Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken
Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
7. Familienpolitik als neue Form sozialer Politik
In der international vergleichenden Familienforschung und Sozialpolitik hat ein Perspektivenwechsel die besondere Bedeutung von Familien als wesentliche Faktoren allgemeiner Wohlfahrt und des gesellschaftlichen Reichtums hervorgehoben. Damit wurde einerseits offenbar, dass der westdeutsche Sozialstaat mit seinem tradierten Familienbild eine nachhaltige Familienpolitik versäumt hat, andererseits ist deutlich geworden, dass verlässliche Sorgearbeit für die vorangegangene und die nachkommende Generation einen wichtigen, bislang nicht ausreichend berücksichtigten Beitrag zum Bruttosozialprodukt leistet. Der Familie als gesellschaftlicher Institution kommt dabei für die Weitergabe des Lebens und den sozialen Zusammenhalt nach wie vor eine zentrale und unverzichtbare Rolle zu.
-
Im europäischen Vergleich der Familienpolitiken und Trends ergibt sich der aus deutscher Perspektive erstaunliche Befund, dass die Länder mit der höchsten Frauen-, ja Mütter-Erwerbsquote zugleich die Länder mit den höchsten Geburtenraten sind (Norwegen, Schweden, Dänemark und Frankreich). Zudem wird deutlich, dass Länder, die sich im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse verhältnismäßig spät modernisiert haben, zum Beispiel Griechenland, Spanien, Italien und Deutschland, heute in Europa über die niedrigsten Geburtenraten verfügen. Deshalb ist die immer wieder vorgebrachte Behauptung, die Gleichstellung der Geschlechter sei ursächlich für die Krise der Familienbeziehungen, nicht aufrechtzuerhalten. Das Gegenteil ist der Fall: Nicht die Gleichberechtigung der Partner und Modernität, sondern die Aufrechterhaltung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in Bildung, Beruf und häuslicher Aufgabenteilung und späte Familiengründungen sind heute ein wesentlicher Grund für niedrige Geburtenraten.
-
Der europäische Integrationsprozess, mit dem die Europäische Union zu einer Rechtsgemeinschaft besonders auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zusammenwächst, ist ein wesentlicher Anlass zum Umdenken auch in der Familienpolitik. Denn Veränderungen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bleiben nicht ohne Auswirkung auf die privaten Lebensformen, das Familienrecht und das Familienleben. Die Europäische Union hat auf der Grundlage des Amsterdamer Vertrages von 1997 sowohl „die Gleichstellung von Männern und Frauen“ als auch ein hohes Beschäftigungsniveau zu ihren Hauptzielen erklärt (Art. 2 sowie Art. 136 u. 137 des EG-Vertrages in der Fassung des Amsterdamer Vertrages). Seit dem EU-Gipfel in Lissabon (2000) wird deshalb in jährlichen Programmen eine europäische Beschäftigungsstrategie vereinbart, die zur Stärkung der Europäischen Union als Wirtschaftsmacht ausdrücklich die Förderung der Beschäftigung von Frauen vorsieht, also grundsätzlich davon ausgeht, dass Frauen ebenso wie Männer erwerbstätig oder ökonomisch selbstständig sind. Für Ehe, Familie und Partnerschaft stellen sich damit jedoch angesichts großer Versäumnisse in der Familienpolitik in der Bundesrepublik vielfältige Aufgaben und Herausforderungen.
-
Denn obwohl Deutschland nach einer Studie der OECD vom 1.9.2009 im Vergleich für Kinder je nach Altersgruppe 10 bis zu 20% mehr Geld für familienpolitische Leistungen ausgibt als andere, stellt die Sachverständigen-Kommission des Siebten Familienberichts fest, dass diese Transfers bisher „zu wenig befriedigenden Ergebnissen geführt haben. Gemessen an Indikatoren wie Geburtenrate, Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie, Armutsrisiko oder Bildungsniveau haben andere Staaten mit nicht mehr finanziellem Aufwand häufig bessere Ergebnisse erreicht.“ (BMFSFJ 2006, S. XXXII). Das geplante Betreuungsgeld, das ab 2013, wenn der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für alle Zwei- bis Dreijährigen gültig wird, an Eltern gezahlt werden soll, die Betreuung innerhalb der Familie oder über Tagespflege abdecken, ändert daran nichts - im Gegenteil. Verbände und Expertinnen und Experten verweisen darauf, dass diese Leistung finanzielle Anreize schafft, die Bildungsbeteiligung von Kindern und die Erwerbstätigkeit von Eltern zu verringern statt zu erhöhen. Bildungsgerechtigkeit lässt sich durch finanzielle und personelle Investitionen in Kindergärten, Kindertagesstätten und Schulen fördern. Diese können familiäre Sorgearbeit keinesfalls ersetzen, aber ergänzen. Bei diesen Investitionen in die Infrastruktur hat Deutschland jedoch Nachholbedarf: Sie könnten gezielter wirksam werden als die derzeitige steuerliche Entlastung des Ehegattensplittings, das aus sozial- und gleichstellungspolitischen Gründen seit Langem grundsätzlich in Frage gestellt und auch von der OECD kritisiert wird.
-
Die gegenwärtigen Probleme deutschen Sozialstaats, der im internationalen Vergleich wegen der Ausrichtung am männlichen Familienernährer als konservativ-korporatistisches Modell gekennzeichnet wird, liegen in seiner historisch gewachsenen Struktur und Systematik begründet. Sozialpolitik war danach vorrangig auf das Funktionieren des Verhältnisses von Arbeitsmarkt und Wirtschaft ausgerichtet und wurde auf Vollbeschäftigung und sog. Normalarbeitsverhältnisse hin gestaltet.Aus dieser Perspektive war Familienpolitik deshalb nur ein Anhängsel der Sozialpolitik bzw.eine „unliebsame Störung der versicherungsmathematischen Rechnung“ (Achinger 1979). Die Rede von „versicherungsfremden Leistungen“, wenn es um Kinder- und Familienpolitik ging, ist hierfür bezeichnend. Unter „Arbeit“ wurde nur Lohnarbeit, bezahlte Arbeit verstanden. Arbeit, die zur Herstellung und Wiederherstellung der Arbeitskraft beiträgt, gesellschaftlich unentbehrliche Haus-, Erziehungs- und Sorgetätigkeit wurde hingegen ausgeblendet.
-
In der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wird inzwischen das spezifische Verhältnis von Staat, Markt und Familie ins Zentrum der Analysen gestellt. Dieser Ansatz nimmt insofern einen Perspektivenwechsel vor, als damit Familienpolitik als tragende Säule der Sozialpolitik erkannt wird. Damit setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Funktionsfähigkeit des bisherigen wie gegenwärtigen Sozialstaats zum größeren Teil auf der informellen, d. h. vor allem der familialen Wohlfahrtsproduktion (Kaufmann 1997) beruht. Denn die private Alltagsarbeit sowie die Erziehung und Pflege der Kinder und Alten, überhaupt jede Form sozialer Hilfeleistung und gesellschaftlicher Solidarität, bilden die eigentliche und unverzichtbare Grundlage und Voraussetzung unseres gesellschaftlichen Reichtums. Das bisherige wohlfahrtsstaatliche Arrangement mit seiner traditionellen Familienverfassung setzte eine geschlechtshierarchische Arbeitsteilung voraus, die die Sorge für andere als Liebesdienst oder „Arbeit aus Liebe“ und somit alltägliche Haus- und Erziehungsarbeit unsichtbar und unbezahlbar gewährleistete. Angesichts des tiefgreifenden Strukturwandels im Blick auf Arbeitsmarkt, Familie, den demographischen Wandel und die veränderten Anforderungen und Bedürfnisse hinsichtlich Bildung, Erziehung, Gesundheit und Pflege problematisierte daher auch der Siebte Familienbericht ausführlich das „erhebliche Defizit an Fürsorge/Care“, das, von Familien geleistet, keineswegs als quasi „natürliche“ Ressource betrachtet werden kann, sondern in einer gleichberechtigten Erwerbsgesellschaft bewusst gestaltet und organisiert werden muss.
-
Wer Familien, Ehe und Partnerschaftsbindungen und deren gesellschaftliche Teilhabe wirksam fördern und gute Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern schaffen möchte, sollte Familienpolitik daher als Querschnittsthema betrachten. Das hat zur Folge, dass alle Politikfelder von der Sozialpolitik bis hin zur Steuer- und Wirtschaftspolitik auf ihre Familienfreundlichkeit zu überprüfen sind. Und es bedeutet, dass der Perspektivenwechsel auch eine neue Prioritätensetzung beinhaltet. Denn die gegenwärtigen Anforderungen an eine familien- und geschlechtergerechte Sozialpolitik sind nur zu bewältigen, wenn die Pflege-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit, überhaupt die Sorge für andere, als materielle und kulturelle Wohlfahrtsproduktion sozialpolitisch aufgewertet und zum Maßstab für gelingende Sozialstaatlichkeit werden (Gerhard 2010). Inzwischen haben die weltweiten Verflechtungen und die Umstrukturierungen der Arbeitswelt von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft alle westlichen Industriegesellschaften eingeholt. Damit ist die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von bezahlter und unbezahlter, formeller und informeller, Lohn- und Haus-Arbeit und auf all die unverzichtbaren Sorge-Tätigkeiten gerichtet, die unter dem englischen Begriff Care zusammengefasst werden. Das Konzept Care hat sich inzwischen zu einem Schlüsselwort international vergleichender Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtsforschung entwickelt, weil es die neuen politischen und sozialen Herausforderungen auf den Begriff bringt. Die European Social Platform,ein Bündnis von über 40 repräsentativen europäischen Nichtregierungsorganisationen, die im sozialen Bereich aktiv sind, hat erst kürzlich das Thema Care an die Spitze ihrer politischen Agenda gesetzt und Empfehlungen ausgearbeitet (www.socialplatform.org), wie das Recht und die Pflicht, für andere zu sorgen, und das Recht, umsorgt/gepflegt zu werden, mit staatlicher Hilfe und in der Zivilgesellschaft umzusetzen sind. Dabei wurde Care als Menschenrecht in all seinen Facetten (beruflicher, privater, institutioneller Pflege und Sorge für andere, aber auch im Blick auf die Rechte der Gepflegten) als „internationales soziales Kapital“ behandelt und eine transnationale politische Ökonomie der „Sorge für andere“ eingefordert. Noch einmal wird die Bedeutung „fürsorglicher Praxis“ für eine neue Form sozialer Politik betont, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und die soziale Integration von Benachteiligten und derer, die auf Hilfe angewiesen sind, zu gewährleisten.
-
Eine nachhaltige Familienpolitik ist daher nur durch die systematische Verknüpfung der Politikfelder Arbeit, Bildung, Familie und Soziales zu erreichen. Letztlich geht es darum, dass Politik, Wirtschaft und die organisierte Zivilgesellschaft - und dabei sind die Kirchen wichtige Akteure - aus der Mitte der Gesellschaft Lösungen erarbeiten, die es Männern und Frauen ermöglichen, Berufs- und Familienarbeit partnerschaftlich zu gestalten. Familie muss von einer privaten Frauenangelegenheit zu einer von Männern und Frauen verantworteten gesellschaftspolitischen Angelegenheit werden. Sie ist „öffentliches Gut“ und „gute Gabe Gottes“. Dazu ist ein neues normatives Familienmodell zu fördern, das der partnerschaftlichen Familie, in der die Rechte und Pflichten jedes Mitgliedes, auch der Kinder, gerecht untereinander geteilt und wechselseitig anerkannt werden. Dieses Modell ist auch als gerechtigkeitsorientierte Familie zu charakterisieren, um klar zu machen, dass gefühlsmäßige Bindungen und institutionelle Absicherungen, oder anders ausgedrückt, Liebe und die Wahrung und Inanspruchnahme von Rechten einander bedingen und im Einzelfall der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit die Richtung weisen.