Kirche sein in einer globalisierten Welt

Zur Weggemeinschaft in Mission und Entwicklung. EKD-Text 125, Hrg. EKD, Oktober 2015, ISBN: 978-3-87843-040-7

3 Biblisch-theologische Zugänge[10]

[10]
Das Engagement von Kirchen in Mission und Entwicklung begründet sich aus dem biblischen Zeugnis, das in den sich wandelnden geschichtlichen und geografischen Zusammenhängen immer wieder neu gelesen und verstanden sein will.[11] Insbesondere die biblischen Überlieferungen von Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung sowie die daraus abgeleiteten Vorstellungen von Solidarität, Menschenwürde, selbstbestimmtem Leben und einer »Ethik des Genug« zählen zu den Leitmotiven des Handelns in Mission und Entwicklung.

3.1 Weggemeinschaft

Die Bibel beschreibt den gemeinschaftlichen Weg des Volkes Gottes und der Jünge- rinnen und Jünger und der ersten christlichen Gemeinden. Das Bild der Weggemeinschaft steht für den Auftrag, sich in der Nachfolge immer neu auf den Weg zu machen und ist zugleich ein Gegenbild zu sich verfestigenden Strukturen. Der Hebräerbrief verwendet das Motiv der irdischen Pilgerschaft, um die spannungsvolle, beheimatetheimatlose Existenz der Christinnen und Christen zwischen Himmel und Erde zu beschreiben (vgl. Hebr 13,14).

Auch die ökumenische Bewegung versteht sich als Gemeinschaft auf dem Weg, die sich gegenseitig stärkt, voneinander lernt und miteinander wächst. Um die Begegnungen mit den Anderen und deren Anfragen an das eigene Selbstverständnis zu ertragen, müssen alle Mitglieder der Gemeinschaft bereit sein, eigene Grenzen zu überschreiten.[12] Die 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Busan/Südkorea verlieh diesem Selbstverständnis Ausdruck, indem sie zu einem »Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens« aufrief.[13]

Das Bild der Weggemeinschaft kann auch die Spannung beschreiben, in der Kirchen und kirchliche Werke stehen: Sie sind einerseits verfasste und institutionalisierte Größen mit einem ausdifferenzierten und professionalisierten Management. Andererseits sind sie kontinuierlich in Bewegung, nicht zuletzt, weil sie in weltweiten Betätigungsfeldern agieren. Ihr Weg in die Welt ist mit der Bereitschaft verbunden, sich dem Unerwarteten in solidarisch-kritischem Dialog auszusetzen, Reform und Erneuerung zu wagen. Daher ist die Weggemeinschaft zugleich auch eine Lerngemeinschaft neuer Formen weltweiter ökumenischer Verbundenheit. Alle Beteiligten brauchen einander, um den je spezifischen Aufgaben ihres gemeinsamen Auftrags nachzukommen.

Zum Bild der Weggemeinschaft gehört der Dialog über Streckenbewältigung, Richtungsänderungen, Pausen, Stationen und Ziele. Es steht nicht schon vorher fest, welche Anliegen sich ergeben und welche Konstellationen entstehen. Immer geht es um das gemeinsame Ziel, als weltweit solidarische Kirche für das Wohl der Menschheit und der Welt zu wirken.

In Deutschland haben die Akteure in Mission und Entwicklung bereits seit 50 Jahren gemeinsame Wege zurückgelegt. Vertrauen ist gewachsen, Klärungen sind erfolgt und manche Hürde wurde aus dem Weg geräumt. Es ist bekannt, was die Akteure einbringen. Mit der Fusion zwischen dem Evangelischen Entwicklungsdienst und Brot für die Welt ist ein neuer Wegabschnitt begonnen, der auch Kooperationspartner vor Veränderungen stellt. Ähnliches gilt durch die Umstrukturierungen der vergangenen Jahre auch für die Missionswerke der Landeskirchen. Alle Wandlungen ändern jedoch nichts daran, dass die verschiedenen Akteure auf einen gemeinsamen Weg gewiesen sind und bleiben.

3.2 Schöpfungsverantwortung, Solidarität und Dienst

Die prophetischen und schöpfungsbezogenen Traditionen des Alten Testaments messen Gerechtigkeit und Recht, Würde und Solidarität eine Schlüsselbedeutung für ein gelingendes Zusammenleben zu. So beschreiben die Schöpfungsgeschichte und die Schöpfungspsalmen das Werden der Welt als einen Prozess, der von Anfang an Gottes Willen zum Guten entspricht (vgl. Gen 1,31 und Psalm 145,16). Als Ebenbilder des Schöpfers erhalten die Menschen eine besondere Würde, die in der besonderen Aufgabe des Bebauens und Bewahrens ihren Ausdruck findet (vgl. Gen 2,15). Diese Würde darf den Armen und Entrechteten nicht vorenthalten werden (vgl. Amos 8,410). Wenn die Armen und Entrechteten Recht und Gerechtigkeit erfahren und umfassende Teilhabe möglich wird, dann wird ein Gemeinwesen zum Hinweis auf den - auch in den Geboten dargelegten - Schöpfungswillen Gottes und den Schöpfungsauftrag der Menschen (vgl. Ex 23,6 und Dtn 15,7ff.). In dieser biblischen Tradition versteht die Option für die Armen den Einsatz von Diakonie und Entwicklung für menschenwürdige und gerechte Lebensbedingungen. Am solidarischen Einsatz für die Armen zeigt sich also, wie ernst eine Gemeinschaft die aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen abgeleitete Würde jedes und jeder Einzelnen nimmt. Werden die Verantwortlichen einer Gesellschaft dieser Orientierung nicht gerecht, dann haben Kirchen in prophetischer Tradition ihre Stimme zu erheben, Widerstand zu leisten und sich für Veränderung einzusetzen.

Für Menschen, die sich in die Nachfolge Jesu begeben, ist dabei die Bereitschaft zum Dienen von entscheidender Bedeutung (vgl. Mk 10,43f). Dienen im Sinne des Neuen Testaments weiß um einen Zugang zu gemeinschaftlich gelingendem Leben, der nicht auf das Erreichen politischer oder wirtschaftlicher Vorrangstellungen und Machtpositionen abzielt. Die der Hilfe bedürftigen Menschen tragen das Antlitz Christi (vgl. Mt 25,31-46).

3.3 Missio Dei und Erwartung des Reiches Gottes

Ein ökumenisches Leitmotiv mit langer Tradition ist die Missio Dei. Dabei geht es um die Einsicht, dass Gott selbst das Subjekt der Mission ist und dass er selbst an allen anderen Akteuren handelt. Diese Erfahrung lädt zur Umkehr ein: Das Alte Testament berichtet, wie ein König angesichts des prophetischen Wortes seine eigene Verfehlung erkennt (2 Sam 12,7). Im Neuen Testament weiß sich ein erpresserischer Zöllner durch die häusliche Mahlgemeinschaft mit Jesus in die Gemeinschaft aufgenommen und findet zur Umkehr (Lk 19,1-10). Petrus erkennt, dass das Betreten vermeintlich »unreiner« Häuser nicht länger verboten ist, weil die Frohe Botschaft von Jesus Christus allem Volk aus Juden und Heiden ausgerichtet werden soll (Apg 10,15). Die Begegnung mit dem geistgewirkten Zeugnis vom Gekreuzigten und Auferstandenen bewirkt Umkehr und Veränderung (Lk 24,13-36). Nicht Jüngerinnen und Jünger, Helferinnen und Helfer oder Missionarinnen und Missionare führen durch ihr Tun das Reich Gottes herbei. Gott selbst handelt an allen Beteiligten, sowohl an den vermeintlichen »Gebern« wie auch an den vermeintlichen »Empfängern«.

Eine grundlegende Konsequenz der Theologie der Missio Dei ist die Ablehnung jeglicher Gewalt in der Missionierung als inadäquat und dem christlichen Glauben nicht angemessen. Rezipiert und in einem ökumenischen Aneignungsprozess diskutiert wird in diesem Zusammenhang das vom Päpstlichen Rat für Interreligiösen Dialog (PCID), von der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA) und dem ÖRK 2011 herausgegebene Dokument »Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt«. Unter den Prinzipien heißt es: »Christinnen sind aufgerufen, in ihrem Zeugnis alle Formen von Gewalt und Machtmissbrauch abzulehnen, auch deren psychologische und soziale Formen. Sie lehnen auch Gewalt, ungerechte Diskriminierung oder Unterdrückung durch religiöse oder säkulare Autoritäten ab. Dazu gehören auch die Entweihung oder Zerstörung von Gottesdienstgebäuden und heiligen Symbolen oder Texten.« Aber auch das Ausnutzen von Armut und Notsituationen muss als Form von Gewalt betrachtet und abgelehnt werden (s. Ziffer 4 und Ziffer 5). Die bislang ebenso verbreitete wie positive Aufnahme dieses Textes weist darauf hin, dass diese und andere Grundlagen heute als weithin akzeptierte Rahmen für missionarische Präsenz angesehen werden können.[14]

Eng verbunden mit dem Konzept der Missio Dei ist die Reich-Gottes-Erwartung. Das Reich Gottes bricht mit dem Kommen Christi an (vgl. Mt 11,4-6), existiert bereits und steht doch zugleich noch aus (vgl. Mt 5,3-12). In dieser Spannung können Christinnen und Christen durch den Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung am Reich Gottes mitwirken. Dabei müssen sie aushalten, dass Menschen das Reich Gottes auf Erden nicht selbst verwirklichen. Auch Erfahrungen der eigenen Begrenztheit und des Scheiterns gehören zum Weg der Mission. Dieses Verständnis von Mission stellt sich in die Tradition der theologia crucis. Leitmotiv missionarischen Handelns ist nach diesem Verständnis die Hoffnung auf Vollendung jedes menschlichen Tuns durch das Handeln Gottes.

Schließlich hat die Perspektive der Missio Dei auch Auswirkungen auf die Frage nach Zentren und Peripherie der weltweiten Christenheit. Seit 2000 Jahren wird von Zentren und Rändern der weltweiten Christenheit gesprochen, wobei Selbst- und Fremdzuschreibungen durchaus nicht immer kongruent verliefen. Frühere Zentren sind als christliche »Kernländer« verschwunden, andere, vormals kirchlich kaum beachtete Regionen mit erheblicher Dynamik aufgetaucht. Dabei sind die - noch 1910 auf der ersten Weltmissionskonferenz in Edinburgh vertretenen - Vorstellungen einer Aufteilung der Welt in einen »christlichen Norden« und einen »heidnischen«, noch zu evan- gelisierenden »Süden« oder »Osten« schon damals inadäquat gewesen. Die Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts haben zu umfassenden Veränderungen der weltweiten Christenheit geführt. Verantwortlich dafür waren nicht nur Migrationsbewegungen, sondern auch unterschiedlich profilierte missionarische Aktivitäten von Kirchen und Missionsgesellschaften in allen Regionen der Erde. »Mission from every- where to everywhere«[15] wurde zur praktischen Konsequenz aus der Einsicht, dass alle Kontinente als potenzielle »Missionsgebiete« angesehen werden. Im Ergebnis haben sich die Wahrnehmungen unterschiedlicher »Christentümer« geschärft, werden die kirchlichen Stimmen aus verschiedenen Ländern, Regionen und Kontexten stärker artikuliert. Die Weltchristenheit wird heute - vielleicht mehr denn je - als polyzentrisch und polyfon begriffen.

Zwei Erklärungen des Weltrates der Kirchen bringen diesen Geist zum Ausdruck: Die beiden Dokumente »Gemeinsam auf dem Weg des Lebens. Mission und Evangelisation in sich verändernden Landschaften« (englischer Titel: »Together Towards Life«) und die »Erklärung zur Einheit« von Busan 2013 nehmen den eingangs beschriebenen »shift of gravity« der Weltchristenheit ernst und die Menschen an den »Rändern« als eigenständige Akteure von Mission wahr. Sie begründen die Vorstellung von »Gottes vorrangiger Option für die Armen« und stellen die aktive und mündige Partizipation und Mitgestaltung aller in den Vordergrund.[16]

3.4 Hoffnung auf die Fülle des Lebens

Der Gott Israels hat sein Volk aus der Knechtschaft in Ägypten herausgeführt, um es in ein Land zu bringen, wo Milch und Honig fließen. »Zielvorstellung des Lebens«[17] ist die »Fülle des Lebens« (Joh 10,10), wo alle das erhalten, was sie für ein verantwortliches Leben in einer versöhnten Gemeinschaft benötigen. Dieses Motiv der »Fülle« verweist sowohl auf die Sendung Jesu als auch auf das Leben in seiner Nachfolge: Denn die Fülle ist im Kommen Christi erkennbar, lässt sich jedoch nicht im Sinne einer Entwicklung ableiten oder planen. Im biblischen Blickpunkt stehen das Wohlergehen des oder der Anderen und der Gemeinschaft.[18] Die liebevolle Hinwendung des Schöpfers zur Schöpfung, die erinnernde und erwartende Wertung »siehe, es war sehr gut« (Gen 1,31), verweist auf das überfließende »Genug« zum Leben für alle Menschen.

Weil sie um ihre eigenen Grenzen wissen, bitten die Akteure von Mission und Entwicklung um die bevollmächtigende Gegenwart des Heiligen Geistes (vgl. Mt 26,6-13; Mt 19,13-15; Joh 4), der die Verwandlung[19] des irdischen Lebens bewirkt und die Gerechtigkeit befördert. So können sie sich darauf einlassen, dass ihr persönliches und institutionelles Handeln in der Spannung von Wollen und Vollbringen steht. Zugleich wissen sie sich von diesem Geist zu Opfern und Gescheiterten gesandt.[20] Denn die Fülle des Lebens gilt der gesamten Schöpfung.

3.5 Unterschiede im Gemeinsamen

Die biblische Überlieferung zeigt: Mission zielt durch die Verkündigung des Evangeliums auf den Glauben, d. h. auf ein explizit gelebtes Vertrauensverhältnis der Menschen zu Gott. Weil sich Gott in seinem auserwählten Volk Israel offenbart hat und durch Jesus Christus auch die Kirche aus der Völkerwelt in den Dienst der Versöhnung nimmt, sammelt die Mission Menschen in einer verbindlichen, wenngleich vielfältig und unterschiedlich geformten Sozialgestalt der Gemeinschaft der Glaubenden. Auch die Organisationen der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit wirken im Auftrag der Kirchen an der Heilung der Welt, die durch die Versöhnung der Menschen mit Gott in Jesus Christus möglich geworden ist. Einen unmittelbaren Auftrag zu Verkündigung und Sakramentsverwaltung haben sie jedoch nicht. Entsprechend formuliert die Satzung des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung (EWDE): »Diakonie und Entwicklungsdienst wurzeln in dem Glauben, der die Welt als Gottes Schöpfung bezeugt, in der Liebe, mit der Gott uns an jeden Menschen als Nächsten weist und in der Hoffnung, die in der Gewissheit der kommenden Gottesherrschaft handelt. Sie sind getragen von der Überzeugung, dass nach dem biblischen Auftrag die Verkündigung des Evangeliums und der Dienst in der Gesellschaft, missionarisches Zeugnis und Wahrnehmung von Weltverantwortung im Handeln der Kirche zusammen gehören.«[21]

EKD-Text 125 (pdf)

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