Soziale Dienste als Chance

2. Entwicklungstrends

2.1 Neue Herausforderungen in den sozialen Diensten

(7) In den letzten Jahrzehnten hat es trotz wirtschaftlichen Wachstums keine Entlastung des Sozialstaats gegeben. Dies ist nicht weiter überraschend. Neue Aufgaben sind dazugekommen. Bestehende Aufgabenfelder sind ausgeweitet worden. Leider gehört zur Vernachlässigung der Human-Dienstleistungen auch eine ungenügende statistische Erfassung. Statistiken der Freien Wohlfahrtspflege gehen davon aus, dass sich die Beschäftigung in den sozialen Diensten in den letzten zwei Jahrzehnten etwa verdoppelt hat.

In der Vergangenheit wurden die Angebote an sozialen Diensten in Deutschland im Wesentlichen durch den hochentwickelten Sozialstaat finanziert. Dessen Möglichkeiten konnten mit den neuen Herausforderungen nicht Schritt halten. Die Erschließung anderer Finanzierungsquellen begegnete Schwierigkeiten. Dennoch ist davon auszugehen, dass der Bedarf an sozialen Diensten sowohl in den klassischen als auch in neuen Feldern in Zukunft weiterhin zunehmen wird.

Änderungen vollziehen sich vor allem in folgenden Bereichen:

(8) In der Arbeitsgesellschaft ist zunehmend der Abschied von dem Leitbild der männlichen Normalbiographie mit lebenslanger Vollzeiterwerbstätigkeit zu beobachten. Es gibt mehr Unterbrechungen auch in den Erwerbsbiographien von Männern. Die Zeitstrukturen der Arbeit verändern sich. Es gibt einen höheren Bedarf an besser qualifizierten Arbeitskräften, während sichere Arbeitsplätze für gering oder nicht qualifizierte Erwerbstätige wegfallen. Zugleich ist tendenziell eine steigende Erwerbstätigkeit von Frauen zu beobachten, die sich in erheblichem Umfang auf den Dienstleistungsbereich richtet. Insbesondere hier nimmt auch die Zahl von Arbeitsplätzen zu, die keine ausreichende Existenzsicherung bieten.

Diese Veränderung der Arbeitsgesellschaft führt zu neuen Bedarfslagen, zu individualisierteren Tagesstrukturen, zur Unterbrechung und zum Abbruch von Erwerbsbiographien, zur Gefährdung des Familienzusammenhalts. Die Folge ist ein erhöhter Bedarf an Maßnahmen zur Reintegration in den Arbeitsmarkt, aber auch an familienunterstützenden Einrichtungen, Beratung und Fortbildung. Die Angebote müssen zunehmend flexibler werden, um dem Bedarf von Familien gerecht zu werden. Die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen erfordert die Ausweitung von Betreuungsangeboten für Kinder unter drei Jahren wie der Übermittags- und Ganztagsbetreuung von Schulkindern: Insbesondere alleinerziehende Mütter und Väter haben einen erheblichen Bedarf an familienergänzenden Leistungen.

(9) Zugleich verändern sich Familienstrukturen, die nur zum Teil mit dem Wandel der Arbeitswelt zusammenhängen. Hervorstechend ist dabei insbesondere die seit langem zu beobachtende Zunahme der Scheidungen. Dazu kommt eine Verschiebung der Generationen. Kinder werden später geboren, ältere Menschen gehen früher in den Ruhestand. Eine höhere berufliche Belastung kann die Erziehung der Kleinkinder erschweren, in Extremfällen ergibt sich eine Überschneidung mit der Pflege der alt gewordenen Eltern.

Die Haushalte werden kleiner. Die Zahl der Alleinerziehenden nimmt zu. Insgesamt führt die Diversifizierung von Lebensformen und die steigende Mobilität zu einer Diversifizierung der Hilfebedarfe im Bereich sozialer Dienstleistungen in Erziehung, Betreuung und Pflege.

In allen Arbeitsfeldern sozialer Dienste sind zunehmend Angebote gefragt, die sich an einen flexiblen Arbeits- und Familienalltag anpassen, Eigenverantwortung stärken und Normalisierung ermöglichen. Dazu gehören verschiedene Serviceangebote in Hauswirtschaft und Gartenarbeit, z. B. Einkaufs-, Hol- und Bringedienste. Um eine verlässliche Ganztagsbetreuung zu ermöglichen und erwerbstätige Mütter und Väter zu entlasten, müssen differenzierte Angebote der Kinderbetreuung im Vor- und Grundschulalter ausgebaut und aufeinander abgestimmt werden. Tagesmuttersysteme, Krippenplätze und altersgemischte Gruppen, aber auch flexible Öffnungszeiten und Kinderhotels, sind insbesondere in den westlichen Ländern der Bundesrepublik auszubauen. Dabei muss eine ausreichende Finanzierung von Krippen- und Hortplätzen sichergestellt werden.

(10) Eine besondere Herausforderung stellt die Nachfrage und Versorgung von Menschen mit Behinderungen dar. Neben familienunterstützenden Angeboten sind Tagespflegeeinrichtungen wie auch Wohnangebote für ältere Behinderte gefragt. Und jenseits des sich entwickelnden Marktes betreuter Wohnanlagen für Ältere wächst der Hilfebedarf für schwerpflegebedürftige hochbetagte Menschen. Dem Wunsch nach Integration hilfebedürftiger Menschen steht die Erfahrung gegenüber, dass neue Notsituationen personalintensive Hilfeangebote fordern: Koma-Patienten, dauerbeatmete Kinder, schwerstmehrfachbehinderte Menschen, die heute, dank der medizinischen Entwicklung, auch mit schweren Beeinträchtigungen leben können.

(11) Die demographische Entwicklung führt zu zunehmenden Problemen und neuen Aufgabenstellungen im Bereich der Versorgung älterer Menschen. Die Zahl der Hochbetagten, der pflegebedürftigen Alten, der chronisch Kranken und der Demenzerkrankten steigt. Damit nimmt zugleich der Bedarf an geronto-psychiatrischer Versorgung, altengerechten Wohnungen, Betreuungsangeboten, Pflege und Begleitung zu.

(12) Die rasante Entwicklung medizinischer und pharmazeutischer Möglichkeiten schafft neue Bedarfslagen (Reproduktionsmedizin, Geriatrie, Lebenserhaltung von Wachkomapatienten, Transplantationsmedizin u. a.) und neuen Beratungsbedarf. Statistisch nehmen mit zunehmender Lebenserwartung die chronischen Krankheiten, mit zunehmender Rettungsmöglichkeit von Frühgeborenen Pflegebedarf, Behandlungsbedarf und heilpädagogischer Bedarf zu. Das gegenwärtige Gesundheitssystem ist kurativ ausgerichtet. Eine ausreichende Vernetzung mit den Bereichen Vorsorge und Nachsorge sowie mit den Bereichen Sport und Umwelt fehlt. Die Bedeutung von Kooperationen zwischen dem medizinischen Bereich, Sport, Rehabilitation und Wellness nimmt zu. Eine stärkere Orientierung an der Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit statt am Krankheitsparadigma initiiert neue Angebote.

(13) Das Armutsrisiko ist hoch. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zu nennen sind insbesondere: hohe Kinderzahlen, die allerdings seltener geworden sind, die Zunahme von Scheidungen und der Zahl von Alleinerziehenden, die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit (insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit), die Zunahme von Teilzeitarbeit, geringe Einkommen, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und unterbrochene Erwerbsbiographien, prekäre Lebenssituationen bei Familien mit Kindern, Zuwanderung von Hilfebedürftigen, vermehrte Langzeiterkrankungen (einschließlich Suchterkrankungen) und Überschuldung. Finanzielle Armut bedeutet auch Mangel an gesellschaftlicher Teilnahme. Problematisch ist insbesondere das Zusammentreffen von mehreren dieser Tatbestände. Frauen sind im Vergleich zu Männern von Armutsrisiken aufgrund unterschiedlich verteilter Erwerbschancen in anderer Weise und stärker betroffen.

(14) Durch die rasche Veränderung der sozialen und kulturellen Lebenswelt (Mobilität, Zunahme der sozialen Gegensätze, Alterung der Gesellschaft, Zunahme der Ein-Generationen- und Single-Haushalte) nehmen die Probleme von Kindern und Jugendlichen zu. Kinderarmut, Jugendarbeitslosigkeit sowie die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen, die oft selbst Opfer von Gewalt waren, machen intensive integrierende Bemühungen der Gesellschaft nötig.

(15) Viele Menschen finden sich in einer sich immer rascher ändernden, für sie unübersichtlich gewordenen Welt nicht mehr zurecht. Sie fühlen sich überfordert. Unter ihnen sind ältere, schwächere, langsamere, schlecht ausgebildete Menschen ebenso wie „Modernisierungsverlierer“. In einer Zeit des „Lebenslangen Lernens“ sind auch und gerade sie auf spezifische Beratungs- und Fortbildungsangebote angewiesen.


(16) Es wächst die Bedeutung des Verbraucherschutzes. Die zielgruppengerechte Differenzierung der Angebote, der zunehmende Wettbewerb und der schnelle Wandel machen Verbraucherberatung ebenso notwendig wie überprüfbare Qualitätsstandards.

(17) Das vereinte Europa verändert die Bedingungen für die Ausgestaltung des Sozialstaats und wird die Frage nach den sozialen und finanziellen Ressourcen verschärfen. Im Zusammenwachsen der Staaten mit unterschiedlichen Steuer- und Sozialsystemen, Kulturen und Staatsverständnissen kommen in Deutschland die Standards der sozialen Versorgung und die Prinzipien der Finanzierung auf den Prüfstand. Gleichzeitig wächst die Chance, von und mit den Nachbarn in Europa zu lernen und neue Formen des Engagements wie der Finanzierung sozialer Arbeit zu entwickeln.

(18) Deutschland ist bereits heute ein Land, in dem Menschen, die aus verschiedenen Ländern kommen, zusammenleben. Als Folge der demographischen Entwicklung ist zu erwarten, dass Deutschland längerfristig mehr Zuwanderung zulassen wird. Integration wird zu einer Zukunftsaufgabe der Gesellschaft, auch der sozialen Dienste.

Menschen verschiedener nationaler Herkunft und Deutsche verschiedener ethnischer Herkunft brauchen ihren spezifischen Problemlagen angepasste Hilfekonzepte - das betrifft zum Beispiel die Versorgung der älteren Menschen aus der ersten Generation der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen oder die Integration ausländischer Jugendlicher in Ausbildung und Erwerbsarbeitsmarkt sowie die Überwindung von Gewalt und Konflikten im alltäglichen Zusammenleben zwischen den verschiedenen Gruppen.

Die Zuwanderung kann aber auch für die Angebotsseite des Arbeitsmarkts für soziale Dienste bedeutsam sein, insbesondere im Bereich von Hilfstätigkeiten und auf dem Gebiet der Pflege spielen schon heute ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine wesentliche Rolle. Im Bereich der häuslichen Pflege und der hauswirtschaftlichen Unterstützung von pflegenden Angehörigen sind Erleichterungen für die Arbeitserlaubnis bereits erfolgt. Im Zuwanderungsgesetz werden die Rahmenbedingungen zukunftsgerecht ausgestaltet und  auch die Aspekte von Sprache und Qualifikation  berücksichtigt.

(19) Umstritten ist die Frage, ob die Globalisierung zu einer Anpassung der Sozialsysteme nach unten führen muss. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass auch Länder mit ganz unterschiedlichen Sozialsystemen ihre Handelsbeziehungen ausbauen können ohne die Sozialsysteme zu gefährden. Letztlich ist die Gestaltung der Sozialsysteme eine politische Aufgabe in nationaler Verantwortung. In der Europäischen Union gibt es auch dort angesiedelte Zuständigkeiten. Einen indirekten Einfluss der Globalisierung auf die humanen Dienste gibt es freilich in jedem Fall: sie führt zu Strukturwandel, insbesondere zum Abbau einfacher Tätigkeiten. Sie erhöht damit die Anforderungen an Qualifizierung und Weiterbildung, an Reintegration in den Arbeitsmarkt.

(20) Die „ Marktgesellschaft“ mit ihren ökonomischen Paradigmen hat zu einer zunehmenden Ökonomisierung auch des Sozialen geführt. Dazu gehören eine immer weitergehende Rationalisierung von Aufgaben in Pflege, Erziehung und Medizin, die in ihrem Kern durch Zuwendung und Beziehungsarbeit geprägt sind oder sein sollten, eine zunehmende Bedeutung von Funktionalisierung, Mobilität und Flexibilität auf Seiten der Mitarbeitenden und eine immer deutlichere Ergebnisorientierung. Gerade da, wo Erfolge sich nur einstellen können, wenn die „Kunden“ das „Produkt“ uno actu mit gestalten, können Funktionalisierung und häufiger Wechsel der Dienstleistenden zu einem Verlust an Qualität führen. Die Ökonomisierung der Gesellschaft führt dazu, dass die Familienarbeit wie die Erziehung von Kleinkindern, Ernährung, Pflege und Hauswirtschaft aber auch die beruflichen Tätigkeiten in diesem Bereich abgewertet werden. Hieraus ergeben sich wichtige Fragen für den langfristigen Zusammenhalt der Gesellschaft.

(21) Die beiden Kirchen gehen in ihrem gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage auf diese neue Situation ein. Sie fordern aber gerade nicht einen Abbau, sondern eine Stärkung der Sozialkultur, mehr Eigenverantwortung und eine Verwirklichung wahrer Subsidiarität. Ihnen geht es um mehr und nicht um weniger Solidarität. Was bedeutet dies alles für die Zukunft der sozialen Dienste?

2.2 Soziale Dienste im Wandel

(22) Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen haben sich auch die sozialen Dienste verändert. Die Entwicklung eines Sozialmarktes mit Wettbewerb und gleichzeitigen Konzentrationsprozessen bei den Trägern sozialer Arbeit ist ebenso zu beobachten wie neu erwachendes soziales Engagement und Eigenhilfe von Bürgern. Dort, wo staatliche Angebote nicht vorhanden sind, haben sich auch privat finanzierte Humandienste entwickelt. Dies gilt zum Beispiel für Weiterbildungsleistungen, kulturelle Angebote und teilweise für Gesundheitsdienste. Viele können solche Dienste indessen nicht bezahlen. Im Bereich der klassischen sozialen Dienste ergaben sich tiefgreifende Veränderungen. Es kam zu einem Druck auf Standards und Tarifstrukturen und damit auch auf die Beschäftigten in diesen Diensten.

(23) Insgesamt ist die Lage widersprüchlich. Es gibt Trends und Gegentrends zu gleicher Zeit. Begrüßenswerte und problematische Entwicklungen liegen eng beieinander und sind oft miteinander verbunden. Zum einen setzen die gestaltenden Kräfte in Gesellschaft und Staat auf einen Weg zu mehr Markt und Wettbewerb, zum anderen kommt es zu einer wachsenden Bürokratisierung mit vermehrten Vorgaben und stärkeren Kontrollen. Zum einen wird auf mehr Verantwortung und Eigenentscheidung vor Ort, z. B. in den Kommunen, gesetzt, zum anderen werden auch die finanziellen Lasten nach unten weitergegeben. Zum einen vollzieht sich ein Trend zu qualitativ hochwertigen Angeboten, vor allem im medizinischen Bereich und in der Altenhilfe, zum anderen führt der Wettbewerb zu einem Druck auf die Standards und zu Billigangeboten, vor allem in den ambulanten Diensten. Zum einen nehmen die Bedarfe zu, zum anderen stagniert die Bereitschaft, entsprechend öffentliche Mittel bereit zu stellen. Mehraufwendungen konzentrieren sich überwiegend auf den privaten Bereich.

(24) Kommunalisierung, Rationalisierung im Sozial- und Gesundheitswesen, Wettbewerbs- und Marktorientierung führen zur Beschleunigung in der Entwicklung der Organisationsformen. Neben der Ausgründung von spezialisierten Teilbereichen in GmbHs, dem Ausgliedern (Outsourcing) von Serviceleistungen und der Kooperation mit anderen Trägern entstehen Fusionen und Angebotsketten. Dabei wird angestrebt, ein unverwechselbares Profil zu beschreiben und eine Unternehmenskultur zu entwickeln, die Kunden wie Mitarbeitende binden kann. Hierhin gehören die verbreiteten Leitbild-, Qualitäts- und Zielvereinbarungsprozesse.

(25) Die Diakonie der Kirche ist Teil dieser Entwicklung, trägt an ihren Problemen mit und ist herausgefordert, in diesen Spannungsfeldern zukunftsgerechte Entscheidungen zu treffen. Diakonische Träger vollziehen Konzentrationsprozesse mit, versuchen ihre Position am Sozialmarkt zu stärken, lagern Einfachtätigkeiten zunehmend aus ihren Einrichtungen aus und bekommen zugleich die immer geringeren Leistungsbudgets zu spüren. Es bleibt immer weniger Zeit für die einzelnen Hilfebedürftigen und zur Stärkung lebensweltlicher Ressourcen. Die Gefahr, dass soziale Dienstleistungen eher produktorientiert als beziehungsorientiert ausgerichtet sind, nimmt zu.

(26) In eine schwierige Situation geraten dabei die einkommensschwachen Beschäftigten mit einfachen Tätigkeiten. Weil die Tarifstrukturen des öffentlichen Dienstes nicht mehr wettbewerbsfähig sind, werden diese Tätigkeiten abgebaut oder ausgelagert. Zeitverträge, Teilzeitstellen und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu. Betroffen sind besonders Frauen, viele von ihnen leben ohnehin in besonders belastenden Lebenssituationen. Auch im Bereich der sozialen Dienstleistungen findet sich das Auseinanderdriften von hohen und niedrigen Einkommen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, werden in Leitungspositionen und bestimmten Berufsgruppen auch außertarifliche Gehälter bezahlt.

(27) Die zunehmende Rationalisierung von Arbeitsprozessen erschwert den Aufbau kontinuierlicher Beziehungen zu Patienten und Hilfebedürftigen. Insbesondere in der Pflege wechseln Betreuungspersonen häufig. Die Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nimmt zu. Die Verweildauer von Beschäftigten ist - besonders in der Altenhilfe - gering. Erwartungen an Flexibilität, Verfügbarkeit und Lernbereitschaft nehmen zu. Dazu gehört auch die Bereitschaft, die eigene Dienstleistung unter dem Gesichtspunkt der Effektivität kontinuierlich zu verbessern.

(28) Die Aufgabe, Nachbarn, Angehörige und Freiwillige in die Hilfe zu integrieren, ist dringender denn je; sie stellt zugleich eine zusätzliche Anforderung an Hauptberufliche dar. Gerade in den stationären Einrichtungen ist die Beschäftigung von Freiwilligen gering, obwohl hier der Bedarf an menschlicher Zuwendung besonders hoch ist. Selbstverständnis und Motivation von Freiwilligen hat sich auch in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt. Die Mehrzahl von ihnen sind Frauen. Sie verstehen sich nicht mehr als ergänzende Mitarbeiter einer Institution, sondern wollen eigene Fähigkeiten, Vorstellungen und Konzepte einbringen, wollen mitgestalten, aber auch ihren Beitrag zeitlich begrenzen. Ihre freiwillige „ehrenamtliche“ Tätigkeit sehen sie oft als Brücke in die Erwerbswelt. Eine Gesamtkonzeption für die Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen, die Informations- und Entscheidungsstrukturen regelt und Schnittstellen beschreibt, ist deshalb unverzichtbar.

(29) Verbraucherbewusstsein, Freiheitsbewusstsein und Selbstbewusstsein der Hilfebedürftigen nehmen zu. Aber es sind eher die Einkommensstärkeren und Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen, welche ihre Interessen artikulieren und die entsprechenden Dienste in Anspruch nehmen können. Daneben erleben viele Hilfebedürftige ihre Lage als eine prekäre Abhängigkeitssituation. Hier steht die Solidargemeinschaft in einer besonderen Verantwortung, die Würde der Betroffenen zu achten und zu wahren. Die Diakonie der Kirche versteht sich - ungeachtet ihrer Trägerposition - als Anwalt dieser Gruppen.

(30) Der Kostendruck, der insbesondere durch die Deckelung der gesetzlichen Pflegeversicherung verursacht wird, führt dazu, dass die Qualität sozialer Dienste, insbesondere im Bereich kommerzieller
Anbieter, häufig nicht gewährleistet ist.

Deshalb besteht zwischen den Leistungsanbietern, den Kostenträgern und den Nutzern sozialer Leistungen weitgehend Konsens, dass die Qualität sozialer Arbeit beschrieben und im Sinne einer Qualitätsverbesserung weiterentwickelt werden soll. Eine höhere Qualität stellt dabei sowohl an die Organisation der Dienstleistungsanbieter, die Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und mittel- und längerfristig auch an die Kostenträger (Krankenversicherung, Pflegeversicherung etc.) höhere Anforderungen.

2.3 Versorgender oder aktivierender Sozialstaat - Auf dem Wege zur Zivilgesellschaft?

(31) Der moderne Sozialstaat in Deutschland hat sich bewährt, aber er hat auch viele Ressourcen an sich gezogen und Eigeninitiative zu wenig gefördert. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Bürgerinnen und Bürger. Bei vielen von ihnen hat sich deshalb ein Versorgungsdenken herausgebildet, das die eigene Rolle unterbewertet, die Rolle des versorgenden Staates überbewertet. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit dieser Grundeinstellung die Probleme der Zukunft nicht gelöst werden können. Zum sozialen Rechtsstaat gehört die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger ebenso wie ihre Mitverantwortung für andere.

(32) An die Stelle des Versorgungsstaats soll der aktivierende Sozialstaat treten, der den Rahmen bereitstellt, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihrer eigenen Verantwortung für die Gesellschaft gerecht werden können. Bürger und ihre Organisationen und Institutionen übernehmen dann solche Aufgaben, aus denen sich der Staat zurückziehen kann. Zu den zentralen Voraussetzungen der Bürgergesellschaft gehört freilich die Mündigkeit aller Bürgerinnen und Bürger. Ein Blick in die Realität macht es schwer, auch in den entwickelten Gesellschaften der Moderne davon auszugehen. Kann aber nur ein Teil der Gesellschaft den Anforderungen entsprechen, welche dieses Konzept von ihnen verlangt, ergeben sich erhebliche Probleme. Wie ist es zu legitimieren, dass die „mündigen“ Bürger das Schicksal ihrer „nicht-mündigen“ Mitmenschen bestimmen? Schon aus diesem Grunde bleibt die Zivilgesellschaft auf die legitimierende Funktion des sozialen Rechtsstaats angewiesen.

(33) Die Diakoniedenkschrift der EKD „Herz und Mund und Tat und Leben“ (1998) entfaltet ganz in diesem Sinne ein Gesellschaftsbild der engagierten Gruppen und Verbände: Die soziale und kulturelle Arbeit, heißt es da, ist „geprägt von den zahllosen nichtstaatlichen Initiativen, Gruppen, Verbänden und Einrichtungen, die soziale und kulturelle Aufgaben wahrnehmen und so dem Gemeinwohl in selbstbestimmtem Einsatz dienen. Sie bilden gemeinsam mit den engagierten Bürgerinnen und Bürgern die sog. ‘Zivilgesellschaft’. Bürgerschaftliches Engagement bietet den Rahmen, soziale Anliegen in Eigeninitiative und gemeinschaftlich zu artikulieren, damit sie politisch aufgegriffen und öffentlich verhandelt werden können. Die diakonische Arbeit der Kirche ist Teil dieses Engagements. Krankenbesuche, Hilfe für Flüchtlinge und Aussiedler, Spendensammlung in der Gemeinde, Mitarbeit im Diakoniearbeitskreis, Förderung eines Kindergartens der Gemeinde und Selbsthilfegruppen, dies alles ist Ausdruck eines gelebten christlichen Glaubens und zugleich ein Engagement im Rahmen der ‘Zivilgesellschaft’. Es gehört zur Realität der Diakonie, dass Kooperationen mit außerkirchlichen Stellen und Gruppen im sog. Dritten Sektor an der Tagesordnung sind. Kirchengemeinden initiieren mit kommunalen Stellen ‘Runde Tische sozialer Verantwortung’ gemeinsam mit Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, der Arbeitsverwaltung, der Wirtschaft und den Unternehmern, Gewerkschaften und dem Sozialamt und erstellen lokale Armutsberichte.“ (Ziff. 24) Die Diakonie hat unabweisbar die Aufgabe, bei den Menschen zu sein und für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit einzutreten. Christen wissen sich in der Konsequenz ihres Glaubens zu einem Engagement für die Armen und Benachteiligten verpflichtet. Aus dieser Überzeugung setzen sie sich gemeinsam mit anderen für ein Gemeinwesen ein, in dem allen Menschen die Perspektive eines erfüllten Lebens eröffnet wird.

(34) Die Forderung nach einer stärkeren Erschließung sozialer Ressourcen in der Gesellschaft und dem Ausbau sozialer Dienste geht von einem Menschen- und Gesellschaftsbild aus, bei dem engagierte, mündige und verantwortungsbewusste Bürger und zugleich große Bedarfslagen im Mittelpunkt stehen. Von dieser Perspektive her ist zu widersprechen :

a) einem Ansatz, der von einem problematischen Verständnis der Geschlechterrollen ausgeht, die Aufgaben personenbezogener Dienstleistungen (Familienarbeit, Kindererziehung, Versorgungsleistungen, Hilfe bei Hausaufgaben, Pflegeleistungen u. a.) vorwiegend Frauen in den Familien zuweist, Erwerbsarbeit, Leitungsaufgaben und gesellschaftliche Verantwortung aber vor allem Männern zuerkennt;

b) einem Ansatz, der von einem Verständnis eines umfassend verantwortlichen Versorgungsstaats ausgeht, der Leistungen den Versorgungsempfängern als Objekten der Hilfe zukommen lässt und in keiner oder nur geringer Weise Eigenverantwortung und persönliches Engagement voraussetzt;

c) einem Ansatz, der die Aktivierung von sozialen Ressourcen in der Gesellschaft im Grunde im Sinne einer Privatisierung sozialer Lebensrisiken versteht, die Stärkung der Eigenverantwortung eher als willkommene Möglichkeit zur Lastenverschiebung von oben nach unten sieht oder als willkommene Chance zur Abschöpfung privater Mittel Vermögender am Sozialmarkt;

d) einem Ansatz, der ausschließlich von der Sicht der Anbieter von Sozialleistungen und Humandienstleistungen bestimmt ist und sich eine Mobilisierung von sozialen Ressourcen nur im klassischen institutionellen Bereich vorstellen kann.

(35) In der Idee der Zivilgesellschaft wird der Stellenwert des Gedankens der Subsidiarität deutlich. „Jede Art von Hilfe und darum auch die Gemeinschaftshilfe ist in um so höherem Grad wirklich hilfreich, als sie den Hilfsbedürftigen so wenig wie möglich als hilfloses Objekt behandelt, vielmehr ihn so viel wie möglich zur Selbsthilfe instand setzt und ihm Gelegenheit gibt, als aktives Subjekt selbst an der Befreiung aus seiner Not mitzuwirken, sich aktiv daran zu beteiligen. Unter dieser Rücksicht ist auszumachen, wer der jeweils berufene Helfer ist. Dies und nichts anderes ist das vielberufene Subsidiaritätsprinzip.“ (Oswald von Nell-Breuning, Der Sozialstaat in der Krise, 1984, S. 93) Im gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (1997) wird dem Prinzip der Solidarität das Prinzip der Subsidiarität zur Seite gestellt. Es ist die Menschenwürde, heißt es da, die dazu herausfordert, „der je einmaligen Würde und damit der Verantwortungsfähigkeit und Verantwortlichkeit einer jeden menschlichen Person Rechnung zu tragen.“ So ist die Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft, „die Verantwortlichkeit der einzelnen und der kleinen Gemeinschaften zu ermöglichen und zu fördern.“ (a.a.O. Ziffer 120) Weiter heißt es: „Die gesellschaftlichen Strukturen müssen daher gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität so gestaltet werden, dass die einzelnen und die kleineren Gemeinschaften den Freiraum haben, sich eigenständig und eigenverantwortlich zu entfalten.“ Die einzelnen in der Gesellschaft und die Gruppen müssen „die Hilfe erhalten, die sie zum eigenständigen, selbsthilfe- und gemeinwohlorientierten Handeln befähigt.“ Das heißt: Es gilt „Abschied zu nehmen von dem Wunsch nach einem Wohlfahrtsstaat, der in paternalistischer Weise allen Bürgerinnen und Bürgern die Lebensvorsorge abnimmt. Demgegenüber gilt es, Eigenverantwortung und Eigeninitiative zu fördern. Es gilt, in den Betrieben wie in der Gesellschaft die vorhandenen menschlichen Fähigkeiten, Ideen, Initiativen und soziale Phantasie zum Tragen zu bringen und die Erneuerung der Sozialkultur zu fördern. Andererseits entspricht es nicht dem Sinn des Subsidiaritätsprinzips, wenn man es einseitig als Beschränkung staatlicher Zuständigkeit versteht. Geschieht dies, dann werden dem einzelnen, den kleineren Gemeinschaften, insbesondere den Familien, Lasten aufgebürdet, die ihre Lebensmöglichkeiten im Vergleich zu andern Gliedern der Gesellschaft erheblich beschränken. Gerade die Schwächeren brauchen Hilfe zur Selbsthilfe. Solidarität und Subsidiarität gehören also zusammen und bilden gemeinsam ein Kriterienpaar zur Gestaltung der Gesellschaft im Sinne der sozialen Gerechtigkeit.“ (a.a.O. Ziffer 121)

Damit sind Perspektiven und Grenzen von Subsidiarität beschrieben. Einerseits geht es um die Förderung der persönlichen Fähigkeiten, der eigenen Phantasie, der eigenen Leistung, der Lern- und Veränderungsfähigkeit. Hierin liegt der wahre Reichtum eines Gemeinwesens, hier liegen Verwirklichungschancen des einzelnen sowie auch die Chancen für eine dynamische Volkswirtschaft. Andererseits heißt Subsidiarität „nicht, den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen.“ (a.a.O. Ziffer 27)

(36) Die Zivilgesellschaft und ihr Angebot stellen also keinen Ersatz für den Sozialstaat dar, der nachhaltig auf gesellschaftlichen Zusammenhalt hinwirken muss. Der Staat darf sich nicht auf Anregungen und Rahmensetzung beschränken, er hat als aktivierender Sozialstaat eine wichtige Gestaltungs- und Finanzierungsaufgabe. Die Zivilgesellschaft taugt auch nicht als Zauberformel zur Lösung der staatlichen Haushaltsprobleme.

2.4  Dienst und Engagement - Zur Wertdimension sozialer Dienste

(37) Die Wiedergewinnung und Mobilisierung sozialer Dienste für ein gerechteres, solidarischeres und zukunftsfähigeres Gemeinwesen berührt ethische Grundfragen und grundsätzliche Aspekte des Dienstes der Christen in der Gesellschaft.

(38) Religiöse Orientierung und spirituelles Erleben werden - insbesondere bei kirchlichen Trägern - als elementare Dimension sozialer Dienste nachgefragt und müssen in die Hilfekonzepte einbezogen werden. Angebote der Sterbebegleitung, Hilfen bei der „Trauerarbeit“, neue Rituale an den vielfältigen Brüchen und Schwellen der Biographie, die seelsorgerische Unterstützung von Selbsthilfe- und Freiwilligengruppen lassen die sinnstiftenden Hilfen kirchlicher Arbeit praktisch werden und leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Stärkung der Sozialkultur. Hier können Kirche und Diakonie ihr spezifisches Profil qualitätsvoll einbringen.

(39) Das Dienstverständnis hat sich gewandelt. „Dienen wird immer weniger als Selbstpreisgabe und Aufopferung verstanden, sondern vielmehr als Partizipation an der Entwicklung und Ausgestaltung der Diakonie. Aufgrund dieser Tatsache ist es notwendig, über das neue Dienstverständnis nachzudenken und in Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition eine neue, tragfähige Konzeption zu entwickeln. In der ‘neuen Diakonie’ wollen die Mitarbeiter an den Entscheidungs- und Leitungsprozessen teilhaben. Genauso sind sie aber auch selbst bereit, den Betreuten wie den Ehrenamtlichen diese Teilhabe zu gewähren.“ (Diakoniedenkschrift, Ziff. 121) Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwarten, dass es zu ihrem Dienst einen „Gegenwert“ gibt. Zu der erwarteten Wertschätzung und Anerkennung gehört eine angemessene Vergütung ebenso wie die Möglichkeit, eigene Vorstellungen, eigene Kenntnisse und Erwartungen einzubringen. Sie empfinden Genugtuung darüber, wenn den Mitarbeitern eine Aufgabe zugetraut wird. Sie erwarten, dass Entwicklungschancen spürbar sind; der Sinn des Dienstes muss erkennbar sein. Mit Paolo Ricca: „Der vornehmste Dienst an einem Menschen ist der Dienst an seiner Freiheit“ (Die Waldenser Kirche und die Diakonie in Europa- eine Perspektive des Südens, in: Theodor Strohm (Hg.), Diakonie in Europa. Heidelberg 1991) verstehen sie Dienst als Bemühung, Menschen zur Freiheit zu verhelfen, Menschen ihr Recht zu geben und ihnen zu ihrem Lebensrecht zu verhelfen. Dienst an der Freiheit kann nur der tun, der selbst frei ist. Strukturen und Arbeitszusammenhänge müssen dem Rechnung tragen.

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