Präsenz als Währung der Seelsorge
Impulsreferat bei der Fachkonferenz Seelsorge und Beratung
1. Ausgangssituation – Sein oder Nicht-Sein: Seelsorge in Zeiten der Corona-Pandemie
Betty Ferrell, George Handzo, Christina Puchalski und William Rosa veröffentlichten im September 2020 in der Fachzeitschrift „Journal of Pain and Symptom Management“ einen Text zur Dringlichkeit von Spiritual Care bei der Behandlung von Patient*innen mit COVID-19. Der Artikel erschien noch vor der gewaltigen zweiten Welle von Infektionen in den USA. In einem Kernsatz formulieren die Autor*innen zur Versorgungssituation auf Intensivstationen: „for many, spiritual care is absent, given the very real limitations and demands“ (Betty Ferrell, George Handzo, Christina Puchalski, William Rosa (2020), The Urgency of Spiritual Care: COVID-19 and the Critical Need for Whole-Person Palliation, in: J Pain Symp Management 60:3, e7-e11).
Sie schildern Situationen, die uns allen inzwischen vertraut sein dürften, manchen leider aus eigener Erfahrung, manchen aus Erfahrungsberichten anderer oder aus unfreiwilliger aber nötiger Vorstellung: zum einen das maskierte Gesicht einer jungen Pflegekraft, die mit Gummihandschuhen ihr eigenes Smartphone vor das Gesicht eines sterbenden Patienten hält, um den Angehörigen wenigstens auf diese Weise einen Abschied zu ermöglichen. Immerhin. Zum anderen die, so nennen das die Autor*innen, unerträgliche Abwesenheit der Glaubensgemeinschaft und Angehörigen, die sich durch technische Mittel nicht ersetzen lässt. Abwesenheit ist das Stichwort, das hier qualifiziert wird als „unerträgliche“.
Zwischen Abwesenheit und Präsenz
Mit den Erfahrungsberichten aus der Zeit der Pandemie werden wir uns noch vielfach auseinandersetzen müssen. Ich will vier Beispiele anführen, die zwischen Abwesenheit und Präsenz changieren.
a) Präsenz des Gesundheitspersonals in Situationen der Ambivalenz: In der Washington Post erschien am 5. April 2020 ein Artikel über die Situation auf der Intensivstation im Maimonides-Krankenhaus von Brooklyn, New York (Lenny Bernstein, Jon Gerberg, A Brooklyn ICU amid a pandemic: patients alone, comforted by nurses and doctors, Washington Post vom 5.4.2020, zu finden auf der Seelsorge in Zeiten von COVID-19-Website ): Janet Perez ist dort als Krankenschwester tätig. Sie berichtet davon, dass man bei den ungewissen Verläufen nicht wisse, wie sich der Gesundheitszustand entwickle, ob eine Patientin überlebe oder sterbe. „‘Many covid patients pass away,‘ Perez said.‘ But you can’t determine that others won’t do well. . . That’s what we have to hold on to, is that hope that people will do better. And we have to treat them with the expectation that they will.’“
Die Herausforderung an die eigene Präsenz im Umgang mit den Patienten sei es, Hoffnung zu haben und zu vermitteln, dass es besser werden wird. Wie können sie das aber tun, wenn sie chronisch überlastet sind und neben der Versorgung auch der einzige Draht zwischen Patient*in und Angehörigen sind? Der Zeitungsartikel erzählt, dass vor jeder Schicht die Belegung zu einem Gebet zusammenkommt. Manchmal wird es von einem Juden, manchmal von einer Christin oder einem Muslim geleitet. Das jeweilige Gebet des Tages stammt aus der Tradition des diensthabenden Geistlichen, aber es gilt „of course“ allen. „‘Every single morning, we pray together as a team, whether they’re religious or not religious,’ she said. ‘We pray in Islam. We pray in the Christian faith. We pray in the Jewish faith. We include everybody, and we pray every single morning. As a team.‘” Stillschweigend wird davon ausgegangen, dass Geistliche im Krankenhaus präsent sind. Sie tragen dazu bei, dass die Pflegekräfte und Ärzt*innen den Patient*innen und Angehörigen beistehen können.
b.) Die Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland hat am 16. Dezember 2020 einen Lagebericht veröffentlicht. Den Abschnitt „Erfahrungen“ eröffnet der Vorsitzende, Pfarrer Igor Lindner, mit einer fast erleichtert klingenden Feststellung im Anschluss an eine Umfrage: „Wir schätzen, dass über 90% der Gefängnisseelsorger*innen durchgehend im Dienst waren und vollen Zugang zu den Justizvollzugsanstalten hatten.“ (Igor Lindner, Gefängnisseelsorge in Zeiten von Covid19. Lagebericht der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge im Advent 2020, unveröffentlichtes Manuskript vom 16.12.2020.)
Von Seiten der Justizministerien war Gefängnisseelsorge ausdrücklich „erwünscht und als systemrelevant eingeschätzt“ worden. Über den Begriff Systemrelevanz hinaus formulieren die Seelsorger*innen, dass sie den Begriff der „Lebensrelevanz“ für angemessener halten: „So geben z. B. Gottesdienste in kleinen und neu erschlossenen Formaten Gefangenen einen (Kirchen-) Raum der Hoffnung. Manchmal ist die einfache seelsorgerliche Begegnung, in aller Bescheidenheit, lebenswichtig.“ Denn die Gefangenen, insbesondere die Neuzugänge und Covid 19-Verdachtsfälle seien bis zu zwei Wochen komplett isoliert. „Der Kontakt zu Seelsorger*innen war oft die einzige Möglichkeit zum Austausch.“ Entsprechend gelte die oberste Priorität der „ganzheitlich-leiblichen Begegnung […] zuallererst im Da-Sein der Seelsorger*innen in den Gefängnissen für Gefangene und Bedienstete“.
c) Werner Weinholt, Leitender Theologe der Johannesstift-Diakonie, ein diakonischer Komplexträger mit insg. über 10.000 Mitarbeitenden, davon 20 Seelsorger*innen, berichtet von seinen Erfahrungen in den Bereichen Krankenhaus, stationäre Altenpflege und Hospize. Er sah sich zu Beginn des ersten Shutdown mit den Begriffen ‚Social Distancing‘ und dem ‚Ausschluss von Seelsorge aus dem unmittelbaren Kontaktbereich in Pflegeheimen‘ konfrontiert.
Gegen die Verordnungen aber bestand in den Einrichtungen die Einstellung, „dass die Behandlung und Betreuung schwerst-kranker und sterbender Menschen mit einer Begleitung in allen Dimensionen (neben physisch eben auch psychisch, sozial und spirituell) einhergehen muss“ (Werner Weinholt, Spiritual Care und Ethik in Zeiten von Corona, in: Spiritual Care 9:3 (2020), 225-228.) und dass es zu einer Öffnung dieser Regeln kommen musste.
Die Unternehmungsleitung entschied sich in einem „offenen und sehr konzentrierten Diskurs“ dafür, dass Seelsorger*innen „in den Einrichtungen physisch präsent“ blieben, vor allem dort, wo ehrenamtliche Helfer*innen ausbleiben mussten. Elektronische und mediale Kommunikation wurden ergänzend eingesetzt; regelmäßige Kontaktangebote erwiesen sich als wichtig: telefonische Seelsorge, feste Sprechstunden und Teamgebete, die über die Homepage und Mailinglisten der Einrichtungen öffentlich gemacht wurden.
Von zusätzlichen Angeboten wie einer Hotline-Rufnummer wurde nur Gebrauch gemacht, wenn es im Vorfeld einen persönlichen Kontakt gegeben hatte. Besonders weist Weinholt auch auf den Beitrag der Seelsorger*innen bei der Entwicklung von Handlungsleitlinien für Notfallsituationen wie einer Überbelegung der Stationen, der neben der ethischen Beratung auch in der Begleitung der als belastend empfundenen Entscheidungsprozesse bestand.
d) Zuletzt sei noch auf Erfahrungen einer Seelsorgerin auf der Intensivstation des Universitätsspitals Zürich eingegangen, die in einem Interview von ihrem Erleben berichtete (Simon Peng-Keller, Susanna Meyer Kunz, Seelsorge auf der Covid-19-Intensivstation des Universitätsspitals Zürich, in: Spiritual Care 9:3 (2020), 217-219.)
Susanna Meyer-Kunz hatte zu Beginn der Pandemie mehrfach aktiv verantwortliche Ärzt*innen gefragt, was passiere, wenn „jetzt Menschen auf dieser Station an Covid-19 sterben? Wie ist der Abschied vorgesehen?“ Nachdem sie sich mit den Leichensäcken („Body-Bags“) und den Abschieden am geschlossenen Sarg nicht zufrieden geben wollte, wurde sie in eine interprofessionelle Task-Force berufen, in der sie erreichen konnte, dass es in Absprache mit der Pathologie ein enges Zeitfenster geben würde, in dem zwei Angehörige auf den Abteilungen Abschied nehmen könnten. Die Pflege regte an, dass die Seelsorge in der Kirche mit maximal fünf Menschen eine kleine Abschiedsfeier gestalten könnte. Der Umgang mit dem Sterben und dem Tod konnte durch hauseigene Leitlinien so geplant werden, dass Trauerprozesse wenigstens einigermaßen unterstützt werden konnten.
In allen vier Erfahrungsberichten ist Seelsorge präsent auf ganz unterschiedlichen Ebenen: in der unmittelbaren Begegnung mit dem einzelnen Menschen und seinem sozialen Umfeld – am Krankenbett, im Gefängnis, beim Abschiednehmen von Verstorbenen. In den Teams, die unmittelbar in der Versorgung und Betreuung eingespannt sind – und dabei als Geistliche, die den anderen Berufsgruppen dazu helfen, mit Belastung umzugehen und sogar selbst spirituell zu begleiten. Und nicht zuletzt auf der Systemebene bei der Entwicklung von Konzepten menschenwürdiger Betreuung und Versorgung auch unter Bedingungen von Isolation und massiven Hygiene-Auflagen. Mir fällt allerdings auf, dass auch dann, wenn Seelsorge elektronische und digitale Angebote macht, diese eine leibliche Präsenz nicht ersetzen, sondern zur Voraussetzung haben.
Die leibliche Präsenz ist allerdings nicht beschränkt auf die körperliche Anwesenheit am Kranken- oder Sterbebett. Eher im Gegenteil: in Akutsituationen wie einem dringenden Bedürfnis zu beten, beim Sterben und Abschiednehmen oder in Notfällen ist es sehr wohl möglich gewesen, auf Telefon, Hotlines, Facetime, Zoom oder Skype bis hin zu Gebets-Podcasts zurück zu greifen. Diese Angebote werden aber erst dann genutzt, wenn sie mit einer Seelsorgeperson verbunden werden, die regelmäßig auch vor Ort präsent ist. Ist keine Seelsorgeperson da, scheinen auch Ersatzangebote weniger in Anspruch genommen zu werden.
Mit der Anwesenheit oder Abwesenheit von Seelsorge fällt auch die Entscheidung über das Sein oder Nicht-Sein spiritueller Begleitung. Die Johannesstift-Diakonie setzte sich über Vorgaben hinweg und entwickelte im Verbund mit den eigenen Seelsorgepersonen Konzepte. Für Aufsehen sorgte die Klage eines evangelischen Pfarrers beim Amtsgericht Altenburg, zu dessen Gemeindebezirk auch ein Altenheim in privater Trägerschaft gehört, in dem ein 89jähriges Gemeindeglied zur Pflege untergebracht ist. Seit Mitte März war die Dame dort als Palliativpatientin eingestuft. Ab dem 1. April versagte die Heimleitung dem Pfarrer den Zutritt zum Haus und Zugang zur Bewohnerin und begründete dies mit den Verordnungen der Stadt Jena und des Landes Thüringen. Die Heimleitung verweist dabei auf „eigene psychosozial geschulte Mitarbeiter und die Möglichkeit des Telefonierens“(Amtsgericht Altenburg für das Amtsgericht Jena, Beschluss vom 14.04.2020 – 26 AR (BD) 24/20).
Das Amtsgericht entschied im Wege der einstweiligen Verfügung, dem Seelsorger den Zutritt zur Bewohnerin jederzeit zu gewähren unter Androhung eines Ordnungsgeldes bei Zuwiderhandlung von 250.000 €. Die Begründung der einstweiligen Verfügung erfolgt einerseits unter Hinweis auf die verfassungsrechtlich gewollte Privilegierung der Kirchen bei der Seelsorge, andererseits aber auch unter Hinweis auf die Notwendigkeit „persönliche[r] und direkte[r] menschliche[r] Zuwendung, Trost und Begleitung“ bei Menschen, die durch Quarantäne-Maßnahmen besonders bedroht sind, zumal sie sich in einer Palliativsituation befinden. Über Sein oder Nichtsein spiritueller Begleitung entscheiden also mittlerweile die Gerichte. Dass sie in den letzten Jahren positiv für die Seelsorge ausgefallen sind, ist keineswegs Grund zur Entlastung.
Präsenz? Welche Präsenz?
An den Erfahrungsberichten kann man ganz unterschiedliche Weisen von Präsenz ablesen, die sich kategorisieren lassen. Auf formaler Ebene sind sowohl das rein körperliche Dasein, die physische Präsenz am Ort des Geschehens erkennbar, als auch die technisch vermittelte Präsenz durch Kommunikationsmedien. Dasein ermöglicht Kommunikation. K.F. Daiber hat einmal formuliert: „Über die Körperlichkeit wird Anwesenheit, wird Gemeinschaft vermittelt. Gemeinsame Körpervollzüge symbolisieren das Subjektübergreifende. Dabei bleibt die körperliche Aktion durch das Ritual immer kontrolliert. (K.F. Daiber, Der Körper als Sprache des Rituals. Beobachtungen und Anmerkungen, in: M. Klessmann / I. Liebau (Hg.), Leiblichkeit ist das Ende aller Werke Gottes. Körper-Leib-Praktische Theologie, Göttingen 1997, 231-243, 241f. zitiert bei Elisabeth Naurath, Nonverbale Kommunikation in der Klinikseelsorge. In: Uta Pohl-Patalong, Frank Muchlinsky (Hg.): Seelsorge im Plural: Perspektiven für ein neues Jahrhundert. Hamburg: EB-Verlag 1999, 140-152., 150.)
Auf der Ebene des Handelns und Verhaltens – also der Gestaltung von Präsenz – lassen sich die üblichen seelsorglichen Handlungsformen erkennen: vom stillen Dasein über das Gespräch bis zum liturgischen Handeln in Gebet, Andachten für Teams und Abschiedsfeiern. Auf der inhaltlich bestimmten funktionalen Ebene lassen sich – je nach Kontext – Trösten, Raum geben für Affektäußerungen, Hoffnung vermitteln, ethische und organisatorische Beratung und Supervision, prophetische Rede in Richtung der Einrichtungen, Träger und Leitungsverantwortlichen und geistlich-priesterlicher Handeln ausmachen. Das Da-Sein der Seelsorge hat viele Gestalten und viele Funktionen.
Der britische Seelsorger Steve Nolan beschreibt in seinem Buch „Spiritual Care at the End of Life (Steve Nolan, Spiritual Care at the End of Life. The Chaplain as ‘Hopeful Presence’, London 2012. Vgl. dazu ausführlich Traugott Roser, Spiritual Care, 2. Auflag 2017, 236ff.) vier Aspekte und Wirkformen der Präsenz von Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Sie helfen m.E. zum Verständnis und zur Einordnung, was das Besondere des Da-Seins von Seelsorge ausmacht. Zuerst nennt er „evocative presence“ – die Präsenz am Ort des Geschehens, die beim Gegenüber etwas auslöst oder hervorruft und auf das sie reagieren können; hier ließen sich m.E. die beratenden und prophetischen Anteile seelsorglichen Agierens gut einordnen. Der zweite Aspekt ist die „accompanying presence“ – über seinen Körper ist der Seelsorger auch emotional erreichbar, wird zu einer leiblichen Präsenz, die es dem Gegenüber ermöglicht, die eigene Erfahrung zu teilen, selbst wenn dies die Seelsorgerin existenziell herausfordern sollte. Körper haben und den Körper einsetzen mache Leib sein erst möglich. Diese Form von Präsenz ist v.a. den Notfallseelsorgenden, den Polizei- und Feuerwehrseelsorgenden bestens vertraut.
Der dritte Aspekt ist „comforting presence“, die v.a. über nonverbale Interventionen dem Gegenüber ein Gefühl des ‚Gehaltenseins‘ vermitteln und sich v.a. bindungstheoretisch verstehen lässt. In Situationen der Vereinsamung und Isolation durch Social Distancing ist vor allem diese Form von Präsenz einleuchtend. Der vierte – und für Nolan zentrale – Aspekte ist „hopeful presence“: eine im Beziehungsgeschehen vermittelte, realitätsverhaftete Hoffnung im Anschluss an P. Pruyser, eine „hope beyond recovery“, die sich der medizinischen Machbarkeit entzieht und ein durch das Religionssystem gespeistes Verständnis von Hoffnung zur Geltung bringt.
In allen vier Aspekten kommt zum Ausdruck, dass die Seelsorge durch ihre Präsenz zunächst die Situation, die Krise, die Not und das Leid aushält und dadurch als Wirklichkeit anerkennt. Das markieren Seelsorger*innen mit dem Begriffspaar Da-Sein und Da-Bleiben. Das Nicht-Weglaufen oder zum nächsten Termin oder Tagesordnungspunkt-Übergehen anerkennt die Realität der Situation. In der christlichen Tradition ist das insbesondere im vergeblichen Flehen Jesu im Garten Gethsemane ausgedrückt: Bleibet hier und wachet mit mir! Cicely Saunders hat genau in diesem Jesuswort das Wesen von Spiritual Care zusammengefasst: „Watch with me“ (Vgl. dazu Lea Chilian, ‚Watch with me’. Zum Konzept des Aushaltens in Spiritual Care, in: WzM 72 (2020), 408-419; Martina Holder-Franz, „... dass du bis zuletzt leben kannst.“ Spiritualität und Spiritual Care bei Cicely Saunders (Beiträge zu Theologie, Ethik und Kirche 7), Zürich 2012) – dieses Bleiben und Aushalten bei Sterbenden hat es Saunders erst möglich gemacht, das Phänomen eines „total pain“ zu beobachten, als Realität zu verstehen und zur Grundlage eines umfassenden Behandlungsansatzes zu machen.
Umgekehrt aber heißt Abwesenheit, dass der Situation und ihrer Not Bedeutung abgesprochen oder sie als ganze negiert wird. Mit dem Verzicht auf oder der Verdrängung seelsorglicher Präsenz geht nicht einfach eine Berufsgruppe oder ein vernünftiges Angebot verloren, sondern auch die Anerkennung von Notsituationen und Bedürfnissen als real. Um es für den Krankenhausbereich ganz deutlich auszudrücken: Der Verzicht auf die Präsenz von Seelsorge bedeutet, dass religiöse und spirituelle Bedürfnisse um Zusammenhang von Krankheit und Leiden als „alternative Fakten“ unter Esoterikverdacht gestellt werden.
Ein naturwissenschaftliches Verständnis von Krankheit und Gesundheit und ein ausschließlich ökonomisches Paradigma bestimmen dann Behandlung, Versorgung und Betreuung. Spiritual Care ist gemeinsam mit Palliativversorgung Ausdruck eines Paradigmenwechsels im Gesundheitswesen. Durch das Insistieren, dass noch viel zu tun ist, auch wenn nichts mehr zu machen ist, haben Palliativmedizin und Hospizbewegung den Themen Sterben und Trauer in der Öffentlichkeit Geltung verschafft. Die Folgefragen sind dann: Was ist der Beitrag von seelsorglicher Präsenz? Wem verschafft Seelsorge durch beharrliches Dasein Geltung und Öffentlichkeit?
Präsenz ermöglicht Beziehung. Seelsorgerliche Präsenz ermöglicht Resonanzerfahrungen. Die Schweizer Seelsorger*innen Renata Aebi und Pascal Moesli schreiben: „Präsenz ist das A und O der spirituellen Begleitung“: „ganz präsent bei sich, ganz präsent beim anderen und präsent bei dem, was jetzt gerade geschieht.“ (Renata Aebi, Pascal Moesli, Interprofessionelle Spiritual Care. Im Buch des Lebens lessen”, Bern: Hogrefe 2020, 135)
Präsenz vollzieht sich in einer geschulten Offenheit für die Prozesse innerhalb der eigenen Person, beim Gegenüber in einer ganz konkreten Situation und das, was sich in einer Situation ereignet. Präsenz als Seelsorge bedeutet einen bestimmten Modus des In-der-Welt-Sein von Seelsorge. Mir scheint dafür der Begriff der Resonanz passend.
Der Soziologe Hartmut Rosa differenziert zwischen zwei Momenten des Resonanzgeschehens, zwischen „Synchronresonanz“ und „Responseresonanz“: „Zwei Körper reagieren oder ‚antworten‘ auf die Schwingungsimpulse des jeweils anderen (Responseresonanz), was zur Folge haben kann, dass sie nach einer gewissen Zeit im Gleichklang schwingen (Synchronresonanz). Beide Formen der Resonanz erfordern indessen ein resonanzfähiges Medium beziehungsweise einen entgegenkommenden Resonanzraum, der die beschriebenen Resonanzwirkungen zulässt, aber nicht erzwingt.“ (Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 20203, 283).
„Im Blick auf eine Theorie der Weltbeziehung beschreibt Resonanz sodann einen Modus des In-der-Welt-Seins, das heißt eine spezifische Art und Weise des In-Beziehung-Tretens zwischen Subjekt und Welt [… so dass sich die beiden Entitäten …] wechselseitig so berühren, dass sie als aufeinander antwortend, zugleich aber auch mit eigener Stimme sprechend, also als ‚zurück-tönend‘ begriffen werden können.“ (Rosa, Resonanz, 285). So ließe sich auch die Seelsorgebeziehung beschreiben. „Im Resonanzzustand ist eine hohe Kongruenz von Denken und Fühlen gegeben.“ (Rosa, Resonanz, 287, Zitat von Peter Schütz, ‚Resonanz‘, in: G. Stumm, A. Protz (Hg.), Wörterbuch der Psychotherapie, Wien, New York 2009, 594). „Resonanz ist keine Echo-, sondern eine Antwortbeziehung; sie setzt voraus, dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen, und dies ist nur dort möglich, wo starke Wertungen berührt werden. Resonanz impliziert ein Moment konstitutiver Unverfügbarkeit.“ (Rosa, Resonanz, 298).
Präsenz als theologischer Begriff
Es genügt freilich nicht, wenn man Präsenz als Währung der Seelsorge ausschließlich soziologisch beschreibt. Der Titel meines Impulses bringt ja schon einen Bezug mit ein, der für Theolog*innen befremdlich klingt, weil er an volkswirtschaftliche Kategorien erinnert: Präsenz als Währung.
Deshalb bedarf es einer theologischen Einordnung des Begriffs Präsenz. Auch Hartmut Rosa versteht Resonanz in einem dreidimensionalen Raum entlang dreier Resonanzachsen: horizontale (zwischenmenschliche), diagonale (als Objektbeziehungen) und vertikale. Religion ordnet er den vertikalen Resonanzachsen zu und bezieht sich bewusst auf Friedrich Schleiermachers Formulierungen von Anschauung und Gefühl. Was Schleiermacher als Kern und Gegenstand von Religion beschrieben habe, „das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm“ sei „exakt das, was ich in diesem Buch als Weltbeziehung zu bestimmen versuche“ (Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 20203, 283).
Ebenso schließt sich Rosa an Martin Bubers dialogisches Prinzip an, das Ich, das auf ein Du hin geschaffen sei, also in seinem Wesen resonanzfähig und resonanzbedürftig. Gott bestimme Buber als „‘ewiges Du‘, als Fluchtpunkt allen Resonanzverlangens und zugleich als Ursprung aller Resonanzsehnsucht (Rosa, Resonanz 440).
„In Gottesdiensten und religiösen Riten, etwa im Abendmahl oder beim Segen, verbinden sich mit der ‚Erfahrung‘ vertikaler Tiefenresonanz sowohl horizontale Resonanzachsen zwischen den Gläubigen, die sich […] als Gemeinde konstituieren, als auch diagonale Resonanzbeziehungen, insofern Dinge und Artefakte wie Brot, Kelch, Wein oder Kreuz […] resonanztechnisch ‚aufgeladen‘ werden. Daraus entsteht so etwas wie ein sensorischer Resonanzverbund, in dem die drei Achsen sich gegenseitig zu aktivieren und zu verstärken vermögen (Rosa, Resonanz, 443).
Die von Steve Nolan vierfach differenzierten Aspekte seelsorgerlicher Präsenz als evocative, accompanying, comforting und hopeful fügen sich gut zu den Resonanzachsen spiritueller und seelsorglicher Begleitung. Letztlich geht es theologisch gesprochen um eine Vermittlung des menschgewordenen Gottes. Die geheimnisvolle Präsenz Gottes im Gegenüber, im besuchten Kranken und Gefangenen, im bekleideten Nackten, im versorgten Hungernden etc. ist im Moment der Begegnung oft nicht bewusst, wird aber im Nachhinein, vielleicht auch erst im Eschaton letztlich erkannt. Sie ist aber der Urgrund diakonisch-helfenden Handelns, auch der Seelsorge: im Menschen, den wir begleiten, dem Seelsorgende begegnen, den Berater*innen unterstützen, ist Gott präsent. Wenn Seelsorge nicht präsent ist, werden diese Situationen so an uns vorüberziehen, wie sie den Menschen in der großen Rede vom Endgericht in Mt 25 erst bewusst werden, als die Chance vertan ist. Gottes Präsenz im anderen ist evocative, accompnying, comforting und hopeful. Das machen wir Seelsorger*innen uns vielleicht zu selten bewusst. Es liegt an der Seelsorge, diese andere Dimension, das unergründliche Geheimnis des Menschen, dem wir begegnen, zu schützen und zur Geltung zu bringen – und deshalb Sorge zu tragen, dass das Gegenüber nicht ausschließlich in seiner sozialen Rolle als Patientin, als Träger eines Virus oder einer Krankheit, als Sozialfall, als Delinquentin zur Geltung kommt. Der theologische Beitrag von seelsorgerlicher Präsenz ist das Eintreten für die Personwürde des Einzelnen, das Unbestimmte und Unverrechenbare. Präsenz als Währung der Seelsorge heißt deshalb: die Präsenz Gottes im Gegenüber ist der theologische Grund und der Zielpunkt seelsorglicher Begleitung.
„Im Menschen, den wir begleiten, ist Gott präsent.“
Seelsorge leistet durch ihre physische Präsenz als Körper vor Ort, durch das Beharren auf eigenartig funktionsfreien Räumen wie Kapellen oder Räumen der Stille, und durch die seelsorgetypischen Handlungsformen so etwas wie die Transformation funktionaler Orte in Räume, in denen vertikale Resonanz möglich ist. Das macht die leibliche Dimension von Seelsorge aus. Durch das Sprechen und Anleiten eines Gebets zu Beginn der Schicht werden die Aspekte Arbeit von Pflegenden, Reinigungspersonal und Ärzt*innen spürbar, die motivieren, im Patienten einen Menschen zu sehen, ihm Zugang zur Familie und zu Gott zu verschaffen. Durch das Dasein der Seelsorgerin in einer Task-Force zum Umgang mit an Covid-19 verstorbenen Leichen wird der Inhalt des Leichensacks zu einer Person, von der sich Zugehörige verabschieden möchten und die mit einem Segen auf ihre Reise in das große Jenseits gehen kann. Durch die Feier eines Gottesdienstes wird Gottes Dasein über Worte und Dinge zur Darstellung gebracht. Das kann z.B. die Kerze sein, die beim Eintritt des Todes sogar im Krankenhaus angezündet werden darf. Sie transformiert alles, nur durch ihr Dasein.
Ich komme zum Schluss und muss mich schließlich dem unschönen Begriff der Währung zuwenden.
Präsenz als Währung: ökonomische Aspekte
Die Moderne, die Wachstumsgesellschaft unterwirft alle Lebensbereiche dem ‚stahlharten Gehäuse‘ der Steigerungsimperative. Hartmut Rosa warnt vor einer „strikten Dichotomie zwischen einer dominanten verdinglichenden Haltung, in der die Welt unter den Auspizien der Steigerung ökonomisch und technisch verfügbar, wissenschaftlich erkennbar und beherrschbar, rechtlich berechenbar und politisch steuerbar gemacht werden soll, und einem insbesondere in den Sphären der Kunst, der Religion und der Natur etablierten Regime der reinen Begegnung, in der die Welt erfahrbar werden soll“ (Rosa, Resonanz, 704).
Manche wittern genau hier die Gefahr im Konzept von Spiritual Care, dass sich der naturwissenschaftliche und ökonomisierte Betrieb des Gesundheitswesens im Sinne der Reichweitenvergrößerung auch die vertikale Resonanzachse aneignen und beherrschen will: „Es gibt keinen Aspekt menschlichen Lebens und menschlicher Körper mehr, der sich nicht mittels neuer Bio-, Pharma-, Psycho- und Computertechnologie messen und erfassen und darüber hinaus verbessern, steigern oder optimieren ließe“ (Rosa, Resonanz, 715).
Spiritual Care kann man so leicht als Optimierungsmaßnahme eines lohnenden Gesundheitsbetriebs verstehen und kritisieren. Als Konkretion kann man da zügig auf die Frage der Dokumentation seelsorglicher Kontakte (Vgl. dazu unlängst: Simon Peng-Keller, David Neuhaold, Ralph Kunz, Hanspeter Schmitt (Hg.), Dokumentation als seelsorgliche Aufgabe. Elektronische Patientendossiers im Kontext von Spiritual Care, Zürich: TVZ 2020)
verweisen, denn aus der Sicht des ökonomisierten Gesundheitswesens ist der vordringliche Zweck des Dokumentierens ja der Nachweis, dass Personalmittel und Zeiteinheiten eingesetzt wurden und deshalb abgerechnet werden dürfen. Das wird man auch im Zusammenhang der palliativen Komplexbehandlung nicht abstreiten können.
Aber die Dokumentation ist auch der systemöffentliche Nachweis einer theologisch qualifizierten Präsenz. Sie verschafft dem Patienten als spirituellem Wesen Geltung, Realität, Öffentlichkeit. Sie sagt nichts aus über die Beziehungsqualität, das Unverfügbare, das Vertrauliche und das Geheimnis dieses Menschen. Ein Eintrag in der Dokumentation sagt nur: dieser Mensch ist beziehungsrelevant, ist unverfügbar, birgt ein Geheimnis, verdient Vertrauen. Dieser Mensch ist es wert, dass Mittel für ihn und für seine Seele aufgewendet werden. Nur weil er da ist. Das dokumentierte Dasein der Seelsorge ist ein Beweis für das Dasein eines Menschen als Person. Das ist unsere Währung.
Ich zäume das Pferd einmal von der anderen Seite auf und frage: ist es so ganz untheologisch, in diesen ökonomischen Kategorien zu denken? Hat nicht Jesus immer wieder auf die unternehmerische Lebenswelt Bezug genommen? Etwa im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden, bei denen die Verwalter am besten abschneiden, die mit ihren anvertrauten fünf oder zehn Talenten am besten wuchern? Was also ist die Währung „Präsenz“? Wie können wir damit wuchern, statt sie zu vergraben, verborgen zu halten um sie und uns in unserer Makellosigkeit nur ja nicht zu gefährden? Die doppelte Systemzugehörigkeit von Seelsorge sowohl zum Gesundheits- als auch zum Religionssystem verschafft der Präsenz Potential, denn die Währung Präsenz ist sowohl theologisch relevant als auch therapeutisch und ökonomisch. Der Einsatz personaler Präsenz kann therapeutische Wirkung haben, er kann sich für ein Krankenhaus auch im Rahmen von PR-Arbeit auszahlen. Aber er ist auch die Voraussetzung, dass Gottes in-der-Welt-Sein erfahrbar wird am andern als dem kirchlichen Ort. In der Welt, an Beratungsstellen, im Gefängnis, am Telefon.
Deshalb zitiere ich noch einmal Hartmut Rosa: „An dieser Stelle schlägt die Resonanztheorie einen kulturellen Paradigmenwechsel vor: Nicht die Reichweite, sondern die Qualität der Weltbeziehung soll zum Maßstab politischen wie individuellen Handelns werden. Als Maßstab für Qualität wiederum kann und soll dann nicht mehr die Steigerung, sondern die Fähigkeit und Möglichkeit zur Etablierung und Aufrechterhaltung von Resonanzachsen dienen[…].“ (Rosa, Resonanz, 725). Der Schlusssatz Rosas lautet: „Wir können an der Qualität unserer Weltbeziehung noch heute zu arbeiten beginnen; individuell am Subjektpol dieser Beziehung, gemeinsam und politisch am Weltpol. Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und Antworten.“ (Rosa, resonanz, 762).
Und das braucht die körperliche Präsenz.
Traugott Roser
Professor für Praktische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster