Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens
Gewaltsame Konflikte und zivile Intervention an Beispielen aus Afrika - Herausforderungen auch für kirchliches Handeln. EKD-Text 72, 2002
2. Dynamik der neuen Kriege
Ungerechtigkeit, Verletzung der Menschenrechte, Unterdrückung, Verwehrung von Selbstbestimmung, Mangel an politischer Mitwirkung, Ausschluss von wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Teilhabe können zweifellos als tieferliegende Gründe für gesellschaftliche und politische Konflikte gelten. Allerdings lässt sich daraus nicht schließen, dass diese Faktoren auch unmittelbar ursächlich für die gewaltsame Austragung von Konflikten sind. Es sind selten die Armen selbst, die Kriege anfangen. Kriege werden begonnen von einzelnen Personen oder kleinen Gruppen, die über den nötigen Zugang zu Waffen und Kriegsmaterial, zu Kommunikation und zu Finanzmitteln verfügen. Diese Gruppen oder Personen können Teile der Bevölkerung mobilisieren, so dass sie Waffen ergreifen und den bewaffneten Kampf unterstützen. Natürlich behaupten die meisten dieser Führer, ihr Kampf resultiere aus erlittenem Unrecht oder versagter Teilhabe.
Armut und knappe Ressourcen machen Bevölkerungen anfällig für Manipulation und Agitation. Arme und marginalisierte Menschen können so leicht für Kriegszwecke mobilisiert werden, obwohl sie die ersten Opfer von Kriegen sind: Die meisten Opfer zeitgenössischer Kriege sind arme Angehörige der Zivilbevölkerung, nämlich jene, die nicht in den Hauptstädten leben oder die Chance haben, im Ausland Zuflucht zu suchen. Die gewaltsame Austragung von Konflikten hat sich bislang sehr selten als Mittel erwiesen, das geeignet ist, Armut und Ungerechtigkeit zu überwinden, selbst dann nicht, wenn dies wirklich das Ziel der Gewaltanwendung war.
2.1 Die Bedeutung ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit
Die Faktoren, die zu einer gewaltsamen Austragung von inner- oder zwischenstaatlichen Konflikten führen, sind von Land zu Land verschieden. Auch wird es kaum je gelingen, alle Faktoren und Facetten gewaltsamer Konflikte zu erfassen. Auch ethnische und religiöse Unterschiede können zum Konfliktpotential von Gesellschaften beitragen. Ist Religion also, wie einige Kritiker meinen, auch eine Triebfeder für Krieg, Völkerhass, Mord und Gewalt? Alle Erfahrungen zeigen, dass Religion und ethnische Zugehörigkeit nicht unmittelbar ursächlich für die Eskalation von Konflikten oder für ihre gewaltsame Austragung sind. Sie werden allerdings oft für Macht- und Verteilungskämpfe instrumentalisiert und zur Legitimierung von Gewalt missbraucht. Dass dies möglich ist, liegt daran, dass jeder Konflikt nicht nur auf dem Kalkül von Eigeninteressen beruht, sondern auch eine emotionale Seite hat. Die Akteure vereinigen diese beiden Seiten in ihrem Handeln. Sowohl die Entscheidungsträger wie auch ihre Gefolgschaft haben eine nüchtern kalkulierte und eine emotionale Agenda. Die emotionale Agenda mag in Umbruchsituationen besonders stark sein, weil diese als Bedrohung des eigenen Selbstverständnisses, der eigenen Identität empfunden werden. Aber gerade in Umbruchsituationen lassen sich auch gute Geschäfte machen, so dass Identitätsfragen und materielles Vorteilsstreben auch und gerade in solchen Situationen eng miteinander verwoben sind.
In der Zeit des Systemkonflikts zwischen Kapitalismus und Kommunismus wurden nahezu alle bewaffneten Konflikte vorwiegend damit begründet, dass ein bestimmtes politisches und wirtschaftliches System auf der Grundlage einer säkularen politischen Ideologie durchgesetzt oder erhalten werden müsse. Auch dieser Begründungszusammenhang hatte eine emotionale Seite und beruhte gleichzeitig auf einem nüchternen Kalkül in Bezug auf die Unterstützung der eigenen Position. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat er jedoch seine Wirkung verloren.
Seit Anfang der 1990er Jahre wird an Stelle der politischen Ideologie oft Religion zu einem wichtigen Bezugspunkt in gewaltsamen Konflikten. Bei den Konflikten in Indonesien, in Nigeria oder im Sudan werden Gottesdienstgebäude zerstört, Menschen werden wegen ihrer Religionszugehörigkeit Opfer von Gewalthandlungen. In Ruanda haben sich Geistliche und Nonnen an Gewalthandlungen beteiligt. Im früheren Jugoslawien wird die Rolle der Kirchen und Glaubensgemeinschaften auch für die Entwicklung des politischen Bewusstseins in Konfliktsituationen kritisch hinterfragt.
Gewaltanwendung in Konflikten wird immer wieder mit der notwendigen Verteidigung der eigenen Religion, von heiligen Stätten und der eigenen religiösen Identität legitimiert. Besonders deutlich wurde dies in letzter Zeit in der Rechtfertigung von Terroranschlägen gegen Einrichtungen der USA durch die Berufung auf den „heiligen Krieg“. Auf der anderen Seite unterstützen auch fundamentalistische Christen in den USA den bewaffneten Kampf gegen die islamische Regierung des Sudan; fanatische Hindus in Indien begründen ihre Gewalt gegen Christen und Muslime mit religiösen Motiven. Religiös begründete Gewaltanwendung ist nicht auf den Islam beschränkt.
Neben einer Zunahme religiös legitimierter Gewaltanwendung bei Konflikten gab es in den letzten Jahrzehnten gleichzeitig verstärkte Bemühungen um den interreligiösen Dialog und um Verständigung zwischen den Religionen. Insbesondere der alle Religionen verbindende Impuls zur Friedensstiftung wurde als gemeinsames Fundament für ein „Weltethos“ betont. Aber diese, vor allem vom Westen ausgehenden Bemühungen um den interreligiösen Dialog haben bisher noch kaum Auswirkungen auf das Denken und Handeln von Religionsgemeinschaften in Afrika und Asien. Die Suche nach gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen an Friedensstiftung orientierten Rolle der Religionen wird vor allem in multiethnischen und multireligiösen Staaten Afrikas an der geografischen Schnittstelle von islamischer und christlicher Welt von Misstrauen und politischen Machtansprüchen überlagert. Insbesondere ist es nicht gelungen, die politisch Verantwortlichen in diesen interreligiösen Diskurs und die daraus abzuleitenden Folgerungen einzuschließen.
Die religiöse oder ethnische Begründung und Legitimation von Gewalthandlungen und die gewaltsame Austragung von Konflikten verändern die Dynamik und die Zielsetzung der Konfliktaustragung. Ein genauerer Blick auf die Dynamik zeitgenössischer gewaltsam ausgetragener Konflikte verdeutlicht dies und zeigt, wie sehr sich diese von früheren Kriegen unterscheiden:
- Kriegsführende Parteien und deren Führer begründen ihren bewaffneten Kampf zunehmend mit ethnischen, religiösen oder beides umfassenden Differenzen, um Gefolgschaft für den Krieg zu mobilisieren. Damit werden verschiedene Teile der Bevölkerung gegeneinander aufgehetzt.
- Die heutigen Kriege – auch wenn sie programmatisch als Befreiungskriege oder Antiregimekriege begründet werden – werden nicht auf Schlachtfeldern ausgefochten. Sie finden vielmehr im Lebensraum der Zivilbevölkerung statt. Städte und Dörfer, Märkte und Versammlungsorte wie Kirchen oder Moscheen, wichtige Straßen, öffentliche Plätze werden zu Kriegsschauplätzen.
- Das Leben eines jeden Einzelnen wird terrorisiert [12]. Kriegshandlungen richten sich in erster Linie gezielt auf den Teil der Zivilbevölkerung, der einer anderen Ethnie oder einer anderen Religion angehört. Dabei wird systematisch und bewusst gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen, das das Verhalten der Kriegsparteien im Kriege regeln soll.
Auf nationaler Ebene, jener Ebene, auf der die politischen Eliten agieren, dienen hehre Ziele wie Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenrechte oder Partizipation oft zur Mobilisierung für den Krieg und zur Legitimation der Gewaltanwendung.
Auf lokaler Ebene, dort, wo sich die Kriegshandlungen konkret auf das Leben der Menschen auswirken, werden die genannten Werte von allen Kriegsparteien mit Füßen getreten. Selbstbestimmung wird als Ethnokratie, also der Vorherrschaft einer sich selbst so definierenden ethnischen Gruppe, praktiziert; Gerechtigkeit weicht der Macht; Freiheit schlägt um in eine Enthemmung gegenüber dem Töten; Menschenrechte und Partizipation werden als Bedrohung kultureller Identität zurückgewiesen.
Die Folge dieser „neuen Kriege“ sind tief gespaltene Gesellschaften. Die Spaltung setzt sich bis in die Dorfgemeinschaften, Nachbarschaften und sogar Familien fort. Soziale Beziehungen und wirtschaftliche Strukturen werden zerstört, Lebenschancen vernichtet, Menschen traumatisiert.
Für die Bevölkerung ist es besonders schwer, sich aus dem Kriegsgeschehen herauszuhalten, wenn Gewalthandlungen damit begründet werden, dass die eigene „Ethnie“ oder die eigene „Religion“ gegen Angriffe verteidigt wird. Dies ist besonders häufig in multiethnischen und multireligiösen Staaten der Fall, deren Grenzen von externen Akteuren (in der Regel den Kolonialmächten) willkürlich gezogen wurden. In multi-ethnischen und multi-religiösen Staaten konstituiert ethnische oder religiöse Zugehörigkeit dann die primäre Gruppenzugehörigkeit, wenn es nach der Unabhängigkeit nicht gelang, eine gemeinsame „nationale Identität“ auszubilden. In den meisten Staaten Afrikas hat ein solcher Prozess des „nation building“ bislang nicht stattgefunden.
Im Gegensatz zu den säkularen Gesellschaften der industrialisierten Welt, in denen sich Identität an individuellen Werten wie Selbstverwirklichung, Erfolg, Reichtum oder individuellem „Glück“ herausbildet, spielen in afrikanischen Gesellschaften soziale Bindungen und Gruppenzugehörigkeit eine zentrale identitätsstiftende Rolle. Diese Gruppenzugehörigkeit wird von politischen oder wirtschaftlichen Akteuren ausgenutzt: Sie stärken ihre eigene Position dadurch, dass sie ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppe betonen und ihr Handeln damit begründen, sie würden die „Rechte“ ihrer Gruppe verteidigen. Sie denunzieren ihre Gegner, indem sie den Eindruck vermitteln, diese würden danach trachten, bestimmte ethnische oder religiöse Gruppen zu unterdrücken oder gar auszulöschen. Eine solche Begründung macht es dem Einzelnen beinahe unmöglich, sich gegen Gewaltanwendung zu stellen oder sich zu weigern, bei Gewalthandlungen mitzumachen. Täte er dies, würde er sich außerhalb der Gruppe stellen. Er verlöre mit seiner Gruppenzugehörigkeit ein zentrales Element seiner persönlichen Identität [13].
Dieses Vorgehen der Kriegsakteure kann als eine militante „Politik der Identität“ bezeichnet werden. Hierunter versteht Mary Kaldor in ihrem Buch „Neue und alte Kriege“ [14] „… den Machtanspruch, der auf der Grundlage einer besonderen, partikularen Identität erhoben wird, sei es die einer Ethnie, eines Clans, einer religiösen oder einer Sprachgemeinschaft.“
Die „neuen Kriege“ haben ihre Wurzeln im Missbrauch nationalstaatlicher Macht bzw. im Scheitern der Nationenbildung. Unter solchen Umständen lässt sich Hass auf „Fremde“ schnell mobilisieren. Bevölkerungsgruppen, die vorgeblich die eigene kulturelle, religiöse und politische Identität bedrohen und das wirtschaftliche Überleben der eigenen Gruppe gefährden, werden schnell als „Kriegsursache“ ausgemacht. Die Wirksamkeit dieser militanten Identitätspolitik beruht auf der Ausnutzung religiöser oder ethnischer Bindungen von Einzelnen.
Religion oder Ethnie sind nicht die Auslöser und nicht die grundlegenden Faktoren für die gewaltsame Austragung von Konflikten. Sie werden propagandistisch zur Legitimation von Gewaltakten missbraucht. Treibende Motive der meisten zeitgenössischen Kriege sind politische und wirtschaftliche Interessen bestimmter Gruppen. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen sind dies oft relativ kleine Machteliten. Politische Rivalitäten und wirtschaftliche Interessen verwandeln sich in Gewaltsysteme, in denen ethnische, regionale oder ideologische Selbst- und Fremdzuordnungen als Mittel im Streben nach Macht und Reichtum genutzt werden.
Im Laufe der gewaltsamen Austragung entwickeln diese Mobilisierungsmethoden eine Eigendynamik. Die erfahrene Gewalt, Grausamkeiten wie Mord, Vergewaltigung, Raub, Vertreibung und Zerstörung werden oft undifferenziert der anderen Gruppe als Ganzes zugerechnet und nicht mehr den spezifischen Tätern, wenn z. B. von Kriegshandlungen „der Hutu“ gegen „die Tutsi“ geredet wird. So wird als Resultat der Gewalt die religiöse oder ethnische Zugehörigkeit im Verlauf des Konflikts immer mehr zu einem bestimmenden Faktor, Versöhnung und eine friedliche Konfliktbeilegung werden dadurch erheblich erschwert, insbesondere nach lang andauernden Kriegen. Das durch Gewalthandlungen verursachte Misstrauen der verschiedenen religiösen oder ethnischen Gruppen gegeneinander lässt ein erneutes Zusammenleben in einer Gesellschaft nahezu unmöglich erscheinen, obwohl dies vor dem Ausbruch des gewaltsamen Konflikts oft Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte lang möglich war.
2.2 Das Verhältnis von „Staat“ und Gesellschaft in der Konfliktdynamik
2.2.1 Extern geschaffene Staaten
Historische Faktoren ebenso wie aktuelle politische und wirtschaftliche Dynamiken haben dazu geführt, dass nationale Identitätsbildung in afrikanischen Staaten in kaum einem Fall gelungen ist. Gewalthandlungen im Zuge der Staatenbildung bzw. der Erhaltung von Staaten haben statt zu einer einigenden „nationalen Identität“ zu einer radikalisierten und militanten religiösen oder ethnischen Identitätsabgrenzung geführt. Beides hat zur Zerstörung von Staaten beigetragen.
Ein entscheidender Faktor für die gewaltsame Austragung von gesellschaftlichen Konflikten liegt in der Aushöhlung von Staaten und staatlicher Autorität. Das ist besonders in den ehemaligen Kolonialgebieten Afrikas und Asiens zu beobachten. Viele der neuen Staaten reflektieren eher die Verwaltungsgrenzen der Kolonialreiche, aus denen sie hervorgingen, als die eigenen realen gesellschaftlichen Beziehungen der Bevölkerung oder deren vorkoloniale Geschichte. Dies stellt besonders hohe Anforderungen an die Aufgabe, die Bevölkerung zu einer Gesellschaft nach europäischem Vorbild im Wege der „Nationenbildung“ zu integrieren. Tatsächlich kam es im Zuge der politischen – zum Teil auch unter Anwendung von Gewalt – durchgesetzten Entkolonisierung nur ansatzweise zur Herausbildung eines Bewusstseins der „nationalen“ Zusammengehörigkeit. Mit dem Ende der Entkolonisierungskämpfe wurden der Staat, seine Strukturen, Institutionen und Ressourcen aber mehr und mehr dazu missbraucht, die Herrschaft bestimmter gesellschaftlicher Gruppen durchzusetzen. Dabei spielte die Unterstützung dieser Partikularinteressen durch externe politische und wirtschaftliche Interessen eine zentrale Rolle. Die Machteliten pflegten einerseits eine Rhetorik des Nationalismus, schufen aber andererseits ein klientelistisches Beziehungsgefüge, das sich auf die faktische Spaltung der Gesellschaften in politisch, ethnisch, religiös oder regional definierte Gruppen stützte.
Die Idee des „Nationalismus“ in Afrika war anfänglich allein durch den Widerstand gegen die Kolonialmächte geprägt. „Nationalismus“ definierte sich in dieser Phase negativ in der Ablehnung der Kolonialmächte. Nachdem der Prozess der Unabhängigkeit mit der Etablierung des „Staates“ erfolgreich abgeschlossen war, standen die neuen Regierenden mit wenigen Ausnahmen ohne eine positive Idee von politischer Gemeinschaft da. Die Vorstellung, es werde gelingen, im Zuge nachholender Entwicklung und durch Imitation europäischer Modelle die Bevölkerung kolonial abgegrenzter Territorien zu einer politischen Gemeinschaft zusammenzufügen, sind bis auf wenige Ausnahmen misslungen. Es erwies sich als schwierig, unterschiedliche Gruppen mit verschiedenen Sprachen, Kulturen, Glaubensrichtungen, Überzeugungen, Wirtschaftsformen und Lebensstilen zusammenzuführen; denn alle diesbezüglichen Versuche waren immer auch mit Herrschaftsinteressen und Verteilungskonflikten verbunden. Die Eliten der neuen Staaten wurden im Kontext des Ost-West-Konfliktes sehr schnell in die Interessen ihrer früheren Kolonialherren oder der Supermächte eingebunden. Die Mehrheit der Regierenden dieser neuen „unabhängigen“ Staaten sind hauptsächlich daran interessiert, die partikularen Interessen ihrer Klientel zu befriedigen und sich an der Macht zu halten. So wurde die berühmte Erklärung der Vereinten Nationen von 1960 zum Recht aller Völker auf Selbstbestimmung zur Grundlage neuer ungerechter Herrschaftsformen uminterpretiert.
Innerhalb des bestehenden Systems internationaler Beziehungen war es für die politischen Eliten der neu geschaffenen Staaten wichtig, von jenen Staaten anerkannt – und dadurch legitimiert – zu werden, von denen sie die Mehrheit der Ressourcen erwarteten und auch erhielten.
Für diese Eliten war es von geringer Bedeutung, ob ihre Machtausübung von ihrer eigenen Gesellschaft als legitim empfunden und anerkannt wurde. Bis heute ist die Anerkennung durch andere Staaten unverändert das wichtigste Kriterium für die Existenz eines Staates und die Erreichung der internationalen Anerkennung das vorrangige Ziel der politischen Eliten jener Einheiten, die diese noch nicht errungen haben. Nur in wenigen Fällen wurde nach der Unabhängigkeit ehemaliger Kolonialterritorien so etwas wie eine Nation geschaffen. Es ist bei unterschiedlich definierten Gruppen geblieben, die um Zugang zu Ressourcen und Macht gegeneinander im Wettstreit liegen, wobei sie gelegentlich fragile taktische Allianzen eingehen.
Die Herrschenden in diesen klientelistischen Staaten sind seit dem Ende der Ost- West-Konfrontation immer weniger in der Lage, diese „Staaten“ aufrecht zu erhalten. Es gelingt ihnen nicht mehr, durch Loyalitätserklärungen gegenüber dem einen oder anderen Block die erforderlichen Ressourcen für die Unterhaltung ihrer klientelistischen Beziehungssysteme, auf die sie ihre Macht stützten, zu mobilisieren. Die „Sicherheit“ der Staaten, die die jeweiligen Machthaber in der Vergangenheit durch die Ruhigstellung einzelner Interessengruppen durch Kooptation, oder (häufiger) durch deren Repression erreichen konnten, bricht unter dem wachsenden Druck schwindender Ressourcen zusammen. Die Herrschenden hatten nicht die Fähigkeit und das Bewusstsein dafür entwickelt, den Erhalt des Staates dadurch zu gewährleisten, dass der „Staat“ als Instrument für die Befriedigung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedürfnisse der Bevölkerung wahrgenommen und genutzt wird.
Mit dem Fall der Mauer und dem Wegfall des zuvor alles bestimmenden Ost-West- Konfliktes verloren die großen politischen und wirtschaftlichen Mächte das Interesse an der Unterstützung der Regime solcher fragiler und nur autoritär zusammengehaltener Staaten, die bis dahin vor allem aus geo-politischen Gründen von den beiden Systemblöcken geleistet wurde. In den letzten Jahrzehnten wurden stattdessen die Staatsapparate durch die verordneten Strukturanpassungsprogramme erheblich geschwächt.
Die teils von außen angestoßene Demokratisierung in einigen dieser Länder kann über die Brisanz dieser Entwicklung nicht hinwegtäuschen. Die Einführung von Demokratie wurde nicht nur weltweit propagiert, sondern auch über die Konditionalisierung von Hilfe forciert. Dem lag und liegt von westlicher Seite unter anderem die Erwartung zugrunde, dass „Demokratisierung“ zur Überwindung kollektiver Gewalt in sozialen Konflikten führen werde. Die Zahl sogenannter „demokratischer Staaten“ hat zwar seit den 1970er Jahren zugenommen mit der Folge, dass es heute mehr Staaten als jemals zuvor gibt, denen ein gewisses Maß an Demokratie zugeschrieben wird. Bei genauerer Betrachtung erweist sich aber Vieles an den Demokratisierungsprozessen als oft nur dünne Schicht formaler Prozeduren über politischen und sozialen Strukturen, die sich seit den Tagen der autoritären Regime kaum geändert haben. Viele dieser sogenannten Demokratien sind nach wie vor von kleinen Eliten dominiert, die allenfalls eine stark eingeschränkte Partizipation erlauben. Einen treffenden Ausdruck findet dieser Sachverhalt in dem von der gegenwärtig regierenden Partei in Äthiopien eingeführte Begriff der „loyalen Opposition“. Es fanden kaum substantielle Reformen des politischen und administrativen Systems statt, die dessen Fähigkeit gestärkt hätten, auf die Bedürfnisse und Erwartungen der weiterhin ausgeschlossenen Bevölkerung einzugehen. Das hat zur Folge, dass sich die innenpolitischen Auseinandersetzungen in vielen der betroffenen Staaten verschärft haben. Demokratisierung kann dadurch selbst zum Risiko einer gewaltträchtigen Destabilisierung beitragen. Dementsprechend ist also keineswegs sicher, dass der Demokratisierung stets die Demokratie folgt. Demokratisierung kann auch in „defekten“ Reformen stecken bleiben wie im heutigen Russland, oder in lang andauernde Kriege münden wie in Teilen Afrikas und Asiens.
2.2.2 Die Rolle von Regierung, Opposition und Gesellschaft in Konflikten
Staaten sind abstrakte Gebilde. Nicht „der Staat“ an sich handelt. Es sind immer Menschen – Individuen und Gruppen – die Entscheidungen treffen. Im Blick auf Staatsbildungsprozesse lassen sich zwei Hauptkategorien von Akteuren gesellschaftlichen Handelns unterscheiden:
Die Regierung
Von der Regierung wird erwartet, dass sie im Interesse der ganzen Gesellschaft, ihres Schutzes und ihres Erhalts handelt und die Interessen des Staates nach außen vertritt. Als Schnittstelle zwischen dem Staat und der internationalen Gemeinschaft hat sie eine Schlüsselposition inne. Die Fähigkeit einer Gesellschaft, Konflikte konstruktiv und gewaltfrei auszutragen, hängt unter anderem auch davon ab, inwieweit Regierungshandeln interne Souveränität – also als legitim anerkannte Handlungsfähigkeit – schafft. In vielen Entwicklungsländern sind die politischen, ökonomischen und militärischen Eliten weitgehend identisch. In vielen der als „schwach“ oder „versagend“ beschriebenen Staaten tragen Regierungen maßgeblich zur Aushöhlung des Staates bei, indem sie staatliche Autorität, die Institutionen und die Ressourcen des Staates zur persönlichen Bereicherung oder zur Befriedigung von partikularen Gruppeninteressen missbrauchen.
Die Zivilgesellschaft
Seit Beginn der 1990er Jahre engagieren sich in Afrika politische und zivilgesellschaftliche Kräfte zunehmend und reklamieren ihr Recht, an der Gestaltung politischer Prozesse mitzuwirken. Vielfach sind sie motiviert durch die Erfahrung, ausgeschlossen zu sein von Prozessen, die sich auf ihr Leben unmittelbar auswirken. Der Kampf um „Inklusion“ kann sich dabei auf eine Förderung allgemeiner Partizipation und umfassender Demokratisierung (Gewaltenteilung, öffentliche Kontrolle von Regierungshandeln, Durchsetzung von Rechenschaftspflichtigkeit) richten, schließt aber nicht aus, dass es in einzelnen Fällen in erster Linie nur darum geht, an der Macht und den damit verbundenen Privilegien teilzuhaben. Eine genaue Einzelfallbetrachtung ist also notwendig. Wenn die sich herausbildende politische Opposition den Machtwechsel gewaltsam zu erzwingen sucht, führt dies selbst bei erfolgreicher Regierungsübernahme nicht notwendig zu ökonomisch und politisch besseren Verhältnissen für das Volk. Bisher hat Gewalt immer wieder eine Eigendynamik entfaltet, in der partikulare Machtinteressen im Vordergrund standen, die ihrerseits mit Gewalt verteidigt werden.
Die Mehrheit der Bevölkerung Afrikas, Lateinamerikas und Asiens hat selten positive Erfahrungen mit dem Staat und seinen Strukturen gemacht. In den meisten Fällen ist es nicht der Staat, der den Bürgerinnen und Bürgern Dienstleistungen in den sozialen Bereichen erbringt. So grundlegende Dienste wie medizinische Grundversorgung, Bildung und Ausbildung, Nahrungssicherung, Wasser- und Abwassermanagement usw. werden sehr häufig von privaten lokalen und externen Trägern wie Kirchen, NRO und Selbsthilfeinitiativen organisiert, finanziert und ausgeführt.
Auch im Blick auf staatliche Sicherheitsorgane haben Bürgerinnen und Bürger häufig negative Erfahrungen: Willkür, Verfolgung, Verhaftung, Korruption und gravierende Menschenrechtsverletzungen sind in vielen Ländern eher die Regel als die Ausnahme. In weiten Teilen der Welt haben die Angehörigen der Zivilgesellschaft die Erfahrung gemacht, dass sie sich eher vor dem Staat schützen müssen, als dass der Staat sie schützt. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass große Teile der Bevölkerung versuchen, den Kontakt mit staatlichen Strukturen zu vermeiden. Sie ziehen sich in den privaten Raum zurück und verlassen sich bei der Sicherung ihres Überlebens eher auf traditionelle soziale Beziehungssysteme, private Netzwerke und den informellen ökonomischen Sektor. Oft versuchen solche Gruppen, gewaltsamen Konflikten auszuweichen. Zu jedem Zeitpunkt eines Konfliktes gibt es Bevölkerungsteile, die sich aus dem Kriegsgeschehen heraushalten. Insbesondere Frauen versuchen meist, sich der Konfliktdynamik zu entziehen und auf diese Weise ihre Familien zu schützen. Zu jedem Zeitpunkt ist die Zahl der Menschen, die sich nicht an Gewalthandlungen beteiligt, größer als die Zahl der aktiv Kämpfenden.
Die Dynamik eines Krieges kann auch dazu führen, dass die Zustimmung zu Gewaltanwendung abnimmt. In Afghanistan gab es während des Krieges gegen die sowjetische Besetzung eine breite Zustimmung für den Krieg. Diese Haltung änderte sich aber, je mehr er unter den Afghanen selbst geführt wurde, je länger der Krieg dauerte, je unklarer die Ziele der Kriegsakteure wurden und je mehr sich der Krieg auf das Leben jedes Einzelnen auswirkte. Immer mehr Menschen bezeichneten den Krieg später als „sinnlos“. Sie vermochten kein für sie relevantes Ziel mehr zu erkennen, dem der Krieg noch dienen sollte.
2.2.3 Die Zerstörung von Staaten
Innerhalb der Eliten führt die Konkurrenz um knapper werdende Ressourcen bei wachsenden Schwierigkeiten, staatliche Funktionen und Strukturen durch das Ausland finanziert zu bekommen, zu Konflikten, die häufig unter Gewaltanwendung ausgetragen werden. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen werden bestehende Ansätze zur Schaffung eines staatlichen Gewaltmonopols und zur gesetzeskonformen Regulierung der Sozialbeziehungen ausgehöhlt und schließlich aufgegeben. Die politische Krise beschleunigt den wirtschaftlichen Kollaps, Gewalt wird zum normalen Instrument der Konfliktaustragung, wenn nicht zu einer Lebensform der Angehörigen des Staatsapparates und der von ihnen Abhängigen.
Wenn der Staat zunehmend weniger in der Lage ist, Grundfunktionen wie eine zumindest ansatzweise funktionierende Verwaltung, die Erhaltung des Gewaltmonopols und die Sicherheit der Bürger und Bürgerinnen entsprechend der konventionellen Definition von Sicherheit zu liefern, verliert er auch seine „externe Souveränität“. Dieses zeigt sich darin, dass andere Staaten und internationale Institutionen immer zurückhaltender werden, weiter politische und materielle Unterstützung zu gewähren. Die Konditionalisierung von Unterstützung soll Druck für notwendige Reformen erzeugen. Mit dem Verlust auch der externen Legitimierung verlieren die politischen Akteure weiter an Glaubwürdigkeit, können sie doch die Befriedigung der Interessen der sie unterstützenden Partikulargruppen nicht mehr effektiv organisieren. Letztere greifen dann häufig zu Gewalt als Mittel, ihre Interessen nun auch gegen ihre früheren Interessenvertreter durchzusetzen.
Die Folgen dieser Aushöhlung des Staates und der damit verbundenen gewaltsamen Konflikte sind in der Regel großflächige materielle Zerstörungen, die Vertreibung von Bevölkerungsteilen innerhalb von Ländern und über Grenzen hinweg, Armut, Vergeudung von Ressourcen und Umweltzerstörung. Interner Krieg, verbreitete Gewaltanwendung und massive Menschenrechtsverletzungen lösen Wanderungsbewegungen und Flüchtlingsströme aus. Die nicht politisch organisierte Bevölkerungsmehrheit zieht sich noch stärker auf ihre unmittelbaren Beziehungssysteme und private Netzwerke zurück, um ihr Überleben zu sichern. Das Vertrauen, dass ein „Staat“ irgendeinen Zweck erfüllen kann, der ihr etwas bedeutet, hat sie vollends verloren. Solche Prozesse hinterlassen tief gespaltene Gesellschaften. Die Bevölkerung eines solchen Staatsgebietes ist noch weiter davon entfernt, so etwas wie eine „politische Gemeinschaft“ zu sein, als sie es vorher war.
Der Wiederaufbau von Gesellschaft und Staat nach solchen Prozessen der Staatszerstörung kann nur im Rahmen langfristiger und umfassender Transformationsprozesse erreicht werden. Sie können von außen nur dann wirkungsvoll unterstützt werden, wenn diese Unterstützung allen gesellschaftlichen Gruppen zu Gute kommt, Vertrauen zwischen den Gruppen aufbaut und die Zusammenarbeit unter ihnen stärkt.
2.3 Kriegsökonomien
2.3.1 Finanzierung der Kriege
Die Brutalität, mit der heute Konflikte in allen Teilen der Welt ausgetragen werden, erscheint als Rückfall in atavistische Verhaltensweisen, die nicht nur in krassem Gegensatz zu unseren Moralvorstellungen stehen, sondern auch dem wohlverstandenen Eigeninteresse der Konfliktparteien zu widersprechen scheinen. Friedensforscher haben immer wieder vorgerechnet, dass Krieg sich nicht auszahlt. Dabei wurde ebenso auf die Zerstörungen durch Kriege wie auf ihre Opportunitätskosten verwiesen. Wenn sie dennoch geführt wurden, dann nicht deshalb, weil immer wieder die Irrationalität gegenüber dem triumphierte, was eine Politik der rationalen Wahl vorgegeben hätte, sondern weil jede rationale Wahl unauflöslich mit subjektiven Ideen und Vorstellungen über das eigene Interesse und die eigene Rolle in Konflikten und damit über Kosten und Nutzen der Gewalt verbunden war und ist. Der Krieg selbst – nicht erst der erhoffte Sieg – ist heute in vielen Fällen mit erheblichen wirtschaftlichen Vorteilen für die Kriegsherren verbunden. Er bietet wirtschaftliche Gewinne, die nur in einem rechtsfreien Raum zu realisieren sind und die im Frieden nicht möglich wären. Nur der Krieg erlaubt ihnen die gewaltsame Kontrolle über Naturschätze, Rohstoffe und Menschen und deren rücksichts- und erbarmungslose Ausbeutung. Hierin unterscheiden sich die gegenwärtigen Kriege in Afrika, Asien und Lateinamerika keineswegs von den Kriegen, die in Europa geführt worden sind.
Der Direktor der Arbeitsgruppe Entwicklungsforschung der Weltbank, Paul Collier, geht sogar noch einen Schritt weiter. Er vertritt die These, dass die meisten Rebellenorganisationen eher eine Form organisierter Kriminalität darstellen. Die eigentliche Antriebsfeder von Kriegsakteuren sei die Gier ihrer Führer und deren eigentliches Ziel die hemmungslose materielle Bereicherung [15]. Der vorgebliche Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, oder die Verteidigung der Ethnie oder der Religion sei nichts anderes als Propaganda und „ideologischer Überbau“. Er diene nur zur Mobilisierung einer Gefolgschaft und zum Zusammenhalt der eigenen Truppen, zur Legitimierung von Gewalthandlungen und zur Verschleierung der eigentlichen Absichten. Größere Rebellenorganisationen würden zu diesem Zweck – ebenso wie manche Regierungen in gewaltsamen Konflikten – auch professionelle Werbeagenturen engagieren. Ethnische und religiöse Unterschiedlichkeit in einer Gesellschaft sei nicht unbedingt ein Risikofaktor. Allerdings könne Religion und Ethnie ein wichtiger Risikofaktor für gewaltsame Konflikte sein, dann nämlich, wenn es in der Gesellschaft eine dominante Gruppe gibt, die zwischen 45% und 90% der Gesamtbevölkerung ausmacht. Collier sieht vor allem folgende Risikofaktoren als ausschlaggebend für gewaltsame Konflikte an: Eine hohe Abhängigkeit eines Landes von Rohstoffexporten, hohes Bevölkerungswachstum, niedrige Schulbildung, negatives Wirtschaftswachstum und frühere Bürgerkriege sowie eine relativ große und wohlhabende Diaspora.
Diese rein ökonomische Sichtweise der Dynamik innerstaatlicher gewaltsamer Konflikte wird sicher anderen wichtigen Aspekten und Ursachen gewaltsamer Konflikte nicht ganz gerecht. Sie erinnert aber zurecht an die eigentlich banale Tatsache, dass ohne einen verlässlichen und langfristigen Zugriff auf wirtschaftliche Ressourcen Konflikte nicht in kriegerischem Ausmaß ausgetragen werden können. Einen Krieg zu führen, insbesondere die Bewaffnung und der Unterhalt einer Armee, kostet sehr viel Geld. Mindestens mehrere hundert, meist mehrere Tausende Kämpfer – FARC in Kolumbien unterhält eine Armee mit ca. 12 000 Kämpfern – müssen ausgebildet, ausgerüstet und unterhalten werden, damit ein gewaltsamer Konflikt bürgerkriegsähnliche Ausmaße erreicht. Manche Rebellenorganisationen wie die FARC in Kolumbien finanzieren sich durch Drogenhandel, durch Kidnapping und Erpressung. Durch diese Aktivitäten nimmt die FARC nach Schätzungen der Weltbank schätzungsweise 700 Mio. US Dollar jährlich ein.
Auch ein noch so archaisch anmutendes Gewaltgeschehen im entferntesten Winkel der Erde ist heute mit dem Weltmarkt verbunden. Auf den globalen Märkten werden die Waffen gekauft, die zur Kriegführung erforderlich sind. Der Zugang zum globalen Markt macht die Gewaltherrschaft über Naturschätze und Produkte profitabel. In den Kriegen in Angola und Sierra Leone finanzieren lokale Kriegsherren ihre marodierenden Banden u. a. mit dem Verkauf von Diamanten auf dem Weltmarkt. Auch Erdöl spielt bei der Finanzierung von Kriegen eine große Rolle.
Das Interesse der Industrieländer an bestimmten Rohstoffen und Mineralien führt zur direkten oder indirekten Unterstützung von Bürgerkriegsparteien, um auf diese Weise eine günstige Ausgangsposition für den Zugang zu und die Kontrolle über diese Rohstoffe zu erlangen. Der Krieg im Kongo verschafft den Nachbarstaaten, die militärisch darin eingegriffen haben, nicht nur eine lukrative Kriegsbeute. Im Zusammenspiel mit Industriestaaten ergibt sich aus dieser militärischen Intervention die Möglichkeit, wichtige Mineralien kostengünstig auszubeuten und auf dem Weltmarkt zu handeln.
Kriegswirtschaften sind also für die beteiligten Konfliktparteien und für lokale Eliten oft ein einträgliches Geschäft und ein Anreiz, den Krieg oder zumindest den Zustand eines rechtsfreien Raumes aufrechtzuerhalten.
Der Krieg in Angola wird auf der einen Seite durch den Verkauf von Diamanten auf dem Weltmarkt finanziert, die die UNITA auf ihrem Gebiet schürft, auf der anderen Seite durch den Verkauf von Öl oder Fischfanglizenzen, den die offiziell regierende MPLA kontrolliert. Darüber hinaus besteht aber auch ein Handel zwischen den beiden Kriegszonen. So durchqueren Menschen aus blanker Not die Fronten, um agrarische Produkte aus der UNITA-Zone gegen Industriewaren, Medizin (Penicillin) oder auch Waffen aus der MPLA-Zone zu tauschen.
Ein Beispiel dafür ist der Krieg in Angola, der bisher drei international vermittelten Waffenstillstandsabkommen getrotzt hat. Aus einem ideologischen Stellvertreterkrieg wurde im Lauf der Jahre ein Krieg um Naturprodukte zwischen rivalisierenden Gruppen. So hatte z. B. Savimbi, der kürzlich bei Kampfhandlungen ums Leben gekommene Führer der angolanischen Rebellenorganisation UNITA, Schätzungen zufolge während des ersten Bürgerkriegs ein Vermögen von über vier Milliarden Dollar vorwiegend aus dem Handel mit Diamanten angehäuft. Dieses Vermögen hat es ihm ermöglicht, den zweiten Bürgerkrieg zu beginnen, der der UNITA durch die Gewaltherrschaft über Diamantenminen allein in den ersten beiden Jahren wiederum mehr als zwei Milliarden US Dollar einbrachte.
Die Verbindung mit dem Weltmarkt erfolgt nicht nur durch die Finanzierung von Waffenkäufen und die Realisierung von Kriegsgewinnen durch Rohstoffe, sondern auch durch die wirtschaftliche Nutzung einer spezifischen Folge des Kriegsgeschehens, der Migration. Die Menschen, die sich dem Kriegsgeschehen entziehen wollen, haben vielfach keine andere Alternative als die, sich Menschenschmugglern anzuvertrauen, die sich als „Global Players“ aufführen und rühmen, jeden Menschen an jeden Ort der Welt verfrachten zu können. Dabei werden beachtliche und offenbar rasch steigende Gewinne erzielt. Auch hier wird deutlich, dass sich viele der gegenwärtigen Konflikte durch eine Vermischung von politischem mit kriminellem Handeln auszeichnen und durch eine zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen politischen oder militärischen Zielen und kriminellen wirtschaftlichen Aktionen.
Die wirtschaftlichen Vorteile, die sich insbesondere für die Führer der Kriegsparteien aus den Kriegsökonomien ergeben, müssen bei allen externen Anstrengungen, zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln, stärker berücksichtigt werden. Der Friedenswille der Führer von Kriegsparteien ist vermutlich nicht stark ausgeprägt, wenn sie durch die Aufrechterhaltung der Kriegshandlungen mehr und mit größerer Sicherheit wirtschaftlich profitieren als dies von einer friedlichen Nachkriegsära zu vermuten ist. Das gilt im Übrigen nicht nur für Rebellenführer, sondern auch für Regierungen. Solange z. B. die Regierung des Sudan mit circa 1,5 – 2 Mio. US Dollar täglich aus Öleinnahmen rechnen kann, die sie nicht im Staatshaushalt ausweist, hat sie kein großes Interesse am Frieden, der dazu führen würde, dass diese sichere Einnahmequelle mit anderen geteilt und die Einkünfte ordentlich im Haushalt ausgewiesen werden müssten. Vermittlungsversuche im langjährigen Bürgerkrieg im Sudan, die sich vor allem auf die religiösen und ethnischen Konfliktfaktoren konzentrieren, haben deshalb wenig Aussicht auf Erfolg, wenn diese wirtschaftlichen Interessen nicht berücksichtigt werden. Deshalb gilt auch hier, was die Synode der EKD in ihrer Kundgebung „Globale Wirtschaft verantwortlich gestalten“ in Hinblick auf den Schutz der Umwelt und die Sicherung von guten Arbeitsbedingungen gesagt hat(16): Wirtschaft und Politik müssen gemeinsam dazu beitragen, die Möglichkeiten einer gewaltsamen Austragung von Konflikten zu verringern.
2.3.2 Der Handel mit Kleinwaffen
Eine Vermischung von legalem und kriminellem Handeln zeichnet insbesondere auch den Waffenhandel aus. Die heutigen Kriege werden vor allem mit sogenannten Kleinwaffen ausgetragen, die zwischen den verschiedenen Krisengebieten oder Industrieländern und Kriegsgebieten gehandelt werden. Der Begriff Kleinwaffen umfasst sowohl Handfeuerwaffen als auch „ … leichte Bewaffnung, Munition und Explosivstoffe, die von einer oder zwei Personen bedient und transportiert werden können oder in kleinen Fahrzeugen bewegt werden können.“ [17] Kleinwaffen kommen oft aus staatlichen Altbeständen oder aus Neuproduktionen in europäischen Ländern oder werden in Lizenzproduktion in Nachbarländern hergestellt. So werden z. B. belgische Maschinengewehre und Munition in Kenia legal in Lizenz für den heimischen Markt, also die kenianische Armee, produziert. Obwohl Besitz und Handel solcher Waffen auch in Kenia gesetzlich geregelt sind, gibt es keine ausreichende öffentliche Kontrolle, die einen ungesetzlichen Handel dieser Waffen effektiv unterbindet.
Diese Kleinwaffen haben eine große zerstörerische Wirkung. Sie sind inzwischen zu den Massenvernichtungswaffen der „neuen Kriege“ geworden. Die immense Verbreitung und leichte Verfügbarkeit der Kleinwaffen und die riesigen Waffen- und Munitionsbestände bedrohen in erster Linie die Überlebenschancen der Zivilbevölkerung. Mit Kleinwaffen kann systematischer Terror gegen die Zivilbevölkerung ausgeübt werden, der die Menschen aus Furcht vor weiteren Attacken in die Flucht treibt. Die Zahl der vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) betreuten Flüchtlinge stieg von 13 Millionen im Jahr 1973 auf 22,7 Millionen in 1997, die Zahl der intern Vertriebenen weltweit wird auf über 40 Millionen geschätzt.
Ein besonderes Problem stellt der illegale Handel mit Kleinwaffen dar, dessen Anfänge aber im legalen Kleinwaffengeschäft liegen, bei dem die westlichen Demokratien (auch über umfangreiche Lizenzvergabe) neben der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor den Löwenanteil stellen. Gerade die westlichen Demokratien haben es also in der Hand, den Nachschub für den Kleinwaffenmarkt einzuschränken. Die UN, die EU, die Organisation Amerikanischer Staaten und die G 8 haben sich dieser Problematik seit Mitte der 1990er Jahre angenommen. Bisher ist es aber weitgehend bei der Problemanzeige sowie der Ausarbeitung von Willensbekundungen geblieben. Als Teil einer demokratischen Friedenspolitik ist hier mit allem Nachdruck eine konsequente Umsetzung dieser Willensbekundungen zu fordern. Konkrete Vorschläge dafür, was hier geschehen könnte, sind u. a. vom Bonn International Conversion Center (BICC) in Verbindung mit UNICEF und amnesty international ausgearbeitet worden.
Die Austrocknung der illegalen Waffenmärkte begegnet denselben Schwierigkeiten wie die Kontrolle der internationalen organisierten Kriminalität. Der eigentliche Grund für diese Schwierigkeiten liegt jedoch nicht in der Heimlichkeit der in diesem Rahmen entfalteten Aktivitäten, sondern in ihrer Vermischung mit legalen Wirtschaftsaktivitäten. Die auf dem Markt befindlichen Kleinwaffen werden von Kriegsparteien erworben, die ihrerseits das Geld für die Waffenkäufe nicht nur durch den legalen oder illegalen Rohstoffexport, sondern auch durch Drogen- und Menschenhandel erwirtschaften. Dies unterstreicht die Dringlichkeit, bisherige Bemühungen zur Eindämmung der Geldwäsche auch im Zusammenhang mit der Bekämpfung des illegalen Waffenhandels und der Finanzierung von Kriegen substantiell auszuweiten [18].
2.4 Risiken der Entwicklungszusammenarbeit und Katastrophenhilfe
2.4.1 Hilfemärkte
Humanitäre Hilfsorganisationen sowie die Entwicklungsorganisationen, die in Gebieten mit gewaltsamen Konflikten arbeiten oder dort Projekte fördern, stehen immer wieder vor ethischen Dilemmata, denn sie können die Folgen ihres eigenen Handelns nicht immer kontrollieren. Hilfsorganisationen wollen die notleidende Bevölkerung schützen, ihr das Überleben in einem gewaltsamen Konflikt ermöglichen. Mit Nahrungsmittelhilfe in Hungergebieten und mit der Aufrechterhaltung von Gesundheitsdiensten soll der Zivilbevölkerung geholfen werden, die Opfer der Kriegshandlungen geworden ist. Doch diese Hilfe, von der oft das Überleben von Hunderttausenden oder gar Millionen von Menschen abhängt, wird von kriegsführenden Parteien in ihr militärisches Kalkül miteinbezogen. Diese zynische Politik der Machthaber hat in einigen Fällen dazu geführt, dass humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe ungewollt geradezu die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass bestimmte Kriegshandlungen durchgeführt werden können.
Den Hilfsorganisationen wird von den Konfliktparteien immer wieder ein Teil der Hilfsgüter für ihre eigenen Zwecke abgepresst. Güter und Projekte der Hilfsorganisationen können von den Kriegsparteien so gelenkt werden, dass sie Teil ihrer eigenen Kampfstrategie werden oder zur Finanzierung des Krieges beitragen.
Im Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea (1998 – 2000) war allen Gebern von Hilfe klar, dass ihre Hilfe direkt oder indirekt von der Regierung Äthiopiens genutzt wurde, sei es um eigene Ressourcen in die Kriegführung umzulenken, die andernfalls zur Versorgung der eigenen Bevölkerung hätten verwendet werden müssen, sei es um aus der Vermietung von Infrastruktur und Lastwagen für den Transport von Hilfsgütern Devisen einzunehmen, die wiederum der eigenen Kriegsanstrengung zugute kamen.
In den meisten der derzeitigen Kriege kann nicht davon ausgegangen werden, dass die kriegsführenden Parteien – auch nicht die Regierungen – die Zivilbevölkerung schützen wollen und sich für die Bevölkerung verantwortlich fühlen. So sprach z. B. die äthiopische Regierung die Verantwortung für die Versorgung und das Überleben der hungernden Bevölkerung im Süden des Landes während ihres Krieges mit Eritrea ganz unverblümt der internationalen Staatengemeinschaft zu.
Während der Hungerkatastrophe 1998 im Sudan klagten Hilfsorganisationen über die exorbitanten Gebühren der sudanesischen Regierung für die Benutzung von Hafenanlagen, Straßen und Flughäfen. Auch die Kämpfer der Befreiungsbewegung im Südsudan erlangten traurige Berühmtheit dadurch, dass sie nach der Verteilung von Notrationen den Empfängern diese teilweise wieder abnahmen, während gleichzeitig die politische Führung der Bewegung durch das gegenseitige Ausspielen von Hilfsorganisationen für sich Vorteile herauszuholen bemüht war.
In Somalia stieg während der großen Hilfsoperation 1992 bis 1995 die Zahl der „War Lords“ und Milizen proportional zur Zahl der dort operierenden Hilfsorganisationen – und sie fiel proportional mit der abnehmenden Zahl internationaler Hilfsorganisationen, als die UN und in ihrem Gefolge die meisten Organisationen das Land 1995 wieder verließen. Die Experten sind sich darüber einig, dass die unerlässliche Nothilfeoperation in Ostkongo nach dem Völkermord in Ruanda zum Überleben Hundertausender beigetragen hat. Gleichzeitig hat sie allerdings der für den Genozid verantwortlichen Partei Gelegenheit, Raum und Ressourcen für die Reorganisation ihrer Milizen geboten.
Der Problematik des Missbrauchs der Hilfe durch lokale Kriegsparteien sind sich viele – leider nicht alle – humanitäre Hilfsorganisationen bewusst. Als eine Möglichkeit, diese Gefahr zu reduzieren, haben sich einige große Nothilfeorganisationen, darunter auch Caritas International und Diakonie Katastrophenhilfe durch Unterzeichnung eines Code of Conduct (CoC) zu Neutralität verpflichtet(19). Der CoC kann zwar den Missbrauch von Hilfsprogrammen durch Konfliktparteien nicht verhindern, da er diese nicht bindet und nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Kriegsparteien die von den Hilfsorganisationen reklamierte Neutralität in Konflikten respektieren. Die Selbstverpflichtung der Hilfsorganisationen kann diese aber bei konsequenter Berücksichtigung und gemeinsamer Anwendung davor bewahren, einseitige und damit konfliktfördernde Maßnahmen durchzuführen. Sie kann die Kriegsparteien entmutigen, die Hilfsorganisationen in ihre Interessen einzubinden.
Die konsequente Umsetzung des Code of Conduct und das Festhalten am Prinzip der Neutralität wird allerdings oft auch dadurch erschwert, dass sich immer wieder Hilfsorganisationen finden, die den Erpressungsversuchen lokaler Kriegsparteien nachgeben, teils aus allgemeiner oder konkreter Unerfahrenheit am Ort, teils aus Opportunität, um sich am Ort eines medienträchtigen Geschehens zu halten.
Ein Beispiel dafür, wie solch striktes Einhalten der Neutralität wirken kann, bietet das von der Caritas International Deutschland und Diakonie Katastrophenhilfe gemeinsam unterhaltene Büro Diakonie Caritas Germany DCG (heute Diakonie Bread for the World Germany – DBG) in Mogadischu, das sich kontinuierlich geweigert hat, einseitig zugunsten des einen oder anderen Clans Partei zu ergreifen, oder den Konfliktparteien das erwünschte Mitspracherecht einzuräumen, wo und wem sie Hilfe angedeihen lassen. Als die „War Lords“ Mitte der 1990er darauf bestanden, dass humanitäre NGO ein sog. „Memorandum of Understanding“ (MoU) zu unterschreiben hätten, demzufolge die War Lords alleine bestimmen sollten, wo welche Hilfe geleistet werden kann, haben die Diakonie Katastrophenhilfe und Caritas International Deutschland massiv dagegen protestiert und innerhalb kürzester Zeit die „Genehmigung“ zum eigenständigen Handeln bestätigt bekommen.
Auch die Tatsache, dass Hilfsorganisationen sich auf dem Spendermarkt behaupten müssen, spielt dabei eine Rolle. In Situationen, auf die mehrere Organisationen reagieren können und wollen, entsteht nicht nur dort ein Hilfemarkt, wo geholfen werden soll, sondern auch in den Ländern, in denen um Spenden geworben werden muss. Dabei ist es nicht nur wichtig, wem geholfen wird, sondern auch wer hilft. Jede Organisation hat ein völlig legitimes Eigeninteresse, auf dem Hilfemarkt zu bleiben, ihren Anteil an diesem Markt zu sichern und nach Möglichkeit zu vergrößern.
Das oben geschilderte ethische Dilemma wird zusätzlich dadurch erschwert, dass Medien und auch politische Akteure in Europa den Eindruck erwecken, es müsse „umgehend“ mit „massiver Hilfe“ interveniert werden. Dieser künstlich erzeugte Handlungsdruck entspricht in den meisten Fällen nicht den Realitäten vor Ort und führt eher zu überstürztem Aktionismus denn zu sinnvoller Hilfe. Gerade solche Situationen sind es dann, die von Kriegsakteuren geschickt ausgenutzt werden.
Die Hilfemärkte können bewirken, dass sich Krieg und externe Hilfe wechselseitig stabilisieren. Der Krieg schafft humanitäre Notsituationen, auf die nur in organisierter Form mit Aussicht auf Erfolg reagiert werden kann. Die organisierte Hilfe setzt eine verlässliche Finanzierungsbasis und diese wiederum eine mediale Sichtbarkeit der Organisationen am Ort der Katastrophe voraus. Dabei entsteht ein Konkurrenzverhältnis der Hilfsorganisationen um staatliche Mittel und Spenden. Diese kann zu einer Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der Hilfsorganisationen gegenüber den Konfliktparteien führen. Ihr Drohpotential – im schlimmsten Fall die Androhung des Entzugs von Hilfe – wird im Zweifelsfalle auf Null reduziert, sofern es nicht zu Absprachen unter allen Hilfsorganisationen kommt. Solche Absprachen sind aufgrund der Konkurrenz zwischen den Organisationen nur in seltenen Fällen erreicht worden. Die Koordination scheitert manchmal nicht nur an unterschiedlichen Einschätzungen der Lage, Verfahrensweisen und „Kulturen“ der Hilfsorganisationen, sondern auch an ihren institutionellen Eigeninteressen.
Unter diesen Rahmenbedingungen und dem Druck der Ereignisse unterbleibt manchmal eine angemessene Analyse der Situation. Zuweilen mag dies sogar deshalb geschehen, weil eine gründliche Analyse Formen der Hilfe nahe legen würde, die sich im Kampf um Anteile am Hilfemarkt nicht gut verkaufen lassen. So führt die Tatsache, dass die meisten Geldgeber ganze Länder pauschal als Kriegsgebiete einstufen, dazu, dass sie nur Mittel für kurzfristige humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen. Dies wirkt sich insbesondere in langanhaltenden chronischen Krisengebieten ausgesprochen negativ aus. Denn häufig gibt es auch in chronischen Krisengebieten weite Gegenden, in denen keine Kriegshandlungen stattfinden und eine auf Selbsthilfestärkung ausgerichtete Entwicklungshilfe möglich wäre.
2.4.2 Staatliche Einflussnahme
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich, wenn – wie im Falle des Sudan – Befreiungsbewegungen versuchen, in ihrem Gebiet neue, quasi staatliche Verwaltungsstrukturen zu schaffen und dabei Programme ausarbeiten, die die Selbsthilfefähigkeiten der Bevölkerung stärken sollen. Hier wird die Unterstützung solcher Bemühungen, wie unzulänglich sie gerade im Anfangsstadium auch immer sein mögen, behindert, weil Geberländer einerseits an der Beschränkung auf Nothilfe und auf humanitäre Maßnahmen festhalten und andererseits veränderte Realitäten zum Teil aufgrund politischer Interessen nicht in angemessener Weise zur Kenntnis nehmen.
Viele nichtstaatliche Organisationen können ihre Hilfsprogramme nur mit Kofinanzierung aus staatlichen Mitteln durchführen. Das macht sie von politischen Entscheidungen der Geberregierungen abhängig. Im Falle des Südsudan strich die Europäische Kommission all jenen NRO die Zuschüsse für Nothilfeprogramme, die das mit der Befreiungsbewegung verhandelte „Memorandum of Understanding“ unterschrieben haben, das die Rahmenbedingungen für ihre Arbeit in den von dieser Befreiungsbewegung beherrschten Gebieten regeln sollte. Dies hatte zur Folge, dass in weiten Teilen des Südsudan bis zu 80% der Basisgesundheitsdienste, beinahe 100% der Veterinärdienste und mehr als die Hälfte der Maßnahmen zur Versorgung mit Nahrungsmitteln zumindest vorübergehend eingestellt werden mussten. Hunderttausende Menschen im Sudan verloren die Unterstützung, auf die sie zum Überleben angewiesen waren.
Die staatliche Einflussnahme der Geberländer kann den Entscheidungsspielraum der nicht-staatlichen Hilfsorganisationen einschränken. Während der Kolonialzeit zogen sich die Weißen Väter aus Mosambik zurück, als sie nicht mehr vermeiden konnten, von den portugiesischen Kolonialherren für deren Zwecke missbraucht zu werden. Auch heute stehen kirchliche Einrichtungen und NRO immer wieder vor der Frage, ob sie diesem Beispiel folgen sollen. Internationale militärische Akteure wie die NATO-Alliierten und westeuropäische Regierungen sind zunehmend daran interessiert, humanitäre Hilfsorganisationen in Konflikten, in denen eigene Truppen als Teil eines NATO-Kontingentes beteiligt sind, in die eigene Strategie einzubinden. Sie verbinden z. B. die Vergabe von Mitteln für humanitäre Hilfe mit politischen Konditionen und wollen vor Ort in vielfältiger Weise die Zusammenarbeit mit den Hilfsorganisationen des eigenen Landes sicherstellen. Darüber findet z. Z. ein intensiver politischer Dialog im Koordinierungsausschuss für Humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes statt, in dem Caritas International und die Diakonie Katastrophenhilfe als die beiden großen, von Staatsmitteln weitestgehend unabhängigen humanitären Hilfsorganisationen eine Fürsprecherrolle für die Neutralität und politische Unabhängigkeit der humanitären Hilfe einnehmen.
Im Sudan arbeiten die meisten Hilfsorganisationen seit Beginn der Kriegssituation im Jahre 1983 in der von der UNO eingerichteten „Operation Lifeline Sudan“ (OLS) zusammen. Seit Jahren wird mit nur sehr verhalten geäußerter Kritik hingenommen, dass die sudanesische Regierung bestimmt, wo und wann humanitäre Hilfe geleistet werden darf und dabei kriegsstrategische Interessen verfolgt. Auf der anderen Seite haben sich einige Hilfsorganisationen auf Druck der Europäischen Kommission kurzfristig aus der Nothilfe in den von der SPLA / M kontrollierten Gebieten zurückgezogen, weil sie die von der Befreiungsbewegung geforderte Unterzeichnung eines „Memorandum of Understanding“ als einen unzumutbaren Eingriff in ihre Entscheidungsfreiheit interpretierten. Sie sahen ihr humanitäres Mandat und die ungehinderte Möglichkeit, nach eigenem Ermessen zu entscheiden, wo, wem und womit geholfen wird, durch diese Vereinbarung mit der Befreiungsbewegung eingeschränkt.
2.4.3 Lernen aus der Erfahrung
Hilfsorganisationen, Entwicklungsorganisationen und Friedensdienste sind sich sehr wohl im Klaren darüber, dass sie nicht anderer Leute Probleme lösen können. Aber sie können den Raum für die friedliche Bearbeitung von Konflikten durch die Betroffenen schaffen oder erweitern. Dies ist ein wichtiger Beitrag, den sie leisten können, er stellt sich im konkreten Fall aber auch immer wieder als äußerst schwierig dar. Es ist ja nicht einfach so, dass die externen Akteure auf interne Partner treffen, mit denen sie sich auseinandersetzen. Vielmehr erzeugen die externen Aktivitäten eine interne Absorptionsstruktur, die ihrerseits häufig nicht auf demokratische Selbstbestimmung (empowerment) ausgerichtet ist, sondern auf die Maximierung des Mittelzuflusses und die Kanalisierung der Mittel zugunsten einzelner gesellschaftlicher Gruppen. Die gilt besonders für staatliche Einrichtungen, aber auch manchmal für Nichtregierungsorganisationen. Selbst dort, wo es gelingt, eine partnerschaftliche Arbeit mit einheimischen Nichtregierungsorganisationen und Kirchen aufzubauen, stellt sich die Frage, welche Rolle diese in den jeweiligen sozialen Konflikten spielen. Lokale NRO und die Kirchen stehen nicht automatisch für gesamtgesellschaftliche Emanzipation.
Viele Nothilfeorganisationen führen ihre Hilfsprogramme eigenständig durch, ohne auf lokale Partnerstrukturen zurückzugreifen. Das mag in kurzfristigen Katastrophensituationen manchmal nötig und unumgänglich sein. Die Logik von Nothilfemaßnahmen erschwert oder verzögert aber manchmal den Wiederaufbau und den Übergang zu einer von innen getragenen Entwicklung. Örtliche Entwicklungsprojekte vor allem zur eigenständigen Ernährungssicherung, Gesundheitsversorgung und schulischen Bildung sind oft selbst in Bürgerkriegssituationen möglich, da bei solchen Kriegen Gewalthandlungen nicht flächendeckend stattfinden.
Auch die Verteilung von genmanipuliertem Mais durch die US-Regierung und durch multilaterale Geberorganisationen bei jeder größeren Katastrophe dient eher der Stärkung des amerikanischen Agrarsektors und der Verstärkung der Abhängigkeit von amerikanischer Unterstützung als dem Wiederaufbau lokaler Selbsthilfefähigkeiten.
Sowohl Nothilfe als auch Entwicklungszusammenarbeit in Situationen von Kriegen und gewaltsamen Konflikten muss kontinuierlich überprüfen, inwieweit ihr Handeln gewaltminimierend oder gewaltverschärfend wirkt. Fördert ihr Handeln die Fähigkeit der Gesellschaft, Konflikte gewaltfrei auszuhandeln? Oder schwächt sie eben diese Fähigkeit?
Diese Fragen werden seit einigen Jahren von den Hilfsorganisationen selbst kritisch reflektiert. Eine Gruppe internationaler Hilfsorganisationen – darunter der Kirchliche Entwicklungsdienst (KED) und die Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe (EZE) – initiierten 1994 einen internationalen, kooperativen Lernprozess, in dessen Verlauf die wechselseitige Beeinflussung der jeweiligen Konfliktdynamik und Hilfsprogramme systematisch untersucht wurde. Dieser, unter der Bezeichnung „Do No Harm“ bekannt gewordene Lernprozess erbrachte durch die vergleichende praxisbezogene Analyse von Hilfsprogrammen in Konfliktgebieten Einsichten in die Mechanismen, die dazu führen, dass Hilfsmaßnahmen in Konfliktsituationen immer wieder unbeabsichtigte konfliktverschärfende und verlängernde Nebenwirkungen haben. Aufgrund der Kenntnis dieser Mechanismen wurde ein Planungsverfahren entwickelt und in der Praxis erprobt, mit dem im Projektplanungsprozess mögliche negative Nebenwirkungen erkannt werden können. Alternative Handlungsoptionen können entwickelt werden, die es erlauben, das Hilfsprogramm durchzuführen, ohne die Konfliktsituation zu verschärfen.(20)
Es gibt zur Arbeit der Nothilfe und der Entwicklungszusammenarbeit auch in Kriegssituationen keine Alternative. Ein völliger Rückzug aus solchen Situationen bleibt allenfalls eine letzte, verzweifelte Option, denn es würden dadurch unzählige Menschen im Stich gelassen. Wir wissen, dass Hilfe in Kriegssituationen Schaden anrichten kann. Wir wissen aber auch, dass keine Hilfe zu leisten ebenfalls Schaden anrichtet. Es ist ein Trugschluss zu meinen, nichts zu tun würde keinen Schaden anrichten. Auch ein direktes militärisches Eingreifen wäre nicht geeignet, die genannten Schwierigkeiten ziviler Interventionen zu kompensieren. Es muss vielmehr darum gehen, das vorhandene zivile Instrumentarium zur Krisenprävention und zur Bewältigung gewaltsamer Konflikte zu verbessern und zu verbreitern sowie lokale Fähigkeiten der gewaltfreien Konfliktaustragung – „Local Capacities for Peace“ – zu stärken.