Soziale Dienste als Chance
3. Problemanalyse und Lösungsansätze
(40) Es sind nicht alleine die Finanzierungsprobleme des Sozialstaats, nicht alleine die Entwicklungen auf nationaler und internationaler Ebene und es sind nicht allein die neuen wachsenden Bedarfe sozialer Dienstleistungen, die zu der Forderung nach einer Ausweitung sozialer Dienste und damit nach einer entschlossenen Erschließung sozialer Ressourcen in der Gesellschaft führen. Es ist auch das Grundverständnis des Menschen als einem eigenverantwortlichen und sozialen Wesen und das Verständnis einer sozialen und gerechten Gesellschaft. Im Bereich der sozialen Dienste liegt eine der großen gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben der Zukunft.
(41) Die Mobilisierung sozialer Ressourcen darf sich nicht auf die Hilfestrukturen beschränken, sondern sie muss sich auf die Zivilgesellschaft und insbesondere auf die Hilfebedürftigen selbst ausdehnen. Der Grundsatz „Aktivierung statt Versorgung“ muss zu einem durchgängigen Prinzip entwickelt werden. Es geht dabei um die Stärkung der Selbsthilfekompetenz und des Subjektseins, um eine behutsame Anleitung und Ermutigung zu Eigeninitiative und Eigenverantwortung, um die Entwicklung von Bürgeraktivität und das Schaffen von neuen Erwerbsmöglichkeiten, z. B. Arbeitsprojekte in den Kommunen.
3.1 Neue Formen der Organisation sozialer Dienste - Wettbewerb, Regulierung und Administration
(42) Als erste Wohlfahrtseinrichtungen entstanden, gab es im Normalfall keine Trennung von Finanzierung und Erstellung des Angebots. In der Ausbauphase des Sozialstaats wuchs die Nachfrage nach sozialen Diensten schneller als die Mittel privater und gemeinnütziger Träger von Wohlfahrtseinrichtungen. Die Folge waren zwei Entwicklungen: Einmal engagierte sich der Staat, insbesondere die Kommunen als Träger wohlfahrtsstaatlicher Angebote. Andererseits übernahm der Staat einen erheblichen Teil der Finanzierung der Angebote gemeinnütziger Organisationen. Damit vollzog sich schrittweise eine Trennung von Finanzierung und Erstellung des Angebots von Leistungen sozialer Dienste. Zugleich verschärften sich die Konflikte um die Frage, wer für die Erstellung sozialstaatlicher Angebote zuständig ist.
(43) Mit der Verkleinerung des Eigenanteils gemeinnütziger Anbieter ergab sich eine neue Konkurrenz mit privatwirtschaftlichen Anbietern. Es entstand ein „Sozialmarkt“ mit Wettbewerb zwischen öffentlichen, freigemeinnützigen und privatwirtschaftlichen Anbietern. Zunächst wurde der Versuch gemacht, diesen Wettbewerb auf administrativem Wege durch Prioritätssetzungen zu umgehen. Dieser Versuch war teuer und wenig erfolgreich. Auch die Etablierung eines freien Marktes begegnet erheblichen Schwierigkeiten. Von öffentlichen und freigemeinnützigen Trägern wird immer wieder darauf verwiesen, dass die Qualitätsstandards privater Träger deutlich niedriger als die ihren seien. Deswegen könne ein unbegrenzter Wettbewerb nicht zugelassen werden. Diese Schlussfolgerung ist falsch.
(44) Die Alternative kann nicht der Verzicht auf Wettbewerb, sondern nur die Durchsetzung von Qualitätsstandards sein. Der Markt der sozialen Dienste muss so reguliert werden, dass einheitliche Qualitätsstandards durchgesetzt werden. Dies ist keine einfache Aufgabe, denn jede Regulierung birgt die Gefahr der Bürokratisierung in sich. Die Entwicklungen in der Pflegeversicherung zeigen, wie groß diese Gefahr inzwischen geworden ist. Angesichts der Tatsache, dass die Kostenstrukturen der Anbieter sehr unterschiedlich sind, liegt die Versuchung nahe, die Qualität möglichst in leicht beurteilbaren kostennahen Kriterien zu beurteilen. Dies ist ein Irrweg. Die Regulierung muss Zielvorgaben setzen, in deren Mittelpunkt die Qualität des Erreichten der sozialen Dienstleistung steht und die auch subjektive Indikatoren der Betroffenen einschließt. Bei der Definition von Qualitätsstandards kommt es zugleich darauf an, Qualitätskriterien so zu fassen, dass Weiterentwicklungen und auch Innovationen möglich bleiben. Die Erstellung, Umsetzung und Durchführung der Qualitätssicherungs- und -prüfungssysteme ist eine staatliche Aufgabe, die nicht auf Kosten der Ressourcen gehen darf, die für den eigentlichen Dienst zur Verfügung stehen.
(45) Für die Zukunft muss gelten:
- Finanzierung und Angebot sozialer Dienste sind zu trennen. Kommunen, Bezirksregierungen oder Landschaftsverbände können mittelfristig nicht zugleich Kriterien aufstellen, fördern, prüfen und als Wettbewerber auftreten. Übergangsregelungen wie Ausnahmetatbestände sind politisch abzustimmen. So ist z. B. zu klären, ob im Bereich der Elementarbildung besondere Regelungen gelten sollen.
- Die Erstellung sozialer Dienste ist in mehrjährigem Rhythmus unter Angabe zielorientierter Leistungs- und Qualitätskriterien auszuschreiben. Dabei ist im Interesse der Klienten auf hinreichende Kontinuität zu achten.
- Nicht kurzfristig überwindbare Kostenunterschiede zwischen den Trägern sind wegen der Tarifbindungen einiger der Träger für eine Übergangszeit teilweise zu berücksichtigen.
Wir sind uns bewusst, dass Wettbewerb in einem Bereich, der es mit Menschen zu tun hat, Grenzen hat. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob eine starke staatliche Reglementierung stets einen besseren Lösungsansatz bildet.
(46) Nur der Kernbestand der öffentlichen Daseinsvorsorge wird über diesen Wettbewerb nicht zu steuern sein und Auftrag des öffentlichen Sektors bleiben. Hier ist auch der besondere Beitrag der Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts zu berücksichtigen.
(47) Beschäftigungsrelevant für die Zukunft wird jedoch auch der kundenregulierte soziale Markt sein. Viele Anbieter setzen hier im Wettbewerb bewusst auf Qualität. Dabei spielen Qualitätsstandards eine wesentliche Rolle. Eine Stärkung der Rechte der Betroffenen, das heißt insbesondere ein Ausbau des Verbraucherschutzes, kann diese Entwicklung stärken.
(48) Besondere Bedeutung für die weitere Entwicklung sozialer Dienste hat die Reform des Gesundheitswesens. Die Kammer der EKD für soziale Ordnung hat sich zu diesem Thema in ihrer Studie „Mündigkeit und Solidarität“ im Jahre 1994 geäußert. Viele der damals gemachten Vorschläge sind nach wie vor aktuell. Grundlegende Reformen bleiben notwendig.
Im Zusammenhang mit dieser Studie ist es besonders wichtig, die stationären, teilstationären und ambulanten Angebote im Gesundheitswesen mit ihren unterschiedlichen Budgets zu vernetzen, um das „Case Management“ zu verbessern und mit den begrenzten Ressourcen verantwortlich umzugehen. Dabei wird allerdings der mögliche Einsparungseffekt unterschiedlich beurteilt. Die zunehmende Spannung zwischen Möglichkeiten und Ressourcen zwingt zu einer Reform des Gesundheitswesens, die ohne stärkeres Engagement der Patienten und eine Neubestimmung des medizinisch Notwendigen nicht auskommen wird. Nur so wird es möglich sein, Rationierungen im Sinne von Mengenbegrenzungen bestimmter Leistungen zu verhindern. Rationierungen haben, von wenigen besonderen Ausnahmefällen abgesehen, in einem freiheitlich orientierten Sozialstaat nichts zu suchen. Da die Patienten in der Regel nicht über notwendige Sachkenntnisse verfügen, kommt den Kassen eine wesentliche Steuerungs- und Gestaltungsfunktion, aber auch eine besondere Verantwortung zu. Um der Autonomie und Mündigkeit der Patienten willen ist allerdings eine Regulierung für den Wettbewerb der Kassen notwendig.
3.2 Selbsthilfe und das Engagement Freiwilliger
(49) Soziale Arbeit kommt nur dann zu ihrem Ziel, wenn sie Selbsthilfepotentiale stärkt, lebensweltbezogen ist und professionelle Hilfe mit freiwilligem Engagement verbindet. Vor allem die präventive, rehabilitative und die palliative Arbeit ist ohne solche Aktivierung nicht möglich. In diesen Bereichen sollten die Kassen Einrichtungsträgern professionelle Aufgaben nur dann finanzieren, wenn diese die Aktivierung zur Selbsthilfe und Freiwilligenarbeit einbeziehen. Hier geht es nicht darum, hauptamtliche Arbeit mehr und mehr durch freiwillige Tätigkeit zu ersetzen oder Ehrenamtliche für „Handlangerdienste“ einzusetzen, sondern die Leistungen der Professionellen durch Freiwilligendienste zu ergänzen, Freiwillige durch Hauptamtliche zu befähigen und zu qualifizieren.
(50) In diesem Zusammenhang wird häufig von ehrenamtlicher Tätigkeit gesprochen. Die Abgrenzung von freiwilliger und ehrenamtlicher Tätigkeit ist schwierig. Beide Begriffe beschreiben das, worauf es ankommt, nur unvollkommen. Im Begriff „Ehrenamt“ wird das Element der Freiwilligkeit nicht deutlich, zugleich wird mit dem Amtsbegriff ein Standard suggeriert, dem die Wirklichkeit nicht entspricht. Auf der anderen Seite enthält der Begriff der „freiwilligen Tätigkeit“ eine Beliebigkeit, die den verlässlichen Einsatz freiwillig Mitarbeitender in Frage stellt. Trotz der hiermit verbundenen Probleme wird in dieser Studie in der Regel von freiwilliger Arbeit gesprochen, auch um dem Missverständnis vorzubeugen, die Probleme sozialer Dienste könnten durch das „Ehrenamt“ gelöst werden.
Freiwillige Tätigkeit basiert auf persönlicher Motivation und Wahlmöglichkeit. Sie entsteht aus freiem Willen und ist ein Weg zur bürgerschaftlichen Beteiligung im Gemeinwesen. Wesentliche Motive hierfür sind nach empirischen Studien die Ermöglichung von sozialen Kontakten sowie eine innere Befriedigung über die Ergebnisse des Handelns. Dieser Wandel in der Motivation freiwilliger Tätigkeiten von dem Pflichtgedanken in der Vergangenheit hin zu emanzipatorischen Tugenden muss in der Gestaltung dieses Tätigkeitsfeldes berücksichtigt werden.
(51) Um den Einsatz freiwilliger Tätigkeit möglich zu machen, muss die Gesamtlogik sozialer Dienste und Humandienstleistungen in einer Zeit zunehmender Rationalisierung und Zeitknappheit neu durchdacht werden. Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass Mitarbeitende in sozialen und pflegerischen Berufen die Bereitschaft, anderen zu helfen, als Grundmotivation mitbringen. Insbesondere Frauen bringen darüber hinaus vielfältige Kompetenzen der Lebensbewältigung aus der Familienarbeit in die Erwerbsarbeit ein. Hinzu kommen ergänzende Erfahrungen aus freiwilligen Tätigkeiten wie Nachbarschaftshilfe, Elternvertretung, Vereinsarbeit oder Kirchengemeinden. Gerade die ethische und religiöse Motivation, sich für soziale Aufgaben einzusetzen, wird oft in diesen Zusammenhängen gewonnen. Deswegen ist die Anerkennung von Familienarbeit und freiwilligen Diensten bei der Einstellung in ein Beschäftigungsverhältnis, die Würdigung der Feldkompetenz neben der Fachkompetenz, unverzichtbar. Die Öffnung professioneller Dienstleister für die Zusammenarbeit mit Freiwilligen, Familien und Nachbarschaften, die aktive Suche nach Freiwilligen und Engagementbereiten und die Erleichterung des Übergangs zwischen nicht bezahlter und bezahlter Arbeit kann dazu beitragen, dass soziale Dienstleistungen als das begriffen werden, was sie sind: Beziehungsarbeit, an der die Nutzer beteiligt bleiben, Angebote der Hilfe, die sich deswegen nicht wie andere Produkte der Wegwerfgesellschaft konsumieren lassen. Die nichtbezahlte Arbeit in Familie und Nachbarschaft ist eine Quelle dieses Wissens, eine Schule sozialen Lernens. Wer heute über Qualität und Qualifizierung sozialer Arbeit nachdenkt, muss diese Erfahrungsfelder einbeziehen.
(52) Die Stärkung der Selbsthilfepotentiale und der Freiwilligenarbeit braucht hohe professionelle Kompetenz und Arbeitszeit der Hauptamtlichen, die als Multiplikatoren oder Anleiter dienen. Die Organisationsstrukturen der betreffenden Einrichtungen sind entsprechend anzupassen. Kirche und gerade auch die diakonischen Einrichtungen müssen sich vermehrt darauf einlassen zu prüfen, wo und wie sie ihre Arbeit für Freiwillige öffnen können - aber es muss gleichzeitig auch deutlich werden, dass in bestimmten Arbeitsfeldern dem freiwilligen Engagement Grenzen gesetzt sind.
(53) Die Ökonomisierung des sozialen Dienstleistungssektors schwächt die Freiwilligkeit. Das kann dazu führen, dass freiwillig erbrachte Leistungen entwertet werden, denn sie funktionieren nach einem umgekehrten Tauschwertprinzip: „Die beste Leistung ist die, die mit hoher Kompetenz für kein Geld erbracht wird.“ Die für das freiwillige Engagement ausgebildeten Menschen wandern in die Erwerbsarbeit ab, weil sie dort mehr Einfluss und größere „geldwerte“ Schätzung erfahren. Demgegenüber muss Gewinn und Wertschätzung der Arbeit und der Menschen, die sie tun, in den Vordergrund treten. Die Motivation von Freiwilligen braucht komplementär professionelle Arbeitszeit und professionelle Kompetenz. Dafür brauchen die hauptamtlich Mitarbeitenden neue Qualifizierung.
(54) Gegenwärtig ist die politische Zukunft von Wehrdienst und Ersatzdienst ungeklärt. Sollte es zu einer tiefgreifenden Veränderung des Zivildienstes oder zur Abschaffung der Wehrpflicht mit Wegfall des Zivildienstes kommen, sind grundlegend neue Entscheidungen erforderlich, welche die demographische Entwicklung, die Gleichstellung von Männern und Frauen, Aspekte sozialen Lernens in Freiwilligendiensten und den Bedarf an sozialer Arbeit einbeziehen.
3.3 Grade der Professionalität, einfache Tätigkeit, Zuwendung und Engagement - Zur Rolle einfacher
Tätigkeiten in den sozialen Diensten - Was können Laien ?
(55) Zu den großen Erfolgen in der inhaltlichen Gestaltung sozialer Dienste zählt ihre Professionalisierung. Historisch hat es eine Weile gedauert, bis klar wurde, dass auch die Zuwendung zum Menschen nicht nur guten Willen erfordert, sondern auch fachliche Qualifikationen. Als dann in der Nachkriegszeit Menschen mit einfacher Qualifikation von den Fließbändern der Industrie angezogen wurden, kam ein neuer Aspekt hinzu. Über die Professionalisierung und die damit verbundene Qualifikation versuchte man die sozialen Dienste attraktiv zu machen. Da es schwierig war, Arbeitskräfte für einfache Hilfstätigkeiten zu gewinnen, wurden deren Aufgaben in professionell orientierte Arbeitsplätze integriert. Es entstanden die sogenannten Mischarbeitsplätze, die wegen ihrer Höherwertigkeit durchaus positiv eingeschätzt wurden.
Im Nachhinein erwies sich dies als Fehlentwicklung. Im industriellen Strukturwandel wurden Menschen mit einfacher Qualifikation arbeitslos. Für sie gab es dort keine Beschäftigungsmöglichkeiten mehr. Ein ähnlicher Prozess spielte sich in Teilen der sozialen Dienste ab, auch hier wurden insbesondere Menschen mit einfachen Qualifikationen ausgegliedert, zum Teil weil sie relativ teuer geworden waren.
(56) Mit dieser Entwicklung ist die Frage nach dem Verhältnis von professionell qualifizierter Tätigkeit zu einfacher Tätigkeit neu gestellt. Internationale Vergleiche zeigen, dass es Länder gibt, in denen verhältnismäßig wenige professionell qualifizierte Kräfte mit relativ mehr einfach Qualifizierten zusammenarbeiten.
(57) Eine Veränderung dieses Verhältnisses bedeutet keine Abkehr von der Professionalisierung sozialer Dienste. Sie ist notwendig und muss auch in Zukunft erhalten bleiben. Aber gerade die Humandienste können auch Arbeitsplätze für Menschen mit fachlich einfacher Qualifikation bereitstellen. Dies gilt für Hauswirtschaftsdienste und Begleitdienste, für Service und viele Aufgaben die mit den Pflege- und Betreuungsdiensten verknüpft sind. Eine Neubesinnung über den jeweiligen Grad der Professionalisierung gerade in komplexen Institutionen ist auch beschäftigungspolitisch bedeutsam.
(58) Damit angesprochen ist aber auch das Verhältnis von professioneller zu freiwilliger Arbeit.
(59) Inzwischen hat sich die Situation verändert, allerdings eher in zufälliger Weise. Da die finanzielle Belastungsgrenze der Versicherungssysteme wie der privaten Kunden erreicht ist, wurde soziale und pflegerische Arbeit in den letzten Jahren soweit wie möglich rationalisiert. Während in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern Verwaltungskräfte zu Lasten der sozialpädagogischen Fachkräfte eingespart wurden, wurden in den Pflegeeinrichtungen besonders in Teilzeitstellen oder geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen zunehmend unausgebildete Mitarbeiterinnen eingestellt. Bei einer steigenden Erwartung an Managementkompetenzen, wie sie sich z.B. bei der Etablierung von Pflegestudiengängen zeigt, hat dies zu einer stärkeren Spreizung der Professionalität und der Kompetenzen geführt.
Dabei erweist es sich als problematisch, nicht ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihre Teilzeitbeschäftigung lediglich als ergänzende Erwerbstätigkeit verstehen, gerade bei aus dem privaten Alltag vertrauten Dienstleistungen wie Hauswirtschaft, Betreuung, Service und Pflege in die Arbeitsaufläufe, die Qualitätsstandards und das Selbstverständnis des Trägers einzuführen. Ein Training-on-the-Job für ungelernte Arbeitskräfte könnte ein notwendiger Schritt zur Qualifizierung sein. Viele Träger tun sich allerdings noch schwer mit dieser Vorstellung, weil sie fürchten, die mit Mühe durchgesetzten professionellen Standards der Ausbildungsgänge zur Disposition zu stellen.
(60) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich sozialer Dienste und Humandienstleistungen wird ein hohes Maß an Beziehungsarbeit, Kooperationsfähigkeit und die Fähigkeit mit Krisen umzugehen, abverlangt. Nicht zufällig sind hier überwiegend Frauen beschäftigt. Sie bringen ihre familiären Kompetenzen und Belastungen in die Berufsarbeit ein. Zur Unterstützung ihrer Arbeit und zum Erhalt ihrer persönlichen Motivation sind familienunterstützende Dienste ebenso auszubauen wie Programme für Wiedereinsteigerinnen nach der Familienphase. Ebenso notwendig sind Supervisions- und Beratungsangebote für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, z. B. gegen die Gefahr des Ausbrennens bei Überlastung, Angebote eines zeitweisen Ausstiegs (Sabbatjahr) sowie Trainings- und Motivationsprogramme für Frauen im Interesse der Geschlechtergerechtigkeit.
(61) Soziale Arbeit versucht mit Sensibilität für Bedarfssituationen Nöte der Menschen zu erkennen, aufzugreifen und Lösungsansätze im Sinne sozialer Dienstleistungen anzubieten. Viele Diakonische Werke haben diese Aufgabe in ihren Satzungen niedergelegt. Wichtig ist dabei die Entwicklung von Haltungen und Einstellungen, das Lernen und Aneignen von sozialer Kompetenz. Diese kann nur durch Einüben in soziale Praxis angeeignet werden. Dazu gehören milieu-überschreitende Erfahrungen und der „Dialog von Ungleichen“. Soziale Kompetenz schließt die Fähigkeit zur Krisenbewältigung ein. In diesen Situationen werden Sinnfragen und religiöse Motivation der Handelnden auf besondere Weise thematisiert. Soziale Kompetenz muss auf vier Ebenen entwickelt werden:
a) Qualifizierung der Bürgerinnen und Bürger im Sinne eines lebenslangen sozialen Lernens, das in Elternhaus und Schule beginnen muss. Dazu gehört eine Kooperation der verschiedenen Erziehungs- und Bildungsträger. Kirche, Schule und soziale Einrichtungen sollten Jugendliche kooperativ an soziale Arbeit heranführen. Es geht dabei um die Sozialisierung in soziale Arbeit, um das „Lernen sozialer Verantwortung“ und die Entwicklung sozialer Grundkompetenz als Teil jeder beruflichen Bildung.
b) Qualifizieren von Freiwilligen. Gerade die Kirche muss hier eine besondere Aufgabe sehen. Dabei geht es auch darum, die lebensweltliche Kompetenz von Frauen in freiwillige soziale Projekte einzubringen.
c) Qualifizierung von Hauptamtlichen in den sozialen Diensten. Hier ist zu unterscheiden zwischen sozialer Grundqualifikation, praktischer Handlungskompetenz und theoretischer Kompetenz. Dazu gehören Theoriekenntnisse, Hintergrundwissen, Überblickswissen, spezielles Fachwissen, Leitungskompetenz, eine reflektierte ethische Grundausrichtung, betriebswirtschaftliche Kompetenz und Marketingkompetenz. Es muss überprüft werden, ob die derzeitige berufliche Qualifizierung mit ihren Abschlüssen den genannten Zielen dient. In jedem Fall ist neben den bisher durchgesetzten Ausbildungsabschlüssen ein Training on the job für nicht- oder niedrigqualifizierte Mitarbeiter im sozialen Bereich notwendig.
d) Qualifizierung von Berufstätigen in freiwilliger sozialer Arbeit im Sinne eines Lernprogramms zur Ergänzung ihrer jeweiligen beruflichen Kompetenzen (z. B. Qualifizierung von Banker- oder Handwerkergruppen in „Seitenwechsel-Projekten“).
3.4 Leistung und Entgeltstrukturen
(62) Entgeltstrukturen und Tarifsysteme haben sich in den sozialen Diensten erst langsam herausgebildet. Mit dem starken Engagement öffentlicher Träger lag es nahe, sich hierbei am öffentlichen Tarifsystem zu orientieren. Dieses ist nicht im erforderlichen Umfang neuen Entwicklungen angepasst worden, auch wenn es in den letzten Jahren wesentliche Fortschritte gegeben hat. Für die sozialen Dienste ergeben sich damit zwei Probleme: einmal zeigen sich die Schwächen des unzureichend reformierten öffentlichen Dienst- und
Tarifsystems auch in den sozialen Diensten. Zum anderen zeigt sich, dass das öffentliche Tarifsystem eigentlich nicht geeignet ist, die spezifischen Gegebenheiten sozialer Dienste zu berücksichtigen. Ein wichtiger Reformschritt wäre deshalb die Schaffung eines eigenen Tarifsystems für soziale Dienste, eine Entscheidung, die von den Tarifparteien zu treffen wäre.
Tarifstrukturen, die nicht sachgerecht sind, führen oft zu Nebeneffekten, die eigentlich nicht beabsichtigt sind. So mag es zwar gute Gründe für die Ausgliederung bestimmter Tätigkeiten im hauswirtschaftlichen und handwerklichen Bereich, das sogenannte Outsourcing, geben. Spezialisierte Anbieter können häufig ein besseres und billigeres Angebot erstellen. Insofern sind solche Ausgliederungen nicht generell abzulehnen. Häufig erfolgen solche Ausgliederungen allerdings nur, um Tarife zu umgehen, die als nicht sachgerecht angesehen werden. In diesem Falle können gravierende Fehlsteuerungen die Folge sein.
Solange ein eigenes Tarifsystem nicht realisiert ist, geht es darum, die Reform des öffentlichen Tarifsystems voranzutreiben. Die Schwächen öffentlicher Entgeltstrukturen wirken sich nämlich auch bei den sozialen Diensten aus. Die folgenden Überlegungen beziehen sich zunächst auf die sozialen Dienste, sie können aber im Prinzip auf den gesamten öffentlichen Sektor übertragen werden.
(63) Die Bindung der Vergütungsstufen des öffentlichen Dienstes an die Ausbildungsabschlüsse erschwert eine leistungsgerechte Bezahlung der sozialen Dienste. Das gilt sowohl im Vergleich zur Privatwirtschaft als auch in Relation zu den konkreten Anforderungen des Arbeitsplatzes.
Ein Nebeneffekt dieser Ausbildungsbindung stellen die Kosteneffekte der Professionalisierungsprozesse dar. Man kann dies insbesondere an den Hochschulabschlüssen deutlich machen. In den letzten vier Jahrzehnten ist der Anteil der Hochschulabsolventen in einem Jahrgang um ein Vielfaches gestiegen. Würde man, orientiert an den Ausbildungsabschlüssen, alle Hochschulabsolventen so wie früher bezahlen, ergäbe sich eine Vervielfachung auf der Kostenseite. Da dieses nicht möglich ist, bleibt ein Teil der Absolventen ohne eine ihrem Abschluss entsprechende berufliche Tätigkeit, was wiederum die Attraktivität eines derartigen Ausbildungsgangs in Frage stellt. Beispiele für derartige Entwicklungen waren in der Sozialpädagogik und bei den Lehrerberufen zu beobachten. Verallgemeinernd kann man sagen, dass es im öffentlichen Bereich nicht gelungen ist, Konsequenzen aus der Expansion der Hochschulausbildung bei den Entgelthöhen durchzusetzen.
Auf Dauer werden die hier liegenden Probleme nur durch eine Lösung der Entgelte von den Ausbildungsabschlüssen überwunden werden können. Eine genaue Beschreibung der Zielvorgaben, eine Evaluation der Kundenzufriedenheit sowie ein leistungsgerechtes Zusatzentgelt bei einem weniger differenzierten und statischen Grundvergütungssystem könnte auch für unausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Anreiz sein, ihren Einsatz zu optimieren. Zugleich liegt darin die Chance, hochspezifizierte und besonders gefragte Dienstleistungen marktgerecht zu vergüten.
(64) Ein weiteres Problem liegt in der Altersabhängigkeit öffentlicher Tarife. Ob es mit dem Alter wirklich zu einem Anstieg der Leistungsfähigkeit kommt, ist keineswegs sicher. In Arbeitsfeldern, die einem schnellen Wandel unterworfen sind, kann Erfahrung Flexibilität kaum aufwiegen. Zudem entspricht die Altersabhängigkeit der Tarife keineswegs der Bedarfssituation. Die höchsten Einkommen werden bei vielen erzielt, wenn die Kinder aus dem Haus sind. In dieser Phase kehren Frauen häufig in den Arbeitsmarkt zurück. Dabei erweist sich die Einkommenshöhe eher als Hindernis für den Einstieg. Erst zögerlich setzt sich der Gedanke der Altersteilzeit durch, für lange Zeit galten Einstiegsteilzeitangebote als die angemessene Lösung. Das entsprechend niedrigere Einkommen fiel damit in eine Phase, wo die Familie gegründet und der Hausstand aufgebaut wurde. Bei Reformen sollten Alterskomponenten in der Entlohnung generell zur Disposition gestellt werden.
(65) Auch soziale Dienste sind auf die Erbringung einer qualitativ hochwertigen Leistung angewiesen. Die Möglichkeiten zu einer leistungsorientierten Entlohnung sind aber im öffentlichen Tarifrecht sehr beschränkt. Am ehesten sind sie mit kostenerhöhenden zusätzlichen Prämien möglich. Sinnvoller wäre eine Neustrukturierung der Entlohnung, wobei, ausgehend von den heutigen Gehältern, eine Aufteilung in eine Grund- und eine Leistungskomponente vorgenommen werden sollte. Die Leistungskomponente sollte einer regelmäßigen Überprüfung unterliegen. Erhöhungen wie Reduzierungen sollten zu den Möglichkeiten gehören. In den Leistungselementen sollten Innovationsbereitschaft, Qualität, Tüchtigkeit und Einsatzbereitschaft honoriert werden. Dazu gehören Zusatzentgelte für Hochqualifizierte und besonders gesuchte Mitarbeiter, die darauf zielen, sie in der Arbeit zu halten oder sie für Humandienste zu gewinnen (Qualifizierungs- und Leistungsstrukturen). Weniger leistungsfähigen Arbeitnehmern kann ein geringeres Leistungsentgelt das Verweilen im Erwerbsleben und den Wiedereinstieg ermöglichen.
(66) Derartige Vorschläge werden ohnehin nur langsam umzusetzen sein. Sie sind aber im Bereich mittlerer und höherer Einkommen realisierbar und sollten in Angriff genommen werden. Schwieriger ist die Situation bei niedrigen Einkommen und insbesondere bei Frauen.
Schon die bisherige Entwicklung hat dazu geführt, dass in den sozialen Diensten absolut und relativ eine erhebliche Ausweitung der Teilzeitarbeit stattgefunden hat. Wahrscheinlich hat auch der Anteil niedriger Einkommen zugenommen, hierüber fehlen hinreichende statistische Unterlagen. Die hier gemachten Vorschläge würden diese Tendenz verstärken.
Damit stellen sich für die weitere Entwicklung unserer Erwerbsgesellschaft schwerwiegende Fragen:
- Kann eine Gesellschaft es zulassen, dass Erwerbseinkommen nicht mehr existenzsichernd sind ?
- Welche Anreize zur Arbeitsaufnahme sind gegeben, wenn die verfügbaren Arbeitsmöglichkeiten zu einem Einkommen führen, das niedriger als die Sozialhilfe ist?
- Welche Anreize zur Ausweitung des persönlichen Arbeitsangebots sind gegeben, wenn eine höhere Arbeitsleistung sich netto nicht bezahlt macht, weil Transferleistungen, insbesondere solche der Sozialhilfe, entfallen?
Diese Fragen sind nicht auf den Bereich der sozialen Dienste beschränkt, sie erfordern an vielen Stellen der Gesellschaft eine Antwort. Mit dem Streit über Sonderregelungen für geringfügig Beschäftigte, über Kombi-Löhne und neue Sozialhilfemodelle nach angelsächsischem Muster haben sie inzwischen auch die politische Diskussion erreicht.
Eine Lösung der hier liegenden Probleme ist nicht ohne Abstriche bei der Durchsetzung wichtiger Grundsätze gesellschaftlichen Zusammenlebens möglich. Zu nennen sind hier insbesondere:
- Eine Wirtschaftsordnung, die Vollbeschäftigung anstrebt, d. h. für jeden arbeitsbereiten Bürger einen Arbeitsplatz bereitstellt.
- Eine Arbeitsmarktordnung, die sicherstellt, dass Erwerbseinkommen existenzsichernd sind.
- Eine Sozialordnung, die jedem Menschen ein Einkommen in der Höhe seines sozial definierten Existenzminimums garantiert, der nicht in der Lage ist, dies aus eigenen Kräften zu erzielen.
In der Realität werden diese Grundsätze nicht uneingeschränkt verwirklicht. In den letzten Jahrzehnten wurde die Vollbeschäftigung nicht erreicht, nichtexistenzsichernde Einkommen haben zugenommen, Armutsphänomene gewinnen an Bedeutung. Gute Gründe sprechen für die These, dass diese drei Grundsätze auch nicht gleichzeitig in vollem Umfang zu realisieren sind, so dass eine sozial akzeptable Kombination des Grades der Realisierung dieser Grundsätze gefunden werden muss.
(67) Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor unannehmbar hoch. Das hat viele Gründe, die an dieser Stelle nicht diskutiert werden sollen. Zu den Gründen zählt sicher, dass Vollzeit-Arbeitsplätze im Bereich nichtexistenzsichernder Einkommen weder erwünscht noch attraktiv sind. Damit entsteht die Frage, ob und wie man die hier liegenden Potentiale zur Verminderung der Arbeitslosigkeit erschließen kann.
(68) In einer sozialen Marktwirtschaft sind bisher existenzsichernde Erwerbseinkommen ein wichtiges Ziel der Einkommenspolitik. Es sind mehrere Entwicklungen, welche die uneingeschränkte Durchsetzung dieses Grundsatzes in Frage stellen. Teilzeitarbeit von Männern und Frauen ist aus arbeitsmarktpolitischen und familienpolitischen Gründen erwünscht. Würde man Teilzeitarbeit nur zulassen, wenn das dann erzielte Einkommen existenzsichernd ist, ergäben sich Lohnsätze, die durch Verkauf des erstellten Produkts in der Regel nicht finanzierbar sind. Insofern wird Maßstab der Existenzsicherung eine Vollerwerbstätigkeit sein müssen. Für zwei teilzeitarbeitende Ehepartner wird dieser Grundsatz modifiziert, die beiden Teilzeiteinkommen des Ehepaars müssen die Existenz desselben sichern. Alleinerziehenden ist mit dieser Modifikation nicht gedient.
Weitgehende Einigkeit besteht inzwischen darüber, dass der Grundsatz des existenzsichernden Einkommens sich nicht auf die Existenzsicherung der Kinder beziehen kann. Hier ist staatliche Familienpolitik gefordert, auch wenn sie dieser Aufgabe nicht immer gerecht wird.
Selbst wenn man derartige Gesichtspunkte bei der Interpretation des Existenzsicherungsgrundsatzes berücksichtigt, wird mit diesem Grundsatz eine Lohnuntergrenze gezogen, welche das Entstehen bestimmter Angebote verhindert. Gerade im Bereich sozialer Dienste gibt es aber Felder, bei denen die Nachfrage nach einer bestimmten Dienstleistung im Wesentlichen durch ihren Preis bestimmt wird. Erinnert sei hier an das Beispiel der häuslichen Pflege alter Menschen, wo es nach den verfügbaren Informationen in erheblichem Umfang illegale Beschäftigung von Frauen aus den EU-Beitrittsländern in Mittel- und Osteuropa geben soll. Schätzungen gehen von bis zu einer Million illegal Beschäftigter aus. Die erzielten Einkommen sind in Deutschland nicht existenzsichernd, allerdings sind sie dies in den jeweiligen Heimatländern. Die neu eingeführte Greencard wird an dieser Tatsache kaum etwas ändern, sondern lediglich illegale, nicht professionell erbrachte häusliche Pflege legalisieren.
(69) Dass es für derartige Tätigkeiten, von Ausnahmefällen abgesehen, keine Nachfrage durch dauerhaft in Deutschland lebende Arbeitnehmer gibt, wird üblicherweise auf einen einfachen Grund zurückgeführt: Die erzielten Einkommen liegen unterhalb der Sozialhilfe, so dass ein Anreiz zur Arbeitsaufnahme nicht vorhanden ist, insbesondere da nur geringe Zusatz-Verdienste nicht angerechnet werden. Empirische Studien zeigen freilich, dass bei mehr als der Hälfte der Sozialhilfebezieher (Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt) die Dauer des Sozialhilfebezugs weniger als ein Jahr beträgt. Insofern liegen die Dinge nicht so einfach.
An dieser Stelle ist die staatliche Garantie der Sicherung des Existenzminimums angesprochen, wenn Erwerbsarbeit nicht möglich ist. In der deutschen Gesellschaft besteht ein weitgehender Konsens, diesen Grundsatz aufrecht zu erhalten. Dies ist in den angelsächsischen Gesellschaften keineswegs selbstverständlich, wie die neueren Entwicklungen in den USA besonders deutlich zeigen. Modifikationen können daher immer nur die Einschätzungen der Möglichkeiten der Erzielung eines Erwerbseinkommens betreffen. Zwar kann auch heute bei Sozialhilfeempfängern ein Zwang zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ausgeübt werden, die praktische Durchsetzung bereitet jedoch in vielen Fällen erhebliche Schwierigkeiten, was sowohl mit den Fähigkeiten der Sozialhilfeempfänger wie mit der Bereitschaft der Wirtschaft entsprechende Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, zu tun hat. Oft ist öffentliche Arbeit der einzige Ausweg, die hierfür in Frage kommenden Kommunen scheuen aber oft die damit verbundenen Kosten. Die Anreizprobleme können gemildert werden, wenn es großzügigere Regelungen für den Übergang von Sozial- und Arbeitslosenhilfe in das Erwerbsleben gäbe.
(70) Zur Lösung der skizzierten Probleme gibt es inzwischen viele Vorschläge. Für die meisten gilt, dass sie sich auf enge Segmente beziehen, nicht aufeinander abgestimmt sind und die Allgemeinheit des Problems verkennen. Im Folgenden sollen einige Grundlinien einer beschäftigungsfördernden, zukunftsweisenden Lösung skizziert werden, ohne ein konkretes Modell im einzelnen vorzustellen.
- Notwendig ist eine allgemeine Lösung für den Niedrigeinkommenssektor.
- Bei der Beurteilung der damit verbundenen Kosten sind die Ersparnisse bei Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu berücksichtigen.
- Eine feste Grenze für Fördermaßnahmen, wie sie z. Zt. in den 325-Euro-Regelungen existiert, birgt die Gefahr, Beschäftigte in bestimmten Einkommenssegmenten und Beschäftigungsverhältnissen einzusperren. Der Markt kann sich nur teilweise entfalten. Stattdessen sind gleitende Übergänge erforderlich.
- Gerade im Bereich niedrigerer Einkommen muss die soziale Sicherheit der Betroffenen gewährleistet sein. Regelungen, die eine Entlastung durch Wegfall der Sozialversicherungspflicht erreichen wollen, sind deshalb nicht akzeptabel.
- Die Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge im Bereich niedriger Einkommen ist ein sinnvoller erster Schritt. Zu klären ist, ob er ausreicht. Abwegig ist das Argument, dass der Staat dann doch lieber die Sozialversicherungsbeiträge generell senken solle, schließlich habe er das Problem ja erst durch die Belastung mit diesen Beiträgen geschaffen. Es geht aber in diesem Zusammenhang nicht darum, dass die soziale Sicherheit zu hoch ist, sondern darum, dass die erzielten Erwerbseinkommen zu niedrig sind. Deswegen ist eine Entlastung nur für Niedrigeinkommen sinnvoll.
- Die Entlastung sollte mit der Höhe des Erwerbseinkommens abnehmen und bei einem festzulegenden Einkommen auslaufen.
- Wenn die Entlastung bei den Sozialversicherungsbeiträgen sich als nicht ausreichend erweist, ist im Niedrigeinkommensbereich eine Kombination von Erwerbs- und Transfereinkommen sinnvoll. Auch hier ist vorzusehen, dass mit steigendem Erwerbseinkommen der Transfereinkommensanteil sinkt und bei einer bestimmten Einkommenshöhe ausläuft. Dieses sollte in nicht diskriminierender Weise erfolgen, d. h. nicht von den üblichen Voraussetzungen der Sozialhilfe abhängig sein. Vorauszusetzen ist allerdings, dass keine weiteren Beschäftigungsverhältnisse bestehen und dass das zu fördernde Arbeitsverhältnis einen Mindestumfang beinhaltet.
- Derartige Entlastungen bei den Sozialversicherungsbeiträgen oder direkte Einkommenstransfers lösen noch nicht die Probleme des Übergangs von der Sozialhilfe in das Erwerbsleben. Die Anrechnungsvorschriften müssen so gestaltet werden, dass nicht nur ein Anreiz besteht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, sondern diese auch quantitativ und qualitativ auszubauen.
Die Realisierung dieser Leitlinien birgt zahlreiche Probleme. Es kann zu Mitnahmeeffekten kommen, ein Missbrauch durch Lohnsenkungen ist nicht auszuschließen. Erhebliche öffentliche Mittel müssen aufgebracht werden, die dann für andere Zwecke nicht zur Verfügung stehen. Ungeeignete Regelungen können das Ausmaß der Bürokratisierung des Arbeitsmarkts vergrößern.
Ganz können diese Gefahren nicht vermieden werden, wenn man eine wirkliche Entlastung des Arbeitsmarkts erreichen will. Das Feld der sozialen Dienste zeigt, dass es genügend Arbeitsmöglichkeiten gibt, die zu erschließen wären.
(71) Allerdings darf man die Integration und Qualifizierung von Sozialhilfeempfängern und Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt nicht als quantitatives Problem der Entlohnung missverstehen. Niedrigeinkommen- und Kombilohn-Modelle allein werden die Probleme dieser Gruppen nicht lösen. Die Integration von Personen, die dem Arbeitsmarkt fern stehen, ist eine besondere Betreuungsaufgabe, die wiederum eine Herausforderung für soziale Dienste darstellt.
(72) Insbesondere alleinerziehende Mütter haben aber nicht nur häufig das Problem zu niedriger Einkommen. Ihre eigene Möglichkeit, erwerbstätig zu sein, wird zudem durch die mangelnde Flexibilität der sozialen Angebote begrenzt - Kindertagesstätten, Tagespflegeangebote und andere Dienstleistungen sind in der Regel noch immer nicht auf erwerbstätige Mütter und Väter eingerichtet, die Beruf und Familienarbeit verbinden wollen oder müssen. Erfahrungen z. B. in Schweden zeigen, dass eine Veränderung dieser familienergänzenden und familienunterstützenden Angebote gerade Frauen Erwerbsarbeit ermöglicht und neue Arbeitsplätze schafft. Dabei sind besonders die sozialen Träger mit ihren Einrichtungen herausgefordert, die überwiegend Frauen beschäftigen und die Bedarfslagen am besten kennen.
(73) Sehr schwierig ist die Frage zu beantworten, ob die Tarife so gestaltet werden können, dass sie der sich ständig ändernden Erlössituation im sozialen Bereich und bei den Humandiensten gerecht werden. Einerseits gilt bei feststehenden öffentlichen Haushalten - und man muss damit rechnen, dass sie gerade im Sozialbereich nicht wesentlich ausgeweitet werden können -, dass der Umfang der möglichen Beschäftigung von der Entgelthöhe abhängt. Je höher das Entgelt des einzelnen Mitarbeiters desto weniger Mitarbeiter können aus einem festen Budget bezahlt werden. Ähnliches gilt für den Sozialmarkt. Die Kosten bestehen hier im Wesentlichen aus Personalkosten, der Preis, der über den Umfang der Nachfrage entscheidet, ist damit von der Entgelthöhe abhängig. Insofern muss die Entgelthöhe diese Rahmenbedingungen berücksichtigen. Andererseits entscheidet die Entgelthöhe über die Attraktivität von Berufen und die Qualität der angebotenen Dienste. Es geht darum, die Kundenorientierung und Dienstleistungsbereitschaft zu stärken, die grundlegende Solidarität der Dienstgemeinschaft mit Leistungsschwächeren zu erhalten und die Mobilisierung sozialer Ressourcen zu erleichtern. Entscheidend ist, dass die Tarifstrukturen vereinfacht, transparent, leistungsorientiert und wettbewerbsfähig gestaltet werden.
3.5 Zur Finanzierung sozialer Dienste
(74) Es ist eher unwahrscheinlich, dass es möglich sein wird, die notwendige Ausweitung sozialer Dienste aus zusätzlichen öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Sieht man von konjunkturellen Schwankungen und den Folgen der deutschen Einheit ab, ist der Anteil der Sozialausgaben am Sozialprodukt seit Mitte der siebziger Jahre mehr oder weniger konstant geblieben. Es ist wenig wahrscheinlich, dass angesichts der Herausforderungen der Zukunft eine ins Gewicht fallende Erhöhung dieses Anteils möglich sein wird. Eine Anspannung der finanziellen Situation im Bereich des öffentlichen Sozialhaushalts wird sich ohnehin durch die demographische Entwicklung und die absehbare Situation im Gesundheitssektor ergeben. Eine Lösung der Finanzierungsprobleme erfordert daher neben einer Fortsetzung von Kostensenkungsmaßnahmen die Erschließung privater Finanzquellen.
(75) Die Bereitschaft, soziale Dienste privat zu bezahlen, ist relativ gering, solange eine öffentliche Finanzierung möglich ist. Viele Menschen nehmen eher Wartezeiten in Kauf als auf einen Anspruch zu verzichten. So wie im Gesundheitssektor inzwischen klar ist, dass eine Überprüfung des Leistungskatalogs, nicht jedoch eine Reduzierung auf eine Grundversorgung, notwendig ist, so gilt für das Angebot sozialer Dienste insgesamt, dass geklärt werden muss, welche sozialen Dienste öffentlich finanziert, von den Nutzern mitfinanziert oder rein privat finanziert werden sollen.
Oft sind auch Zwischenlösungen denkbar. Will man verhindern, dass bestimmte soziale Dienste von Beziehern niedriger Einkommen nicht in Anspruch genommen werden können, gibt es die Möglichkeit, Beiträge zu staffeln, wie zurzeit bei den Tageseinrichtungen für Kinder. Will man generell auf die öffentliche Finanzierung dieser Dienste verzichten, sind Anrechtsscheine für bestimmte Leistungen für besondere Personengruppen denkbar, wie es zurzeit bei der Arbeitsvermittlung geschieht, statt die Anbieter zu subventionieren. Auf diese Weise kann die Verhandlungsmacht der Betroffenen gestärkt werden. Ihr Interesse an guten Leistungen könnte eine wirksame, wettbewerbsnahe Kontrolle der Anbieter ermöglichen.
Andererseits gibt es in manchen Bereichen schon ein hohes privates Engagement. Das gilt zum Beispiel für solche Gesundheitsleistungen, die von den Krankenkassen nicht finanziert werden. Zu erwähnen sind auch Bildungsangebote und kulturelle Aktivitäten, Angebote im sogenannten Fitness- und Wellness-Bereich. Viele dieser Angebote kann man sowohl dem Freizeitbereich wie dem Aufgabenspektrum der sozialen Dienste zuordnen. In dem Ausmaß, in dem eine private Finanzierung vorgesehen ist, entscheidet dann freilich der Preis über die Inanspruchnahme. Dies zwingt einerseits zur Kostendisziplin, erfordert andererseits die Bereitstellung von Transfers für die Bezieher niedriger Einkommen.
(76) Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger in der Zivilgesellschaft sollte sich auch in der Mobilisierung von Spenden und Stiftungen zum Ausbau sozialer Dienste zeigen. Wie weit wir auf dem Wege zur Zivilgesellschaft gekommen sind, wird hieran gemessen werden können.
(77) Auch bei privatem Engagement kommt es auf Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit an. Dies kann insbesondere durch die Mobilisierung von Kapital erreicht werden: In einer Zeit, in der angesichts wachsender Aufgaben und Bedarfe vermehrte finanzielle Mittel nicht über öffentliche Haushalte oder erhöhte Leistungen der Sozialversicherung mobilisiert werden können, kommt der Erschließung privaten Kapitals eine besondere Bedeutung zu. Wichtig ist insbesondere die Stärkung des Stiftungswesens, z .B. die „Stiftung für Menschlichkeit“ für begleitende Arbeit in der Altenhilfe und den stationären Einrichtungen. Dem entspricht die Initiative des Gesetzgebers zur Reform des Stiftungsrechts. Die 6.000 traditionsreichen gemeinnützigen Stiftungen in Deutschland sollten nach Wegen suchen, ihre Zielsetzungen den veränderten Bedürfnissen anzupassen. Die wachsenden Mittel aus Vermächtnissen und Erbschaften sollten in Stiftungen eingebracht werden.
(78) Sinnvoll ist aber auch der Ausbau des Spendenwesens, spendenorientierter Aktionen und Lotterien, z. B. „Aktion Mensch“. Die Förderung von Spendenprojekten der Mitarbeiterschaft einer Reihe von Firmen zeugt von einer sinnvollen Verknüpfung von Erwerbsarbeit und sozialem Engagement.
(79) Schließlich sind die Möglichkeiten des Sponsoring nicht ausgeschöpft. Das Firmenimage deutscher Unternehmen sollte sich mit Sponsoring auch von sozialen Aktivitäten verbinden. Die Tradition des Mäzenatentums sollte auch in Deutschland wiederbelebt werden.
3.6 Schwerpunkte sozialer Dienste
(80) Diese Studie will nicht alle Felder der sozialen Dienste ansprechen. Sie hält es auch nicht für sinnvoll, eine Prioritätsskala zu erstellen. Sie will nur zwei Beispiele besonderer Dringlichkeiten benennen.
a) Um die Integration von Menschen mit Behinderungen in ihrer Lebenswelt zu fördern, müssen wohnort- und lebensweltnahe soziale Dienste und Angebote aufgebaut werden. Dazu zählen u. a.: der Ausbau von persönlichen Assistenzdiensten in selbstbestimmten Organisationsformen, die Entwicklung eines Netzwerkes von Stützpunkten in Stadtteilen als Anlaufstellen und Vermittlungsbüros für alle erforderlichen Assistenzdienste, der Ausbau von Selbstbestimmt-leben-Beratungsstellen zur Entwicklung individueller Hilfeleistungs- und Zukunftspläne und die Förderung von Gemeinwesenarbeit zur Entwicklung der Stadtteilkultur;
b) Um Unterbrechungen im Erwerbsleben bei Müttern und Vätern gering zu halten, sind flexible und regional vernetzte Kinderbetreuungsangebote insbesondere für Unter-drei-Jährige und Schulkinder notwendig. Modelle wie „die verlässliche Grundschule“ sowie die Verbindung von Schule und Freizeit sind auszubauen bzw. zu erhalten. Es bedarf in diesem Zusammenhang einer systematischen Verzahnung von Arbeitszeiten und Kinderbetreuungszeiten (Schichtdienste und Rund-um-die-Uhr-Dienste).