Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken
Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
8. Wie Kirche und Diakonie Familien stark machen können
Kirche ist nach wie vor eine wichtige Ansprechpartnerin für Familien. Mit ihren Kasualien, Festen und Feiern begegnet sie Familien in Übergangssituationen, mit ihren Tageseinrichtungen für Kinder, Jugendtreffs und Schulen bietet sie Orte für Bildung, Erziehung und Begegnung, mit ihren diakonischen Diensten begleitet sie in Krisensituationen. Dabei haben Gemeinden, Diakonie und Verbände oft ganz unterschiedliche Gruppen und Familien im Auge. Eine Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie, die gemeinsame Entwicklung von Leitbildern und Angeboten und eine verstärkte Zusammenarbeit mit dritten Partnern in der Region sind deshalb unbedingt notwendig. Darüber hinaus sollten Kirchengemeinden ihre generationenübergreifende Arbeit bewusst ausbauen und die Gemeindezentren als Orte erlebten zivilgesellschaftlichen Engagements und erlebter Gemeinschaft gestalten. Angesichts des Strukturwandels von Familien haben Gemeinden und Familienzentren eine wachsende Bedeutung auch für die religiöse Erziehung und die Weitergabe des Glaubens.
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Viele Synodalbeschlüsse der letzten Jahre betonen, dass Kirche sich gegenüber erweiterten Familienformen und neuen Leitbildern öffnen muss. Auch die gemeindliche Praxis muss mit der Proklamation der EKD-Synode „Familie haben alle“ ernst machen und sensibler für die bestehende Vielfalt an familiären Lebensformen werden. Angebote für Familien richten sich bislang - manchmal ausdrücklich, manchmal unterschwellig - weitgehend an junge Eltern mit ihren Kindern. Familie reicht aber vom Wochenendvater über das miteinander älter werdende Schwesternpaar und die Patchwork-Familie bis zum kinderlosen Ehepaar mit der von ihm gepflegten Tante; sie alle sollten in der Familienarbeit der Gemeinden vorkommen. Gemeindeangebote sind allerdings häufig auf kontinuierliche Mitarbeit ausgerichtet und können von Familien, die mobil leben, kaum wahrgenommen werden. Auch Gottesdienstzeiten und Kasualien sollten auf den veränderten Lebenswandel Rücksicht nehmen. Es ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr, dass Frauen und Männer durch das „Regelangebot“ ihrer Gemeinde mit der evangelischen Kirche in Berührung kommen. Insbesondere die Lebenssituation von Alleinerziehenden, Patchworkfamilien und Singles oder Geschiedenen erfordert veränderte Aktivitäten und Angebote, die eine breite Teilhabe am kirchlichen Leben ermöglichen. Zugangsbarrieren zu evangelischen Gemeinden, dies zeigen die Sinus-Milieu-Studien (Wippermann 2011), bestehen vor allem für berufstätige Männer und Frauen ebenso wie für bildungsferne Familien in Unterversorgungslagen. Voraussetzung für eine familiensensible Gemeindearbeit ist, dass die Verantwortlichen in den Kirchengemeinden die beschriebenen Veränderungen nicht nur wahrnehmen, sondern aktiv in ihre Arbeit einbeziehen. Dabei geht es nicht darum, immer neue Angebote für weitere Zielgruppen zu machen, sondern mit anderen evangelischen Trägern wie Familienbildungsstätten oder diakonischen Einrichtungen zu kooperieren. Die erste und wichtigste Aufgabe ist aber, den Blick zu weiten für das, was Ehe, Lebenspartnerschaft und Familie in der jeweiligen Gemeinde konkret vor Ort ausmacht, um einer Milieuverengung in der Kirchengemeinde vorzubeugen.
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Eine bewusste Zusammenarbeit zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Angeboten kann helfen, Aufmerksamkeit für das Potenzial der vielfältigen Lebensformen und Bedarfe von Familien zu entwickeln. In den diakonischen Einrichtungen und Diensten sind oft ganz andere Menschen und nicht nur Kirchenmitglieder anzutreffen als in Kirchen und Gemeindegruppen. Die Tageseinrichtungen für Kinder, die Jugendtreffs und Familienzentren, aber auch die diakonischen Pflegedienste, Projekte und Beratungsstellen verfügen über ein differenziertes Wissen und breite Erfahrungen zur Situation von Familien vor Ort und können sie an Kirchengemeinden weitergeben. Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD über die systematische Arbeit mit Familien in verschiedenen Landeskirchen zeigt, dass Kirche im Bereich der Familienarbeit deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt und wie notwendig es ist, sich zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen über die jeweiligen Erfahrungen und Leitbilder zu verständigen, wenn eine profilierte und konzeptionelle evangelische Arbeit mit Familien gelingen soll. Kirchenkreise und Landeskirchen können solche Prozesse anstoßen.
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Pfarrerinnen und Pfarrer, Erzieherinnen und Erzieher, aber auch Gemeindepädagogen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie begegnen Familien in sehr unterschiedlichen Lebenslagen und in Krisensituationen - häufig gerade dann, wenn sich Hoffnungen und Sorgen bündeln: bei Hochzeiten, Taufen und Konfirmationen, bei Kindergartenentlassungen und Einschulungsfeiern oder bei der Schulentlassung, beim ersten Besuch in einer neu zugezogenen Familie, in der Jugendarbeit oder auch, wenn Kinder und Jugendliche durch die Scheidung ihrer Eltern belastet werden. Weitere Anlässe sind Krankenbesuche, die Sterbebegleitung und die Seelsorge pflegender Angehöriger sowie Beerdigungen. Kirche ist nach wie vor an den Lebensschwellen und in den Umbrüchen gefragt. Wenn dabei Vertrauen wächst, entsteht ein Bogen der Lebensbegleitung durch Höhen und Tiefen. Das kann gelingen, wenn in der Vorbereitung und Gestaltung von Kasualien Offenheit und Sensibilität für die tatsächliche Lebenssituation der jeweiligen Familien spürbar wird, wenn deren Hoffnungen und Wünsche zu Wort kommen und mit dem frei machenden Evangelium „versprochen“ werden, sodass gerade auch in Umbrüchen Verstehen, Versöhnung und Neuanfänge möglich werden. Gemeinden, die Paare trauen und Kinder taufen, haben eine besondere Verantwortung, Paare in schwierigen Lebenslagen zu stärken und Kinder zu begleiten. Immer häufiger zeigt sich, dass über die bekannten Kasualien hinaus zaghaft neue oder alte neu entstehen: bei Ein- und Auszügen, bei Trennung und Scheidung, zum Ehejubiläum, bei Tauf- und Konfirmationsfeiern, die viele Familien in der Gemeinde zusammenführen. Es ist ein Segen für konfessionsverbindende Familien, dass ihre Mitglieder in der evangelischen Kirche gemeinsam das Abendmahl empfangen und damit auch in ihrem Glauben Gemeinsamkeit erleben können.
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Evangelische Gemeinden verstehen sich in besonderer Weise als Gemeinschaften,die vom Engagement ihrer Mitglieder, von Gruppen und Initiativen getragen werden. Hier zeigt sich, dass Kirche ein Teil der Zivilgesellschaft ist, in der viele unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen eine Chance zur Teilhabe erfahren. Dabei sind Gemeinden nicht nur, wie es traditionell in der Kinder- und Jugendarbeit oder in der offenen Altenarbeit der Fall ist, auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet. Christliche Gemeinden haben die Ressourcen, Angebote für ein generationenübergreifendes Miteinander zu entwickeln. Kirchengemeinden können Räume anbieten, in denen sich die Generationen begegnen, wo Familien mit Kindern Paten-Großeltern finden und ältere Menschen ihre beruflichen Erfahrungen als Mentoren weitergeben, wo Alleinerziehende in Familienzentren ein hilfreiches Netzwerk knüpfen und Eltern einander dabei unterstützen, Erwerbstätigkeit und Familie vereinbaren zu können. Attraktive Gemeinden gestalten ihre Angebote so, dass sie auch denen zum verbindlichen Ort werden, deren Kinder oder Eltern weit entfernt wohnen oder die unter ihrem Alleinsein leiden.
Mehrgenerationenhäuser und Tageseinrichtungen für Kinder, die sich in Zusammenarbeit mit Beratungsstellen und Familienbildungsstätten zu Familienzentren entwickeln, machen deutlich, was sie der Sache nach letztlich immer schon sind: ein Ort, der alle Generationen einlädt, an dem sie miteinander ins Gespräch kommen und einander unterstützen. Dabei kommen jedoch auch erhebliche regionale und soziale Unterschiede zum Tragen. Ob Stadtteilgemeinde oder ländlicher Raum, Volkskirche oder Diaspora, benachteiligte Lebenslagen oder Familien in Wohlstandslagen - sie fordern unterschiedliche Gestaltung gemeindlicher Angebote, wirken auf unterschiedliche Weise einladend oder ausgrenzend.
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In der Gemeinde lässt sich finden, was auch Familien stärkt: Vorbilder für glaubwürdiges Christsein, Gespräche über Glaubens- und Sinnfragen, gemeinsames Singen, Beten und Feiern. Bei gemeinsamen Festen und Mahlzeiten, bei Glaubenskursen und Freizeiten, in Familiencafés können die verschiedenen Generationen über ihren Glauben ins Gespräch kommen. Bei Seminaren zur Ehevorbereitung oder bei besonderen Paarwochen kann besprochen und erlebt werden, was den Zusammenhalt von Paaren stärkt. Kindergottesdienst und Konfirmandenarbeit bieten einen Rahmen, um Geschichten und Lieder, Traditionen und Rituale weiterzugeben, die in vielen Familien verloren gegangen sind. Gottesdienste, die unterschiedliche Generationen zusammenführen, lassen Gemeinden als Gemeinschaft lebendig werden.
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Aber auch, wo sich in Familien Spannungen abzeichnen, sind Gemeinden gefordert. Oft geschieht dies gerade dann, wenn Familienfeste oder Feste im Kirchenjahr gefeiert werden. Eindrückliche Beispiele bieten verunsicherte Jugendliche, die ihrer Konfirmation ängstlich oder traurig entgegensehen, weil sie den Streit ihrer geschiedenen Eltern fürchten oder auf ein Elternteil und deren mögliche neue Lebenspartner verzichten müssen. Ähnlich ist es, wenn Familien bei Beerdigungen unversöhnt aufeinandertreffen, oder auch, wenn Alleinerziehende unsicher sind, ob sie ihr Kind zur Taufe anmelden können. Hier brauchen Menschen kompetente Seelsorger und Seelsorgerinnen, die gerade vor dem Hintergrund eigener reflektierter Familienerfahrungen unterstützend begleiten können. Darüber hinaus suchen Menschen bewusst in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen Beratung und Unterstützung in schwierigen Lebenslagen. Ehe-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen, aber auch Schwangerschaftskonflikt- und Sozialberatung sind nicht nur für Kirchenmitglieder wichtige Angebote, die verlässlich zur Verfügung stehen müssen. Diakonische Dienste helfen Familien in Notlagen: bei Armut und Überschuldung, im Umgang mit Behinderungen, in Krankheit und Pflegebedürftigkeit und bei Suchtproblemen.
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Wenn es um Konflikte geht, dürfen aber auch die Menschen nicht vergessen werden, die bei der Kirche selbst arbeiten oder in ihr Ämter übernehmen. An ihre Lebensführung, ihr Ehe- und Familienleben werden Anforderungen gestellt, die sie bisweilen als einengend oder gar unvereinbar mit ihren eigenen Lebenskonzepten erleben. Pfarrhäuser sind nach wie vor zentrale Orte und Anlaufstellen in der Gemeinde. Zugleich aber zeigt sich im Leben von Pfarrerinnen und Pfarrern und ihren Familiensituationen der gesellschaftliche Wandel. Die Emotionalität früherer Debatten um geschiedene Paare und Patchworkfamilien im Pfarrhaus, aber auch die Heftigkeit heutiger Diskussionen um homosexuelle Lebenspartnerschaften und bi-religiöse Ehen macht deutlich, dass Pfarrhäuser nach wie vor als symbolische Orte für die Veränderungen im Leben der Gemeinde wahrgenommen werden und dass an den Lebensstil von Pfarrerinnen und Pfarrern besondere Erwartungen gerichtet sind. Neue Lebensformen im Pfarrhaus können den Blick dafür öffnen, dass in vielen unterschiedlichen Formen Leben gelingen kann, wenn es verantwortlich, verbindlich und verlässlich gestaltet wird.
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Die verantwortlichen Kirchenleitungen müssen darüber hinaus auch pragmatisch über mögliche eigene institutionelle Veränderungen im Gemeindeleben nachdenken, die der Vielfalt von Ehe und Familie entgegenkommen. Dazu gehört auch die bewusste Verantwortung für familienfreundliche Arbeitsverhältnisse aller Beschäftigten im kirchlichen und diakonischen Dienst sowie Entgelte, die eine menschenwürdige Existenzsicherung bei Vollzeitstellen ermöglichen.
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Benachteiligte, behinderte und pflegebedürftige Menschen, aber auch Familien mit kleinen Kindern und Menschen, die Angehörige pflegen, sind besonders angewiesen auf ihr soziales Umfeld. Gemeinsam mit den diakonischen Angeboten in der Region können Gemeinden ein Netzwerk bilden, in dem Familien Hilfe und Unterstützung erfahren, sich austauschen und lernen können. Dazu gehören Tageseinrichtungen und Familienbildungsstätten, Beratungsstellen, Mittagstische und Familienzentren, Kinderkleiderkammern genauso wie Pflegeberatungsstellen und Kurzzeitpflegeeinrichtungen oder ambulante Dienste. Viele dieser so wesentlichen Angebote wie zum Beispiel die Ehe- und Lebensberatungsstellen sind freiwillige Leistungen der Kommunen. Auch Dienste wie die „Familien- und Dorfhilfe“ sind nicht flächendeckend vorhanden und haben keine bundesweite Regelfinanzierung. Sie sind oft von den Haushaltslagen von Ländern und Kommunen abhängig und mosaikartig von verschiedensten Kostenträgern finanziert. In der Kommune wird ganz unmittelbar sichtbar, in welcher Weise Familie auf gesellschaftliche Unterstützung angewiesen ist. Hier sind Kirche und Diakonie als Träger von Tageseinrichtungen, Beratungsstellen und Pflegediensten auch selbst gefordert. Sie müssen ihre Angebote bedarfsgerecht weiterentwickeln, besser vernetzen und im Sinne der Prävention und Begleitung von Familien für eine sozialraumorientierte Kooperation zwischen Tageseinrichtung und Kinder- und Jugendarbeit, zwischen Religionsunterricht und Konfirmandenarbeit, zwischen Pflegediensten und Gemeinde sorgen.
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Darüber hinaus müssen Kirche und Diakonie verstärkt mit dritten Partnern zusammenarbeiten und Verantwortung für das Wohnviertel oder Quartier übernehmen. Voraussetzung hierfür ist eine kritische Würdigung des Sozialraums, in dem die Gemeinde angesiedelt ist. Das gilt für die Kooperation mit den Schulen genauso wie für die Zusammenarbeit mit Gesundheitseinrichtungen, für Netzwerke mit Firmen oder für die Zusammenarbeit mit Bauamt und Gewerbekreis, wenn es um eine familien- und altersgerechte, aber auch integrationsfreundliche Infrastruktur in den Städten geht. Kirche und Diakonie sind nach wie vor wichtige gesellschaftliche Akteure. Sie müssen sich deshalb über die eigenen Grenzen hinaus an gesellschaftlichen Bündnissen für Familie beteiligen und dadurch auch als Anwälte von Familien erkennbar werden.