich Grenzen und Ende der Beanspruchung. Die Kultur freiwilliger und ehrenamtlicher kirchlicher Arbeit ist dabei in Beziehung zu setzen zu der allgemeinen Kultur öffentlichen Engagements im jeweiligen ländlichen Raum. Der Förderung freiwilliger und ehrenamtlicher Arbeit kommt im Blick auf die zukünftige Entwicklung der Kirche in ländlichen Räumen eine Schlüsselbedeutung zu. Ohne sie werden viele kirchliche Tätigkeiten nicht aufrecht zu erhalten sein; ihr Anteil am kirchlichen Leben wird insgesamt zunehmen. Das quantitative Verhältnis etwa von Pfarrerinnen und Pfarrern zu Prädikanten bzw. Lektoren wird sich deutlich verändern. Neben den bestehenden kirchlichen Ehrenämtern werden sich möglicherweise neue etablieren - etwa das eines ehrenamtlichen Gemeindekurators als kirchlichem Ansprechpartner und Verantwortungsträger vor Ort in schwach strukturierten ländlichen Räumen. Für die missionarische Öffnung der Kirche nach außen bietet das Element der freiwillig bzw. ehrenamtlich Tätigen große Chancen - sowohl im Hinblick auf die Mitarbeitenden selbst wie für die Ansprechbarkeit anderer Milieus, Alterstufen und Zielgruppen. Dazu gilt es die in der Kirche verbreitete Delegationsspirale von Aufgaben und Zuständigkeiten hin zu den Hauptamtlichen zu durchbrechen.

Nicht theologische neben bzw. hauptamtliche Mitarbeitende kommen in den Gemeinden in den Bereichen von Kindertagesstätten, Diakonie, Bürotätigkeit, Kirchenmusik, Kinder und Jugendarbeit, Reinigungs, Küster und Hausmeisterarbeiten vor. Die Ausstattung mit solchen Stellen ist in den verschiedenen ländlichen Räumen sehr unterschiedlich. In strukturschwächeren Räumen ist die Pfarrerin bzw. der Pfarrer für alle Belange zuständig - einschließlich Küster und Hausmeistertätigkeiten. In anderen kirchlichen Gestaltungsräumen gibt es eine entwickelte Arbeitsstruktur - zum Teil finanziert aus eigenen Gemeindemitteln -, die sich in Folge der zurückgehenden kirchlichen Finanzeinnahmen jedoch stark verändert. Insgesamt spielen die nichttheologischen hauptamtlichen Mitarbeitenden im Vergleich zu städtischen Kontexten eine wesentlich geringere Rolle in ländlichen Räumen. Dies trägt mit dazu bei, dass die kirchliche Arbeit etwa für die Pfarrerinnen und Pfarrer ein deutlich anderes Profil hat: Die Arbeit ist im Blick auf die Entlastungsstrukturen weniger attraktiv, andererseits beinhaltet sie ein geringeres Maß an Leitungsverantwortung und Koordinationsaufwand. Die Stellen der nichttheologischen hauptamtlichen Mitarbeitenden werden in den ländlichen Räumen auf absehbare Zeit aus Finanzgründen tendenziell weiter abnehmen. Die bestehenden Möglichkeiten zu einer Kooperation in größeren Räumen etwa im Bereich von Kinder/Jugend oder Büroarbeit sollten daher genutzt werden. In anderen Feldern sind die Chancen für eine Umstrukturierung jedoch gering und es werden Tätigkeiten freiwillig wahrgenommen oder aufgegeben werden müssen. Die vorhandenen nichttheologischen Mitarbeitenden sind der Gemeinde oft noch in anderen Bereichen ehrenamtlich verbunden. Wie bei den ehrenamtlich Engagierten bedarf es auch im Blick auf die nichttheologischen Mitarbeitenden im Haupt bzw. Nebenamt einer Kultur der Würdigung und Wertschätzung, es bedarf guter Fortbildung und Begleitung - und es bedarf einer positiven Identifikation mit der Institution Kirche. Die Mitarbeitenden haben sich in aller Regel bewusst dafür entschieden, bei der Kirchengemeinde zu arbeiten. Dies gilt es aufzunehmen, zu pflegen und zu entfalten, da die Sekretärin wie der Erzieher, die Küsterin wie der Hausmeister, die Diakonin wie der Organist wesentlich zu dem Bild von Kirche nach außen beitragen und mit ihrer Tätigkeit einen wichtigen Beitrag zum missionarischen Wirken leisten.

Der Pfarrberuf nimmt gegenwärtig eine Schlüsselstellung in der Wahrnehmung des kirchlichen Verkündigungsauftrages ein - und er wird dies auch in Zukunft tun. Dafür sprechen nicht nur das hohe gesellschaftliche Ansehen und die Bedeutung, in der er von Kirchenmitgliedern wie Konfessionslosen allgemein als der Repräsentant von Kirche schlechthin gesehen wird. Dies gründet theologisch vor allem in der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung, welche die Pfarrer/ innen auf Grund ihrer eingehenden theologischen Ausbildung und ihrer ordentlichen Berufung (Ordination) stellvertretend für die Gemeinde wahrnehmen. Vor allem in ländlichen Räumen nimmt die Pfarrerin bzw. der Pfarrer in der Kirchengemeinde wie in der Bürgergemeinde eine Sonderstellung ein.
Das Profil des Pfarrberufs weist in den ländlichen Räumen dabei einige Besonderheiten und Akzentuierungen im Vergleich zum städtischen Kontext auf. Dazu gehören etwa die Bereitschaft zum Leben als öffentliche Person in einer „Gesellschaft des SichKennens“, die Fähigkeit zu volksnaher, unmittelbarer Begegnung, ein Verständnis für agrarkulturelle Prägungen und Traditionen des Raumes, die aktive Teilhabe am Gemeinschaftsleben vor Ort, praktische Gestaltungskompetenz in Bezug auf die schwächer ausgeprägte allgemeine und kirchliche Infrastruktur, eine lebenspraktische, nichtakademische Sprache und Vermittlungsgabe, die Freude am „Leben auf dem Land“ und mit den Menschen des ländlichen Raumes. Die Arbeit zeichnet sich durch intensivere Belastung in den Festzeiten des Kirchenjahres und durch eine stärkere „Alleinstellung“ aus. Dieses spezielle Profil wird - je nach persönlicher Veranlagung, eigener Prägung und Vorlieben - als unterschiedlich attraktiv empfunden. In jedem Fall stellt der Wechsel nach dem universitären Studium im großstädtischen Kontext in eine ländliche Pfarrstelle einen auch lebensweltlich tiefgreifenden Einschnitt dar. Dies wird vor allem von Ehepartnern öfters als schwierig erfahren. Andere Angehörige erfahren gerade das Landleben auf Grund von großzügigem Wohnraum, Naturverbundenheit, persönlichem Kontakt und familienfreundlicher Lebensweise als anziehend. Eine wichtige kirchenleitende Aufgabe besteht darin, geeigneten theologischen Nachwuchs aus ländlichen Räumen zu gewinnen, die spezifische Attraktivität des Pfarrberufs auf dem Land zu pflegen und Pfarrerinnen und Pfarrer entsprechend ihren Kompetenzen und Präferenzen einzusetzen. Im Blick auf ländliche Räume muss kirchenleitend entschieden werden, wie viele kirchliche Gemeinden und Predigtstätten verantwortlich von einer Pfarrerin, einem Pfarrer betreut werden können und wo z.B. die Obergrenze von gottesdienstlichen Belastungen an einem Wochenende und vor allem an den Feiertagen liegt.

Unter den veränderten Rahmenbedingungen und Zielsetzungen kirchlicher Arbeit wird sich das Tätigkeitsfeld der Pfarrerinnen und Pfarrer deutlich verändern. Die missionarische Offenheit nach außen, religiöse, theologische und spirituelle Vermittlungsfähigkeit, die Kooperation mit Kollegen, die Gewinnung, Begleitung und Ausbildung von Ehrenamtlichen, die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Milieus und Lebensstilen umzugehen u.a. werden in Zukunft eine zunehmende Bedeutung im Pfarrberuf spielen. Dem muss die Aus, Fort und Weiterbildung Rechnung tragen. Vor allem muss dabei auch klar benannt werden, welche Aufgaben die Pfarrerinnen und Pfarrer in Zukunft lassen sollen (z.B. im Bereich von Verwaltung, in der kerngemeindlichen Betreuungskultur von Gruppen und Kreisen, in der Universalzuständigkeit für alle kirchlichen Angelegenheiten). Dies ist notwendig, um die Pfarrerinnen und Pfarrer nicht mit neuen Aufgaben zusätzlich zu den bestehenden zu belasten, sondern um sie vielmehr ihrer Ausbildung und Kompetenz gemäß einzusetzen.

Wichtiger als die vieldiskutierte Frage, wie viele Pfarrstellen es in Zukunft geben wird, ist die Frage, was die Pfarrer und Pfarrerinnen inhaltlich tun sollten und was nicht.

Aus den skizzierten theologischen Zielsetzungen und den unterschiedlichen Typen von kirchlichen Situationen in ländlichen Räumen lassen sich nun verschiedene Strategien für das kirchliche Handeln im jeweiligen Kontext entwickeln. Die im folgenden vorgestellten Strategien zeigen ein Spektrum prinzipieller Handlungsmöglichkeiten auf, die sich je nach Kontext kombinieren, verändern und erweitern lassen.


b) Strategien

1. Strategie: Gewährleistung von Grundvollzügen kirchlichen Lebens

• Beschreibung: Die erste Strategie zielt darauf, auch in dezidiert strukturschwachen ländlichen Räumen bei zurückgehenden kirchlichen Ressourcen die Grundvollzüge kirchlichen Lebens verlässlich zu gewährleisten und perspektivisch zu sichern. Die mit dieser Strategie verbundene Zielsetzung ist in zweifacher Hinsicht abzugrenzen. Sie unterscheidet sich einerseits von der (als Schlagwort stark verbreiteten) handlungsleitenden Vorstellung eines „Rückzugs aus der Fläche“. Zielsetzung der hier skizzierten Strategie ist es dagegen, das Entstehen von kirchlichen Brachlandschaften, von Regionen ohne kirchliche Präsenz gerade zu verhindern. Andererseits steht sie aber auch einem strukturkonservativen Ansatz entgegen, der versucht, kirchliche Präsenz in einer bestimmten, letztlich überdehnten Organisationsform festzuschreiben. Auf Grund der massiven Strukturveränderungen führt dieser nämlich eher dazu, die kirchliche Arbeit in einer Region auf längere Sicht insgesamt zu gefährden. Die Intention der hier vorzustellenden Strategie versucht dagegen, die Strukturen kirchlicher Präsenz zu verändern und zu reduzieren, um sie so langfristig zu sichern.


• Einzelne Elemente: Zu den Grundgedanken dieser Strategie gehört: die Benennung von elementaren Grundvollzügen kirchlichen Lebens, die es in jedem Fall zu gewährleisten gilt; das Aufgeben von darüber hinausgehenden Tätigkeiten (von Hauptamtlichen); die Umstellung von einer Versorgungs zu einer Beteiligungsmentalität (Bedeutung Ehrenamtlicher); die Schaffung einer verlässlichen und auf längere Sicht stabilen Form kirchlicher Präsenz.

Dies wird nur möglich sein, wenn zunehmend mehr Lektorinnen und Lektoren, Prädikantinnen und Prädikanten stärker als bisher in die Arbeit eingebunden sind, sie zu ihrem Dienst gut ausgebildet werden und ihre Tätigkeit begleitet und gewürdigt wird. Das betont auch das Impulspapier des Rates der EKD.

Die Frage, was im Einzelnen zu den elementaren Grundvollzügen kirchlichen Lebens gehört, wird je nach regionalen Gegebenheiten und persönlichem theologischen Urteil sicher unterschiedlich beantwortet werden. Aus allgemeiner Sicht zählen zu den elementaren Vollzügen:

1. eine regelmäßige, verlässliche gottesdienstliche Feier: Sie muss nicht im wöchentlichen Rhythmus, nicht als agendarischer Gottesdienst und nicht notwendig am Sonntag stattfinden. Sie wird - mit Ausnahme von großen Festen und zentralen lokalen Ereignissen - nur an wenigen Orten von Hauptamtlichen gestaltet werden können. Beim Fehlen von Prädikanten bzw. Lektoren besteht die Möglichkeit von „Gottesdienstkernen“ ohne die Beteiligung von Leitungspersonen. Wichtig ist es, die Kontinuität und Verlässlichkeit der gottesdienstlichen Feiern zu gewährleisten.

2. ein kirchlicher Raum als Identifikationspunkt und Erfahrungsraum des Glaubens: Der Erhaltung der Dorfkirchen kommt in dieser Hinsicht eine zentrale Bedeutung zu. Mit ihnen verbinden sich Dorfidentität wie biographische Kirchenbindung. Lokale Kräfte sind zu ihrem Erhalt zu mobilisieren (z.B. KirchbauVereine). Sollten sie dennoch finanziell nicht zu halten sein, bedarf es anderer geeigneter, dauerhafter kirchlicher Orte, die „geistlich durchlebt“ sind.

3. die Präsenz einer kirchlichen Ansprechperson vor Ort: Dies werden in den strukturschwachen ländlichen Räumen an vielen Orten nicht Hauptamtliche sein können bzw. sind es schon jetzt nicht mehr. Gleichwohl ist es wichtig, dass die Kirche ein bekanntes „Gesicht“ hat (z.B. Kirchenälteste) und geklärt ist, wer als Ansprechpartner sowohl für Gemeindeglieder als auch für die hauptamtlichen Mitarbeitenden zur Verfügung steht, Informationen weitergibt oder z.B. den Schlüssel für die Kirche hat.

4. die Durchführung von Amtshandlungen durch eine bekannte Pfarrerin, einen bekannten Pfarrer vor Ort: Die besondere biographische wie kirchliche Bedeutung der Kasualien legt es unbedingt nahe, diese qualitativ zu sichern und von Pfarrerinnen und Pfarrern durchführen zu lassen. Sie finden (mit den dazugehörigen Vor/ Nachbesuchen) vor Ort statt. Die Zuständigkeit ist klar zu regeln und transparent zu kommunizieren, damit man die „eigene Pfarrerin“, den „eigenen Pfarrer“ kennt. Eine gute Erreichbarkeit in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht ist zu gewährleisten.

• Strukturelle Konsequenzen: Die Strategie beinhaltet eine Reduzierung und Neuordnung kirchlicher Arbeitsformen. Zu den wichtigsten Strukturveränderungen gehört:

- Kirchliche Gebäude - mit Ausnahme des zentralen Kirchenraumes (s.o.) - sollten verkauft bzw. umgenutzt werden, wenn sie sich finanziell nicht weitgehend selber tragen. Wenn ein Pfarrhaus nicht für hauptamtlich Tätige benötigt und deshalb vermietet wird, könnte die Möglichkeit, im ehemaligen Pfarrhaus zu wohnen, eine Form der Anerkennung für ehrenamtliche Mitarbeit sein.

- Eine eigene kirchliche Verwaltungseinheit sollte nur noch dort bestehen bleiben, wo auch tatsächlich Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden sind. Das bedeutet, die Selbständigkeit von kleineren Gemeinden dort aufzugeben, wo ihre Beibehaltung nicht unbedingt notwendig ist und nur Arbeitskraft bindet. Allgemein eine untere Grenze für Gemeindegrößen anzugeben, ist angesichts der unterschiedlichen Rahmenbedingungen nur schwer möglich. Deutlich ist jedoch, dass hier landeskirchliche bzw. regionale Leitgrößen abgestimmt und strukturpolitisch entsprechend gefördert werden sollten. Den Mitgliedern der bisherigen Leitungsgremien (Kirchgemeinderat, Kirchenvorstand, Presbyterium) können in der Übernahme der Verantwortung für das geistliche Leben am Ort bzw. in der Mitarbeit im regionalen Leitungsgremium differenzierte Möglichkeiten aktiver Partizipation eröffnet werden. Dies kann der individuellen Kompetenz und den Interessen möglicherweise stärker entsprechen als die frühere Kirchenvorstandsarbeit. Die Gemeindestrukturen müssen hier daran gemessen werden, in wie weit sie der kirchlichen Auftragserfüllung dienlich sind.

- Die Tätigkeit der Pfarrer/innen konzentriert sich auf die Qualifizierung der Ehrenamtlichen, auf die Gestaltung der Kasualien, auf die Erreichbarkeit an einem Ort in der Region und auf die Feier der zentralen Gottesdienste im Kirchenjahr. Es findet keine Betreuung von Kreisen und Gruppen vor Ort statt. Bildungsangebote (z.B. Konfirmandenunterricht, Christenlehre) finden ebenfalls an einem zentralen Ort in der Region statt.

- Kirchliche Präsenz vor Ort wird durch eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit im Bezug auf die lokale Presse und Medien gepflegt (Bekanntmachungen und Informationen in Gemeindebriefen, in kommunalen Amtsblättern, in Lokal/Regionalzeitungen).
Bei dieser Strategie steht vor allem die Situation ländlicher Räume vom Typ 1 und 2 vor Augen, sie sind in gestufter Abwandlung aber auch für andere ländliche Räume ohne kirchliche Wachstumsperspektive von Bedeutung. Allerdings sei deutlich darauf hingewiesen, dass die skizzierte Strategie einiges kirchenpolitisches Konfliktpotential birgt. Manchen werden die Veränderungsvorschläge zu weit gehen, anderen möglicherweise nicht weit genug. Für die angemessene Beurteilung erscheint es daher geboten, die situative Herausforderung noch einmal zu benennen, die hier bewältigt werden soll: Es geht um die Gewährleistung der Grundvollzüge kirchlichen Lebens in strukturschwachen Regionen unter der Voraussetzung des massiven Rückgangs kirchlicher Ressourcen insgesamt. Bei einer fehlenden kirchlichen Neustrukturierung besteht die Gefahr, kirchliche Kräfte auf wenig fruchtbaren Arbeitsfeldern zu verschleißen. Vor allem würde sich die Kirche der Möglichkeit berauben, an anderen Stellen ihr Engagement zu verstärken. Wichtig erscheint schließlich zu beachten, dass viele der Veränderungen vor allem die innere Struktur kirchlicher Arbeit betreffen und außerhalb des Kreises der Mitarbeitenden bzw. der Kerngemeinde oft gar nicht unmittelbar wahrgenommen werden.


2. Strategie: Spezieller Arbeitsschwerpunkt -
 bei Gewährleistung von Grundvollzügen kirchlichen Lebens

• Beschreibung: Die zweite Strategie knüpft hinsichtlich der Gewährleistung von Grundvollzügen kirchlichen Lebens an die erste Strategie an, verbindet sie jedoch mit einer Schwerpunktsetzung in einem kirchlichen Handlungsfeld von besonderer Bedeutung. Die Grundvollzüge kirchlichen Lebens können bei diesem Ansatz ausgebaut und ergänzt werden.

• Einzelne Elemente: Das wichtigste Beispiel solch eines strukturschwachen Raumes mit einem kirchlichen Handlungsfeld von besonderer Bedeutung sind ländliche Regionen mit einem hohen saisonalen Besuch von Touristen. Die Begleitung von Menschen in dieser (jahres)zyklisch wichtigen Zeit der Erholung, der Veränderung, der Neuorientierung, der Erlebnis und SinnSuche stellt eine wichtige kirchliche Aufgabe dar. Auch in ansonsten strukturschwachen Regionen muss Kirche hier lebensweltlich nahe bei den Menschen sein, da viele Menschen gerade dann offen für „Kirche“ sind. Da es sich bei der Begleitung von Urlaubern um eine gesamtkirchliche Aufgabe handelt, bedürfen finanzschwächere Landeskirchen bzw. Kirchenkreise entsprechender Unterstützung, um sie zu bewältigen (z.B. Finanzierung saisonaler Mitarbeiter). Die Einbeziehung der Besucher bzw. Übernachtungszahlen an Urlaubsorten in die Berechnung von Stellen erscheint dabei ein sinnvoller Weg, diese Arbeit strukturell stärker zu berücksichtigen.

Weitere Beispiele spezieller kirchlicher Arbeitsschwerpunkte in strukturschwachen ländlichen Räumen sind etwa diakonische Tätigkeiten und Bildungseinrichtungen. Gerade in strukturschwachen Räumen kann die Beratung, Hilfe und Begleitung von Menschen ein - auch in missionarischer Hinsicht - herausgehobenes Tätigkeitsfeld von Kirche sein. Welche Form das diakonische Engagement annimmt - ob qualifizierte Beratung, ehrenamtliches Netzwerk, Diakoniestation oder anderes -, kann dabei sehr unterschiedlich aussehen. Der Anspruch kann und sollte hierbei sicher nicht sein, den Rückbau sozialer Infrastruktur kirchlich kompensieren zu wollen. Zugleich können sich in dieser Art ländlicher Räume aber Aufgaben und Chancen für ein zukunftsrelevantes diakonisches Handeln der Kirche auftun.

Die Bildungsarbeit ist als ein weiteres Feld in diesem Zusammenhang zu nennen. Die evangelische Kirche ist durch ihre Gemeinden und Kirchenkreise einer der großen Träger von Kindertagesstätten. In vielen ländlichen Räumen sind sie als einzige öffentliche Institution für den Bereich der Elementarbildung zuständig. Zudem spielen kirchliche Schulen auf dem Land - besonders in ostdeutschen, vermehrt aber auch in westdeutschen Landeskirchen - eine wichtige Rolle. Durch sie kann Kirche auch in strukturschwachen Regionen einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung einer Region nehmen. Angesichts der zunehmenden Zeit, die Kinder und Jugendliche in der Institution Schule zubringen, liegt hier ein besonderes Potential. Auf Grund der allgemein langen Schulwege und zunehmenden Ganztagsangebote sind Kinder und Jugendliche in strukturschwachen ländlichen Regionen in der Woche ansonsten kaum noch präsent. Auch die Bedeutung der Kindergärten (als soziale und bildungsbezogene Einrichtungen) und von erwachsenenpädagogischen Bildungsinstitutionen im ländlichen Bereich (etwa den ländlichen Heimvolkshochschulen, Einrichtungen der Familienbildung, Akademien, kirchlichen Kollegs oder Zentren von Spiritualität und Einkehr), die eine besondere Ausstrahlung in eine große Region haben, gilt es hier in perspektivischer Hinsicht zu betrachten.

Die Aufzählung der drei Arbeitsfelder hat exemplarischen Charakter und ist nicht ausschließend gemeint. Entscheidend für die Beurteilung ist die herausragende missionarische Bedeutung eines Arbeitsfeldes für die Zukunft von Kirche.

• Strukturelle Konsequenzen: Die speziellen Arbeitsschwerpunkte gilt es kirchlich zu festigen und - gegenläufig zur Reduzierung in anderen Bereichen - zum Teil sogar auszubauen. Die „selektive Investition“ in diesen Feldern ermöglicht es, die entsprechenden kirchlichen Entwicklungsmöglichkeiten wahrzunehmen und zu realisieren. Diese Arbeitsfelder sind strukturell gut mit den anderen kirchlichen Tätigkeiten in dem ländlichen Raum zu vernetzen, um die Entwicklungsimpulse aus diesen Bereichen aufzunehmen und fruchtbar zu machen. Insgesamt ist der offene, missionarische Charakter der Tätigkeiten in diesen speziellen Arbeitsfeldern zu beachten und in einer profiliert kirchlichen bzw. evangelischen Gestaltung der Arbeit umzusetzen.
Bei dieser Strategie besteht ein besonderer Bezug zu der Raumkategorie Typ 2.


3. Strategie: Lebensraumbezogene Netzwerkgemeinden

 Beschreibung: Für ein gewisses Spektrum ländlicher Räume bietet sich ein System von lebensraumbezogenen NetzwerkGemeinden an. Die Strategie bezieht sich vor allem auf Räume in der Peripherie bzw. im weiteren Umfeld der Ballungszentren, in denen es Verdichtungsansätze in Unter/Mittelzentren gibt und mit ihnen verbundene Dörfer und Siedlungen als Gestaltungsraum. Ziel ist es jeweils, die kirchliche Arbeit an den verschiedenen Orten zu vernetzen und so missionarische Handlungsspielräume zu eröffnen, um Menschen kirchlich neu zu erreichen. Im Unterschied zu den städtischen Kontexten, in denen die Gemeindenetzwerke stärker themenbezogen arbeiten, bieten sich in ländlichen Räumen eher lebensraumbezogene Ansätze an. Die Gestaltung solcher Netzwerke wird je nach den regionalen Bedingungen unterschiedlich sein. Es wird zentrale Veranstaltungen geben, die an einem Ort für den gesamten kirchlichen Gestaltungsraum durchgeführt werden (z.B. KonfiCamp oder regionale KonfiTage). Es wird einheitlich entwickelte Konzepte geben, die parallel an verschiedenen Orten durchgeführt werden. Wichtig bei dem Ansatz ist die intensive Vernetzung der Gemeinden, die Flexibilisierung der Gemeindestrukturen an den verschiedenen Orten und die Zusammenführung von Kompetenzen und Mitarbeitenden in zentralen Gemeinden, die gegebenenfalls in einem regionalen GemeindeVerbund auch vertraglich geregelt werden kann.

• Einzelne Elemente: Zu den elementaren Bestandteilen des Zentrums eines solchen Gemeindenetzwerkes oder eines Gemeindeverbundes gehört:

1. die Zusammenarbeit mehrerer teamfähiger, einander ergänzender Hauptamtlicher;
2. eine eigenständige kirchliche Verwaltungseinheit (Kirchenvorstand/Presbyterium/ Kirchengemeinderat);
3. die in gewissen Bereichen stellvertretende Gestaltung eines gelingenden, ausstrahlenden kirchlichen Lebens;
4. die Verantwortungsübernahme für einen größeren kirchlichen Gestaltungsraum (Region);
5. die Konzentration der Kräfte und Ressourcen.

Die dazugehörenden Netzwerkgemeinden sind dementsprechend gekennzeichnet durch enge infrastrukturelle Vernetzung, durch eine Intensivierung des kirchlichen Lebens vor Ort und durch die Abgabe von Verwaltungsaufgaben und kompetenzen an das GemeindeNetzwerk und dessen Zentrum.

Zielpunkt einer solchen Gestaltung von Gemeindenetzwerken ist es - negativ formuliert -, ein verbreitetes „Kirchturmdenken“ zu überwinden, die selbstverstärkende DepressionsSpirale schlecht besuchter Angebote zu durchbrechen und dem „Ausbrennen“ von kirchlichen Mitarbeitenden auf Grund von unverbundenem Nebeneinanderherarbeiten entgegenzuwirken. Oder das gleiche positiv gefasst: die Übernahme gesamtkirchlicher Verantwortung zu stärken, ein attraktives kirchliches Leben in der Region zu ermöglichen und Freude an der haupt, neben und ehrenamtlichen Mitarbeit in der Kirche zu vermitteln. Durch positive SynergieEffekte können dabei neue Handlungsspielräume erschlossen werden, die notwendig sind, um kirchliches Wachstum zu fördern. In Regionen, in denen ein herausragender Zentralort fehlt, können gemeindliche Netzwerke (z.B. Gesamt/Zweckverbände) auch dezentral organisiert werden.

• Strukturelle Konsequenzen: Zur Umsetzung der Strategie ist die regionale Vernetzung zu stärken, indem zentrale Kompetenzen von den bisher unabhängigen Gemeinden auf das Gemeindenetz übertragen werden, das sich z.T. mit dem Kirchenkreis oder der Region decken dürfte. Das gilt für den Bereich der Anstellungsträgerschaft und der Gebäude bzw. Finanzverwaltung ebenso wie für die geistliche und inhaltliche Leitung. Leitungskompetente Vertreter/innen der verschiedenen Orte sind in dem zentralen Gremium zusammenzuführen, um die Interessen und Belange von allen wahrzunehmen und zu integrieren. Die Schaffung eines zentralen Leitungsgremiums anstelle einer Vielzahl kleiner Gemeindevorstände in den einzelnen Netzwerkgemeinden dient der strukturellen Verschlankung und der Bündelung von Kompetenzen. Die dabei frei werdenden personellen Kräfte (d.h. die früheren Vorstände der einzelnen Gemeinden, die nicht Teil des neuen Leitungsgremiums werden) können entsprechend ihren persönlichen Vorstellungen und Fähigkeiten zur Gestaltung des geistlichen Lebens vor Ort und in der Region tätig werden. Das System der Netzwerkgemeinden beinhaltet so die Möglichkeit, ehrenamtliches Engagement stärker zu spezifizieren und zu vernetzen. Insgesamt ist es wichtig, dass die Verbindung von Zentrum und einzelnen kirchlichen Orten keine rein formale bleibt, sondern mit geistlichem Leben gefüllt wird. Die angemessene Beachtung ortstypischer Traditionen ist dabei ebenso bedeutsam wie die Entwicklung und Förderung gemeinsamer Arbeitsfelder (z.B. Konfirmandenarbeit, Gemeindefeste, Projekte).
Dieser strategische Ansatz korrespondiert von seinen Voraussetzungen her speziell den Typen 35.


4. Strategie: Geistliche Zentren und besondere Wachstumsgemeinden

• Beschreibung: Anders als bei den eben beschriebenen Netzwerkgemeinden (mit und ohne Zentrum) geht es in der vierten Strategie um zwei andere Arten kirchlicher Entwicklungschancen in ländlichen Räumen:

- zum einen um geistliche Zentren wie z.B. besondere Orte (Kirchen, Klöster), Gemeinschaften (Kommunitäten) oder Einrichtungen (Schulen/Internate, diakonische Zentren, Bildungsstätten), die eine überregionale kirchliche Ausstrahlungskraft und missionarische Wirkung entfalten;

- zum anderen um besondere Wachstumsgemeinden, die von starken, ausstrahlenden Personen und engagierten Gemeinden getragen werden, ein spezielles Profil entwickelt haben und/oder durch überdurchschnittliche Wachstumsquoten eine besondere Bedeutung für die Kirche insgesamt besitzen (volkskirchlicher Modellcharakter). Zu solchen Wachstumsgemeinden gehören auch Gemeinden, die sich durch besondere Wachstumspotentiale auszeichnen (z.B. Zuzugsgebiete). Wichtig ist dabei, die Verbindung dieser und anderer „alternativer“ Gemeindeformen mit den Ortsgemeinden konstruktiv und wechselseitig bereichernd zu gestalten. Die unverbundene, z.T. konfliktbesetzte Beziehung verschiedener Gemeindeformen (z.B. funktional/parochial), die bisher an etlichen Orten anzutreffen ist, bedeutet letztlich für beide Seiten einen Verlust und ist gesamtkirchlich nicht zu verantworten.

• Einzelne Elemente: Geistliche Zentren und Wachstumsgemeinden zeichnen sich gemeinsam dadurch aus, dass sie als Entwicklungskerne innerhalb einer Region, eines Kirchenkreises bzw. einer Landeskirche fungieren. Ihr wesentlicher Unterschied besteht darin, dass es bei den geistlichen Zentren um ein extraordinäres, nur an singulären Orten praktizierbares kirchliches Wirken geht, bei den Wachstumsgemeinden dagegen um ein exemplarisches, multiplikationsfähiges Wirken der Kirche.
Wichtig ist in beiden Fällen die Einbettung in die Region, um die Wirkung positiv zu entfalten. Vor allem aber ist auf den volkskirchlichen Charakter der Zentren und Gemeinden zu achten. Auch wenn kirchliches Handeln hier in außergewöhnlicher bzw. exemplarischer Weise erfolgt, so steht es im Kontext und im Dienst der gesamten Kirchen und hat dem in der Gestaltung der Arbeit Rechnung zu tragen. Der Begriff der „binnenkirchlichen Ökumenizität“ bringt diesen Aspekt treffend zum Ausdruck.

• Strukturelle Konsequenzen: Gelingendes kirchliches Handeln ruft in der kirchlichen Binnenkultur z.T. neidvolle Reaktionen hervor. Kirchliches Wachstum wirkt schnell suspekt, überdurchschnittliches Engagement wird als Infragestellung der eigenen Person begriffen und entsprechend kritisch beurteilt, laue Durchschnittlichkeit zu spiritueller Demut stilisiert. Demgegenüber gilt es durch strukturelle Maßnahmen einen Beitrag zu einer veränderten kirchlichen Binnenkultur zu leisten. Kirchenleitungen sollten außerordentlichen Einsatz und Wirkung würdigen, produktive Anreize für Engagement setzen, die Starken stärken und einen konstruktiven Wettbewerb um die besten Ideen, Ansätze und Modelle fördern.

Die gezielte Ansiedlung und Unterstützung von geistlichen Zentren, Bildungseinrichtungen und Wachstumsgemeinden sollten ein Mittel gezielter landeskirchlicher Raumgestaltung sein. Entsprechend bedarf es eines kirchlichen Entwicklungsplanes für die verschiedenen Räume einer Landeskirche bzw. ihrer einzelnen Regionen, in denen die gezielte Ansiedlung und Förderung solcher Zentren eine wichtige Rolle spielt. Mittel für diese kirchliche Raumgestaltung ist zum einen eine gezielte Personalpolitik, in der wirkungsstarken Personen ein entsprechender Gestaltungsraum gegeben wird, zum anderen die Schaffung attraktiver und produktiver Arbeitsmöglichkeiten durch eine überdurchschnittliche finanzielle wie infrastrukturelle Ausstattung der Zentren und Gemeinden.

Beiden, geistlichen Zentren und Wachstumsgemeinden, kommt als Impulsgeber in ländlichen Räumen eine Bedeutung zu, die in der Regel über den binnenkirchlichen Bereich hinausgeht. Mit ihnen verbinden sich Aspekte wie die Steigerung der lebensweltlichen Attraktivität eines Raumes für Familien, die direkte bzw. indirekte Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten und die Pflege des sozialen Gemeinschaftsgefüges. Der Kirche wächst so eine raumpolitische Bedeutung zu, die sie selbstbewusst im Dialog mit politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kooperationspartnern deutlich machen sollte.

Die Strategie weist eine besondere Affinität zu den ländlichen Räumen mit kirchlicher Wachstumsperspektive auf (Typ 3,5,7), kann aber auch als gezieltes Mittel der Strukturgestaltung in entwicklungsschwachen Räumen eingesetzt werden.


5. Strategie: Vernetzte Kirchengemeinde im suburbanen Raum

• Beschreibung: Die fünfte und letzte der hier entfalteten Strategien zielt auf die suburbanen Räume, auf den Grenzbereich von „Stadt“ und „Land“. Diese ländlichen Räume sind wesentlich gekennzeichnet durch die Nähe zu den großen Zentren. Dem gilt es strategisch durch eine Einbindung der kirchlichen Arbeit in das Netzwerk des städtischen Umfeldes Rechnung zu tragen. Die Strukturen kirchlicher Arbeit sind den Strukturen und Rhythmen der Lebenswelt vor Ort anzupassen.

• Einzelne Elemente: Die Gemeinden im suburbanen Raum fungieren weithin als SchlafOrte der Großstädte und urbanen Zentren. Die Menschen pendeln zur Arbeit, Ausbildung, zum (größeren) Einkauf, in der Freizeit in die Stadt und wohnen ruhiger, preiswerter, gesünder draußen auf dem Land. Entsprechend sind die alltäglichen Abläufe durch das Pendeln zwischen den verschiedenen Orten geprägt. Die kirchliche Arbeit nimmt dies auf, indem sie ihr eigenes Handeln entsprechend der inneren Logik dieser Lebenswelten konzipiert. Die Angebote der InnenstadtKirchen werden nicht als Konkurrenz oder als zu kopierende Vorbilder verstanden, sondern als Bezugspunkte, denen man zuarbeitet und durch die die eigene Arbeit vor Ort entlastet wird. Die Gemeinden bieten ihrerseits Heimat im überschaubaren nahen Umfeld und kirchliche Präsenz und Angebote vor Ort. Sie konzentrieren ihre Arbeit auf die Handlungsfelder, in denen die lokale Nähe wichtig ist (z.B. Kindergarten, Altenarbeit, Wochenendangebote). Zugleich begleiten sie die Menschen in ihrem täglichen Pendeln durch entsprechende Angebote kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit. Gerade die wichtige Zeit des „auf dem Weg Seins“ zur Arbeit bzw. von der Arbeit gilt es mit Hilfe kreativer Formen kirchlicher Arbeit zu erschließen. Die Gemeinden konzentrieren sich insgesamt auf ein entwickeltes Angebot der Grundvollzüge kirchlichen Lebens und entlasten sich im Blick auf die weitere Arbeit durch die Kooperation mit den Profilgemeinden im Netzwerk.

• Strukturelle Konsequenzen: Wichtig für die Strategie ist die Förderung des kommunikativen Austausches und der gemeinsamen kirchlichen Identität von Innenstadt und Umlandsgemeinden. Diese sind durch feste und enge Kooperationsstrukturen zu gewährleisten. Dazu gehören etwa regelmäßige Treffen der Pfarrer/ innen und Hauptamtlichen, ein schneller und zuverlässiger Informationsaustausch, ein gemeinsames, wiedererkennbares Auftreten nach außen, ein finanzieller Ausgleich zwischen den Gemeinden, eine gemeinsam verantwortete Konzeption kirchlicher Arbeit, die gemeinsame Durchführung von Projekten. Zur Förderung des gesamtkirchlichen Bewusstseins gilt es auch hier die Anstellungsträgerschaft auf regionaler Ebene anzusiedeln. Den Verantwortlichen des Kirchenkreises (Dekan, Superintendenten u.a.) kommt die Aufgabe zu, die Entwicklung der stimmigen Gesamtkonzeption kirchlicher Arbeit im Netzwerk von Umland und Zentrum zu fördern und für dessen praktische Umsetzung zu sorgen.
Entsprechend der einleitenden Beschreibung legt sich diese Strategie speziell bei den Typen 6 und 7 nahe.


c) Ökumenische Zusammenarbeit in ländlichen Räumen

Eine übergreifende Bedeutung für alle ländlichen Räume kommt der Weiterentwicklung der ökumenischen Zusammenarbeit vor Ort zu, speziell der evangelischkatholischen Kooperation, aber auch der projektbezogenen Kooperation mit den evangelischen Freikirchen. Die beiden großen Volkskirchen stehen - trotz mancher unterschiedlicher Problemzuspitzung im Einzelnen und trotz deutlicher regionaler Unterschiede - insgesamt vor ähnlichen Herausforderungen. Die grundsätzliche Herausforderung ist es, mit weniger finanziellen und personellen Mitteln und unter veränderten allgemeinen Rahmenbedingungen eine einladende, ausstrahlungsstarke Kirche zu gestalten. Eine wichtige Möglichkeit dazu ist die Vertiefung und Ausweitung der Zusammenarbeit.

In vielen ländlichen Räumen gibt es langjährige Erfahrungen und positive Praxisbeispiele, wie solch ein evangelischkatholisches Zusammenwirken aussehen kann. Um nur einige Möglichkeiten zu nennen: Der anderen Konfession wird die eigene Kirche zur temporären gottesdienstlichen Nutzung überlassen; zum Teil werden Gemeindehäuser und gemeindliche Infrastruktur (z.B. Büro, Autos, Technika) gemeinsam getragen, genutzt und unterhalten; Gemeindebriefe werden zusammen publiziert; in Kindergärten und Schulen wird auf enge Weise kooperiert; es gibt gemeinsame Gottesdienste, Feiern, Projekte und Veranstaltungen; die Interessen der Kirchen werden gemeinsam nach außen vertreten; es existieren Kooperationen in der Trägerschaft von Einrichtungen und Personal. In dieser Hinsicht ist in vielen ländlichen Gemeinden ein reicher Schatz an langjährig gelebter Gemeinschaft vorhanden. Die Erfahrung gelebter Gemeinschaft vor Ort stellt einen zentralen Impuls für die allgemeine Entwicklung der evangelischkatholischen Ökumene dar.

In anderen ländlichen Räumen gestaltet sich die Zusammenarbeit deutlich schwieriger. Dies kann sehr unterschiedliche Gründe haben: historische Vorbelastungen, die Ungleichheit der beiden Partner in der Situation der Diaspora, fehlende Kooperationsbereitschaft bei einer der beiden Seiten oder bei beiden, negative Erfahrungen aus früherer Zusammenarbeit, der Druck zur verstärkten Profilierung u.a.
Die theologische Zielsetzung der ökumenischen Zusammenarbeit kann oder sollte es dabei nicht sein, bestehende Unterschiede der konfessionellen Traditionen zu nivellieren. Wohl aber geht es darum, die kirchentrennende Bedeutung der konfessionellen Unterschiede durch gelebte Gemeinschaft zu hinterfragen und auf Dauer auch theologisch mehr und mehr zu überwinden. Dazu braucht es den respektvollen Umgang mit faktisch bestehenden Differenzen ebenso wie die dankbare Offenheit für bestehende Gemeinsamkeit. Die praktizierte Gemeinschaft und das Zusammenleben zwischen evangelischen, katholischen, freikirchlichen oder orthodoxen Gemeinden ist - missionarisch gesehen - zugleich ein wichtiges Zeichen im Blick auf die Glaubwürdigkeit christlicher Verkündigung nach außen.

Die Vertiefung und Ausgestaltung der Zusammenarbeit bietet die große Möglichkeit, auch bei rückläufigen Einnahmen beider Kirchen eine einladende, attraktive Arbeit zu leisten. Sie bietet zugleich die Chance, voneinander im Blick auf eine offene Verkündigung des Evangeliums nach außen zu lernen. Die Zusammenarbeit sollte so gestaltet sein, dass sie insgesamt für beide Seiten einen Gewinn bedeutet. Gerade in sehr strukturschwachen Gebieten kann ein konzeptionell aufeinander abgestimmtes Handeln die tragfähige Basis dafür sein, dass Grundvollzüge kirchlichen Lebens auch in Zukunft vor Ort und lebensnah gewährleistet werden können oder dass Gemeindeneugründungen in ökumenisch abgestimmter Verantwortung erfolgen. Die Voraussetzung dafür sind ein wechselseitiges Vertrauen, eine inhaltliche Abstimmung und eine gute Kommunikation.

Die Intensivierung der ökumenischen Zusammenarbeit verträgt sich mit allen anderen fünf zuvor genannten Strategien und ist prinzipiell auf alle Typen ländlicher Räume anwendbar.

EKD-Text 87 als PDF-Datei

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