Kirche sein in einer globalisierten Welt
Zur Weggemeinschaft in Mission und Entwicklung. EKD-Text 125, Hrg. EKD, Oktober 2015, ISBN: 978-3-87843-040-7
5. Leitlinien und Ausblicke
5.1 Mit unterschiedlichen Aufträgen auf dem gleichen Weg
Die hier vorgelegten Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von »Entwicklung« als einer Ausprägung der Ökumenischen Diakonie und »Mission« haben gezeigt: Beide müssen als unterschiedliche Wesensäußerungen der Kirche verstanden werden, die in der einen Missio Dei verbunden sind. Beide sind dem irdischen Miteinander-Teilen verpflichtet und gemeinsam mit der weltweiten Ökumene unterwegs auf einem Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens, zu dem die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im Dezember 2013 in Busan (Südkorea) eingeladen hat.[62]
Mit der Zusammenführung verschiedener Bereiche des kirchlichen Entwicklungsdienstes im neuen Werk Brot für die Welt - Evangelischer Entwicklungsdienst unter dem Dach des EWDE können weltweite Herausforderungen und Bedürfnisse der Partner mit verschiedenen Instrumenten und Förderansätzen integrierter bearbeitet werden. Die gliedkirchlichen und internationalen Missionswerke sowie als deren Dachverband das EMW führen im Rahmen eines ganzheitlichen Verständnisses von Mission vermehrt Projekte zur Stärkung der Partnerkirchen in der Wahrnehmung ihrer diakonisch-entwicklungspolitischen Verantwortung durch. Auch unterschiedliche landeskirchliche und gemeindliche Akteure und christliche Hilfswerke sind in globalen Kontexten mit verschiedenen Schwerpunkten und Erfahrungen aktiv und mit den Werken in vielen Arbeitszusammenhängen vernetzt, wovon alle profitieren.
Diese erfreuliche Vielfalt und gelingende Kooperation birgt Potenziale für profiliertes gemeinsames Handeln von Kirchen, Missions- und Entwicklungswerken, die andernorts kaum vorhanden sind. Mit der Dankbarkeit für diese Möglichkeiten ist das Engagement verbunden, sie zu erhalten, angemessen zu nutzen und zu stärken.
Grundlegend für das Selbstverständnis von Missionswerken und EWDE ist ihre Mitwirkung in und ihr Selbstverständnis als gleichberechtigter Teil von internationalen
ökumenischen Organisationen und Netzen kirchlicher und zivilgesellschaftlicher Partner und die grundlegende Partnerorientierung ihrer Arbeit.
Darum muss immer neu gemeinsam mit den internationalen Partnern nach den aktuellen ökumenischen und globalen politischen Rahmenbedingungen gefragt werden, unter denen Zusammenarbeit geschieht und die durch die Zusammenarbeit adressiert werden sollen. Weil das friedliche Miteinander verschiedener Völker, Kulturen und Religionen bedroht ist, Migrationsbewegungen aufgrund von Krieg, Vertreibung und Zerstörung von Lebensgrundlagen zunehmen und anhaltende Ungerechtigkeiten in den Lebensmöglichkeiten von Armen und Reichen für Auseinandersetzungen sorgen, gibt es keine Alternative zu einem gemeinsamen globalen Auftreten. Die globale kirchliche Zusammenarbeit darf nicht dabei stehen bleiben, die Spaltungen und Spannungen der Welt zu reflektieren, sondern muss nach Kräften versuchen, so zu handeln, dass sie als Modell einer versöhnten und gerechten Gemeinschaft erkennbar wird.
5.2 Mandate abstimmen, Kooperationen vertiefen
Angesichts der wachsenden globalen Herausforderungen muss diese Weggemeinschaft in den kommenden Jahren gestärkt und ausgebaut werden. So stehen präzise Klärungen der ausgewählten Mandate für überschneidende Regionen und Arbeitsfelder zwischen den Akteuren an, um die bewährte Gemeinsamkeit und Abstimmung in der Durchführung aufeinander bezogener Projekte, Programme und Kampagnen noch effektiver zu machen. Dazu wurde - neben bereits bestehenden Instrumenten wie der Entwicklungspolitischen Konferenz - 2013 ein Verbindungsausschuss zwischen Brot für die Welt und EMW/Missionswerken eingesetzt, der u. a. dem Ziel dient, Verabredungen über Inhalte und Formen künftiger Kooperation sowie darauf abgestimmte Handlungsstrategien zu treffen. Dies gilt für alle in IV.3 beschriebenen Arbeitsfelder.
5.3 Leitvorstellungen gemeinsam entwickeln
Die genannten Akteure haben - gemäß den verschiedenen theologischen Herleitungen und Mandaten ihrer Arbeit - Leitbilder entwickelt bzw. befinden sich noch im Prozess der Leitbildentwicklung (EWDE). Im Sinne einer Weggemeinschaft ist es sinnvoll, die Gemeinsamkeiten im theologischen Verständnis herauszuarbeiten, nach außen zu kommunizieren und gemeinsame Leitwerte - wie etwa die »vorrangige Option Gottes für die Armen« - angesichts der neuen Herausforderungen gemeinsam neu zu erläutern.
5.4 Verantwortung teilen zwischen Nord und Süd
Offenkundig bestehen ungleiche Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd, die auch in der zwischenkirchlichen Zusammenarbeit der Missions- und Entwicklungswerke und der Gemeinden reflektiert werden. Das Thema ökumenisches Teilen von Macht, politischer Verantwortung und Ressourcen hat seine Brisanz keineswegs verloren. Das soll nicht zu einer Abkehr von Partnerschaft führen. Stattdessen muss um wechselseitige Hör-, Frage- und Antwortbereitschaft in gemeinsamen Beratungsforen oder Zusammenschlüssen gerungen werden. Auf unterschiedliche Weise - etwa durch die Internationalisierung von Missionswerken oder die Einrichtung der weltweiten ACT Alliance - ist in der jüngeren Vergangenheit versucht worden, diesen Konstellationen Rechnung zu tragen. Die Weiterarbeit an partizipativen Kooperationsmodellen bleibt eine Aufgabe.
5.5 Zusammenhang von Religion und Entwicklung profilieren
Die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre zeigen, dass Kultur und Religion als Entwicklungsfaktoren in Politik und Öffentlichkeit neue Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Dadurch sind neue Reflexionen in und zwischen kirchlichen Entwicklungswerken in Europa, aber auch in ÖRK und ACT Alliance entstanden. Zugleich sind Missions- und Entwicklungswerke sowie Landeskirchen gefragt, ihre Erfahrungskompetenzen in öffentlich-politische Debatten einzubringen.[63] Sie werden auch künftig darauf hinwirken, dass der Zusammenhang von Religion und Entwicklung hier in Deutschland und international differenziert wahrgenommen, intensiv diskutiert und sachgemäß bearbeitet wird.
5.6 Auf Landschaftsveränderungen in der Weltchristenheit reagieren
Für den Zusammenhang von Religion und Entwicklung sind auch die Veränderungen der Landschaft der Weltchristenheit von besonderer Relevanz. Viele neue charismatische oder pfingstlerische Gemeinden und Kirchen verdanken sich missionarischen Aufbrüchen. Das missionarische Zeugnis hatte und hat unterschiedliche Formen, ist aber immer bewegt von der Hoffnung, mit der Verkündigung der Frohen Botschaft den Menschen Entscheidendes für ihr Leben zu vermitteln. Missions- und Entwicklungswerke müssen sich mit den unterschiedlichen und sich verändernden Ausprägungen des Glaubenszeugnisses, der Spiritualität und des Kirche-Seins hier und weltweit auseinandersetzen, denn diese berühren Fragen einer christlichen Lebensgestaltung und Weltverantwortung (z. B. Bedeutung der Menschenrechte) unmittelbar. Sie sollten dies gemeinsam tun, um kirchliche Gremien und Gemeinden bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen in ihrer Partnerschaftsarbeit zu unterstützen und eine gemeinsame Sprache zu sprechen.
5.7 Interkulturelle Kompetenz fördern
In diesem Zusammenhang müssen sich alle Akteure auch verstärkt für Programme und Projekte einsetzen, die interkulturelle Kompetenz und - damit verbunden - den interreligiösen Dialog fördern. Weltweites und lokales Engagement sind zwar zu unterscheiden, aber nicht voneinander zu trennen. Jüngstes Beispiel hierfür sind die wachsenden Aufgaben in der Flüchtlingsarbeit. EWDE und Missionswerke können Gemeinden für die damit verbundenen Chancen und Probleme sensibilisieren und sie dabei unterstützen, in ihrem lokalen Kontext durch entsprechende Initiativen zu einem friedlichen, toleranten und wertschätzenden Miteinander in multikulturellen und -religiösen Kontexten beizutragen.
Die Gemeinden anderer Sprache und Herkunft verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit. Durch Migration werden Gesellschaften multikulturell und neue »Glaubensdialekte« bereichern die kirchliche Landschaft. Dies ist auch in Deutschland der Fall und die hier angesprochenen Akteure werden auch künftig Initiativen ergreifen oder unterstützen, die mit dieser Konstellation verbundenen Herausforderungen zu bearbeiten.
5.8 Ökumenische Lernprozesse ermöglichen
Die eben skizzierten Herausforderungen und Programme zielen allesamt auf Bildungsprozesse - wiederum hier und weltweit. Ökumenisches Lernen, das befördert werden kann durch die Entstehung von Lerngemeinschaften über konfessionelle und religiöse Grenzen hinweg, bleibt nicht nur aus diesem Grund ein unverzichtbarer Punkt in künftigen Programmen. Die Inhalte solcher Prozesse werden sich auf Fragen von Entwicklung und Transformation, auf interkulturelles Miteinander, auf die Stärkung der religiösen Auskunftsfähigkeit als Voraussetzung für interreligiösen Dialog und auf vergleichbare Themen richten. In der Arbeit von Brot für die Welt wie der Missionswerke haben solche Programme und diesbezügliche Kooperationen einen festen Platz. Wichtig ist, dass sie von Kirchenleitungen und Synoden unterstützt werden, um einen wichtigen Beitrag für eine zukunftsfähige Gesellschaft leisten zu können.
Deshalb müssen die kirchlichen Ausbildungseinrichtungen im eigenen Land solche Bildungsprozesse ermöglichen und ökumenisch-theologische Ausbildung weltweit gefördert werden. Dies ist gegenwärtig eines der zentralen Anliegen der kirchlichen Weltbünde. Brot für die Welt und Missionswerke bieten ihre Unterstützung in der Weiterentwicklung der Curricula kirchlicher Ausbildungsgänge an und unterstützen das Anliegen von ÖRK und LWB gemeinsam und in abgestimmter Weise. Denn im Blick auf die Gestaltung der Einen Welt und die Rolle einer untereinander verbundenen Weltchristenheit sind international vernetzte und anerkannte theologische Qualifizierungen unerlässlich.
Hier liegen Aufgaben auch bei den Landeskirchen und Ausbildungsstätten: Sie können sich im Hochschulbereich dafür einsetzen, dass ökumenische Kontakte eine stärkere Rolle spielen. Außerdem können sie dafür Sorge tragen, dass der Fächerbereich Ökumene / Missionswissenschaften / Ökumenische Diakonie zum Lehrangebot evangelischer Fakultäten gehört und in der kirchlichen Ausbildung vorkommt. Es bleibt zu hoffen, dass Unternehmungen wie die Fachhochschule für Interkulturelle Theologie (FIT Hermannsburg) kein Einzelfall bleiben.
5.9 Lobby- und Advocacy-Arbeit ausbauen
Seit Langem ist für Entwicklungs-, Missionswerke und Kirchen die Anwaltschaft für Einzelne und Gruppen, die unter Marginalisierung, Verfolgung und anderen Ungerechtigkeiten leiden, ein wichtiger Teil ihres Engagements. Die Bedeutung von öffentlicher Präsenz, Beteiligung an politischen Debatten und aktiver Parteilichkeit für Verfolgte - wie dies gegenwärtig beispielsweise im Bereich der Flüchtlingsarbeit, des Rechts auf Land und der Sicherung von Ernährung geschieht - ist unbestritten. Dies gilt auch, wenn Kontroversen damit verbunden sind. Wirkungsvolle Initiativen erfordern abgestimmte Strategien, damit die unterschiedlichen Kompetenzen für das gemeinsame Anliegen erfolgreich eingebracht werden können.
5.10 Menschen für weltweites Engagement motivieren
Aus den vorausgehenden Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, wie groß die Nöte und Hoffnungen der Menschen in der Einen Welt sind, und wie hoch die damit verbundenen Erwartungen an Missions- und Entwicklungswerke der Kirchen in Deutschland als einem wohlhabenden und international einflussreichen Land. Auch wenn die Medien die Weltereignisse ständig in unsere Wohnzimmer tragen, ist das Verständnis für die Perspektiven, Interessen, Potenziale und Beiträge der Menschen anderer Kontinente und Kulturen zum friedlichen Zusammenleben der Völker kaum größer geworden. Auch die Bereitschaft zur weltweiten Solidarität ist nicht gewachsen - eher im Gegenteil.
Das Bewusstsein für die Verbundenheit weltweiter Krisen, für die Notwendigkeit der Überwindung von strukturellen wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten, für das Wohlergehen auch des fernen Nächsten droht abzunehmen. Europa darf nicht zu einer »Insel des Wohlstands« werden, die diese gegen Menschen aus anderen Weltgegenden verteidigen will. Die Weggemeinschaft der Akteure in Mission und Entwicklung wird daher das Bewusstsein für das Teilen von Ressourcen, das Eintreten für Arme und Verfolgte, die Ermöglichung eines »Lebens in seiner ganzen Fülle« - nicht nur vor der eigenen Haustür, sondern gerade auch in anderen Regionen! - wach halten.
Dazu braucht es in Kirche und Gesellschaft auch eine neue Generation von Engagierten. Es gehört zu den erfreulichen Entwicklungen der letzten Dekade, dass die Zahl derer steigt, die als Jugendliche oder Erwachsene in anderen Weltregionen Erfahrungen sammeln, Kenntnisse erwerben und auf diese Weise ihren Horizont weiten. Inzwischen gilt für Austauschprogramme wie für Personalentsendungen in Partnerkirchen und -projekte, dass sie in aller Regel von Reverse-Programmen ergänzt werden. Diese ermöglichen Menschen aus anderen Regionen Erfahrungen bei uns. Prozesse der Vorbereitung, Vor-Ort-Begleitung und Wiedereingliederung durchzuführen und gemeinsam an Rahmenbedingungen für umfassende Reverse-Programme zu arbeiten, gehört zu den gemeinsamen Aufgaben der Missionswerke und von Brot für die Welt.
Auch aus den kommenden Generationen Mitarbeitende in Haupt- und Ehrenamt für ein Engagement in dieser Weggemeinschaft zu gewinnen, bleibt wichtig. Ohne Begeisterte für die damit verbundenen Aufgaben werden sich die Verbindungen zwischen Partnern dort und hier kaum stärken lassen - gemeinsame Suchbewegungen
bleiben nötig.