Soziale Dienste als Chance
4. Die Verantwortung von Diakonie und Kirche
(81) Die Kirche steht vor der Aufgabe, den religiösen Begründungszusammenhang sozialer Arbeit und deren gesellschaftlichen Kontext neu zu beschreiben. Dabei wird sie daran erinnern, dass in der Zuwendung zu Kranken und Sterbenden, in der Integration Benachteiligter und Rechtloser, in der Anwaltschaft für Arme, Flüchtlinge und Migranten, im Eintreten für die Würde des menschlichen Lebens in seiner Verletzlichkeit, Endlichkeit und Entwicklungsfähigkeit die verheißene neue Welt, das Reich Gottes zeichenhaft sichtbar wird, wie es in Mt 11, 5 zum Ausdruck kommt: „ Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt“. Dabei steht dieses Jesuswort, das die Verheißungen der hebräischen Bibel bündelt, einerseits wie ein Wegweiser für die Aufgabenfelder der Diakonie, andererseits aber wird damit gerade kein Exklusivanspruch kirchlichen Handelns formuliert. Jesus selbst rechnet vielmehr damit, dass die Werke der Barmherzigkeit mitten in der Welt und durchaus ohne religiösen Anspruch oder religiöse Erwartung geschehen. Dass im diakonischen Handeln eine Begegnung mit dem lebendigen Gott möglich wird, erleben die Handelnden im Gleichnis Jesu vom großen Weltgericht als überwältigende Überraschung, die freilich deutlich macht: der soziale Dienst an unseren Mitmenschen hat eine religiöse Tiefe, in der wir unser Leben gewinnen und auch verfehlen können (Mt 25,31ff.).
(82) Kirche und Diakonie wollen Menschen ermutigen, in jedem Menschen das Ebenbild Gottes zu erkennen, menschliches Leben zu achten und für seine Würde einzutreten. Das geschieht durch Verkündigung und Stellungnahmen ebenso wie durch die Einladung zum Engagement, durch das Angebot von Begegnungen im diakonischen Dienst, durch Aus- und Fortbildungsprogramme wie durch Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus machen die Kirchen als Trägerinnen sozialer Dienste deutlich, dass das christliche Menschenbild seine Wurzel im Gottesbild Jesu Christi hat. Bereits in der Geschichte Israels wird deutlich, dass und wie Gott sich mit den Leiden seines Volkes identifiziert: In all dem Leid der Israeliten geschah ihm (Gott) Leid. (Jes 63, 9). Das Neue Testament beschreibt Jesus Christus als den sich einmischenden, mit leidenden Gott, der „mitfühlt mit unserer Schwäche“ (Hebr 4,15). Auf dieser Spur geht es der Kirche in ihrer Diakonie um die Nachfolge Christi. In der Anteilnahme am Leiden anderer, in Pflege und Anwaltschaft versuchen Menschen eine Antwort zu geben auf menschliche Trost- und Hilfebedürftigkeit, auf die Sehnsucht nach Heil und Erlösung. In der Begegnung zwischen den verschiedenen Generationen und gesellschaftlichen Gruppen, mit Menschen in anderen Lebenssituationen kann der Respekt vor dem Anderssein anderer Menschen wachsen. Auch die Achtung vor dem Lebensrecht und dem Lebensweg anderer Menschen und die Bejahung von Verschiedenheit, die oft auch als Bedrohung wahrgenommen wird, hat eine zutiefst religiöse Dimension. Sie entspricht dem Bild des dreieinigen Gottes als einer lebendigen Gemeinschaft aufeinander bezogenen Andersseins und wechselseitiger Liebe, in der alle Gegensätze in einer schöpferischen, lebensspendenden Spannung aufgehen. Deswegen bleibt es die Aufgabe der Kirche, in Gemeinde und Öffentlichkeit bewusst zu machen, dass in der Anwaltschaft für andere, im Eintreten für Vielfalt, in der Förderung sozialen Lernens und sozialen Engagements wie in den sozialen Dienstleistungen die jüdisch- christliche Wurzel unserer Kultur sichtbar wird.
(83) In diesem Sinne muss die Diakonie der Kirche ihr spezifisches Profil wiedergewinnen. Darum tritt sie gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Kräften für die Gestaltungsmöglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements und privater Finanzierung ein. Dabei kann sie an die Selbstorganisation und unternehmerischen Impulse der Diakonie ihrer neueren Geschichte anknüpfen. Sie muss gegenüber der heute so dominanten Sozialkassenfinanzierung neue Spielräume und Eigengestaltungsmöglichkeiten gewinnen (Erbschaftsmarketing; Spendenmarketing; Erhaltung von Gemeinnützigkeit). Im Blick auf kommunale Aufgaben muss sie eigene Kräfte bündeln und eine kooperative Rolle bei der Gestaltung des Sozialraums übernehmen, z. B. in Jugendhilfeausschüssen und Sozialausschüssen. Die Kirche kann durch ihre Rolle als Volkskirche zur Überwindung sozialer Segmentierungen beitragen und unterschiedliche Angebotsstrukturen im Gemeinwesen vernetzen. Sie kann Kultur- und Sozialarbeit verknüpfen. Sie kann in ihren Gemeinden an Traditionen von Nachbarschaftshilfe, Vereinsarbeit und Zusammenarbeit der Generationen anknüpfen und einzelne in Krisensituationen begleiten. Sie kann verhindern, dass soziale Dienste nur deshalb unterbleiben, weil freiwillige Tätigkeiten und Hilfebedarf nicht zueinander finden. Gerade auf diesem Feld liegen die größten Chancen für Kirchengemeinden, die in einem überschaubaren Nahbereich verankert sind und eng an den Bedürfnissen der Menschen orientiert soziale Dienste organisieren können. Dabei ist es notwendig, die gemeinwesenorientierte Arbeit in der Parochie und die spezifische Fachkompetenz der diakonischen Träger zu vernetzen.
(84) Kirche und Diakonie müssen mehr als bisher dafür sorgen, dass die Sprachlosigkeit kirchlicher Träger gegenüber den veränderten Lebensbedingungen der Menschen in einer unübersichtlichen und von Traditionsabbrüchen gekennzeichneten Welt überwunden wird.
Soziale Dienste müssen das spezifisch Christliche dieses Dienstes als Verpflichtung erkennen und an einem eigenständigen Profil des diakonischen Angebotes arbeiten. Christen kommen vom Evangelium her und ihr Dienst ist vom Evangelium bestimmt. Deshalb soll ihr Handeln Zeugnis von der guten Botschaft Christi sein. Viele kirchlich diakonische Einrichtungen und Gruppen arbeiten überzeugend an ihrem besonderen kirchlichen Profil und das bedeutet: sie arbeiten an dem vorhandenen Erscheinungsbild, dem Ansehen und dem guten Ruf ihres Dienstes in der Bevölkerung und sie fördern und pflegen diesen Ruf. Diakonische Einrichtungen arbeiten gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an Motivation und Qualifikation. Dazu zählt eine solide fachliche Ausbildung, die Förderung von persönlichem Engagement, die Förderung der Mitsprache, die Begleitung und Beratung von belasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Entwicklung eines Leitbildes gemeinsam mit den Mitarbeitern, die Fortbildung in Sachen Gesprächsführung, Sterbebegleitung, Begleitung in Krisensituationen u.a.m. Patienten sollen spüren, dass zum Beispiel in einem evangelischen Krankenhaus medizinische, soziale, pflegerische, therapeutische und seelsorgerische Kompetenz vorhanden ist und dass die verschiedenen Professionen interdisziplinär miteinander arbeiten.
(85) Mit einer institutionalisierten Ethikberatung kann nach innen und außen dokumentiert werden, dass Diakonie ethisch qualifiziertere Dienstleistungen erbringt. Es ist ja gerade die Kirche und es sind die kirchlichen Einrichtungen und Dienste, denen man in der Bevölkerung ethische Kompetenz zuspricht. Christliche Dienste und Einrichtungen entwickeln orientiert an Grundüberzeugungen der christlichen Ethik Unternehmenskonzepte, die umreißen, welche Schwerpunkte und besonderen Akzente ihr Dienst oder ihre Einrichtung setzt. So gibt es Schwerpunktsetzungen in evangelischen Häusern bei der Unterschichtenversorgung, der medizinischen Versorgung von Obdachlosen und Flüchtlingen, bei perinataler Versorgung, bei Konfliktschwangerschaften, bei Altenarbeit im Hause, bei der Einbeziehung der Lebensumwelt von Patienten u.a.m. Die Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes muss auch und gerade in einem hoch komplexen Gesundheits- und Sozialsystem für Menschen in Krankheit und Not konkret werden. Genau dies erwarten die „Kunden“ kirchlicher Träger. Dabei ist gerade in diakonischen Einrichtungen eine bewusste Bewohner-, Patienten- und Angehörigenorientierung unverzichtbar. Denn ethische Probleme in Pflege und Medizin entstehen nicht zuletzt aufgrund der Spannung zwischen den psychischen Aspekten der Hilfebeziehung und dem Auftrag der Institution bzw. den professionellen Interessen der verschiedenen Mitarbeitergruppen. Wo institutionelle Interessen und Konflikte verhindern, dass der hilfebedürftige Mensch im Mittelpunkt steht, kann ein institutionalisiertes Beschwerdemanagement rechtzeitig zu den entsprechenden Korrekturen führen.
(86) Kirche und Diakonie sind große und bedeutende Arbeitgeber. Sie können Erfahrungen mit dem notwendigen Wandel im Beschäftigungssystem sozialer Dienste sammeln. Sie sind groß genug, um beispielhaft wichtige Veränderungen im Verhältnis von professioneller und einfacher Arbeit, in der Ausgestaltung der Tarifsysteme, in der Verknüpfung von professionellen und freiwilligen Diensten herbeizuführen. Sie können Verantwortung für die Ausschöpfung zusätzlicher Beschäftigungspotentiale in den sozialen Diensten übernehmen, um damit zugleich ihrer Verantwortung für die Beschäftigungsprobleme der Gesellschaft gerecht zu werden.
(87) Die zunehmende Marktorientierung sozialer Dienstleistungen und der damit verbundene Wettbewerb sozialer Anbieter seit Mitte der 80er Jahre haben die Notwendigkeit kommunaler Steuerung verstärkt. Deswegen ist die Zusammenarbeit mit Kommunen und Unternehmen auszubauen. Auch die Auflösung von Anstaltsstrukturen in der Jugend- und Behindertenhilfe und die damit verbundenen Dezentralisierungsprogramme haben die Kommunalisierung sozialer Dienstleistungen verstärkt. Die wirtschaftliche Situation vieler Kommunen - insbesondere in strukturschwachen Regionen - hat dabei zugleich zur Neudefinition der Bedarfe, zur Regulierung der Angebote und zur Senkung der Standards geführt. Der politisch gewollte Wettbewerb privater und gewerblicher mit freigemeinnützigen Anbietern findet tatsächlich nicht auf einem offenen Markt, sondern unter Bedingungen der Regulierung der Anbieter und der Deckelung der Pflegesätze statt.
(88) Eine Möglichkeit, dem zu begegnen, sind zunehmende Kooperationen und Netzwerke nicht nur von Trägern der Freien Wohlfahrtspflege, sondern auch von Einrichtungsträgern und Investoren, zwischen Wohlfahrtspflege, Wohnungswirtschaft und anderen Dienstleistern. Dabei ist zu beobachten, dass auch und gerade Unternehmen der Wohnungswirtschaft in den „Sozialmarkt“ einsteigen.
(89) Notwendig ist die Zusammenarbeit zwischen Diakonie, Kirche und Gemeinden. Die Delegation sozialer Dienstleistungen an professionelle Einrichtungen der Diakonie seit den 70 er Jahren erschien zunächst als Entlastung für die Kirchengemeinde. In den funktional organisierten Diensten kann nicht nur fachspezifisch, sondern auch ökonomisch und mit professionellem Management gearbeitet werden. Wohlfahrtsmanagement im Gegenüber zu Politik und Kostenträgern kann nicht kleinräumig erfolgen, sondern muss auf die Ebene von Kommunen bzw. Landes- und Bundespolitik bezogen sein. Hier fehlt den Kirchengemeinden in aller Regel Erfahrung, Professionalität und Überblick, die Kirchenkreise andererseits sind häufig nicht deckungsgleich mit kommunalen Grenzen und als Handlungs- und Entscheidungsebene zu schwach.
(90) Die Folgen der zurückgehenden Trägerschaft und der abnehmenden Präsenz von Kirchengemeinden auf den diakonischen Arbeitsfeldern treten erst langsam ins Bewusstsein und zeigen die Notwendigkeit, Strategien zur Vernetzung von Gemeinden, Kirchenkreisen und diakonischen Trägern zu entwickeln. Dabei sind die unterschiedlichen rechtlichen Gegebenheiten (Aufsichts- und Leitungsfragen, Organisationsformen etc.) ebenso wie die unterschiedlichen Finanzierungsformen (Steuerfinanzierung vs. Entgeltsysteme) mit ihren Auswirkungen auf die Handlungsspielräume zu berücksichtigen. Weder lassen sich diakonische Unternehmen bruchlos in Aufsicht und Steuerung der Kirchenkreise einordnen, noch dürfen Gemeinden in ihrer Bürgernähe und Ehrenamtlichkeit funktionalisiert werden.
(91) Es besteht die Gefahr, dass Kirchengemeinden ihre Schwerpunkte neben Verkündigung und Seelsorge in Kultur- und Freizeitarbeit setzen, während tendenziell benachteiligte Gruppen, z. B. Erwerbslose, Pflegebedürftige, Behinderte, Alleinerziehende ihren - kirchlichen - Ort bei diakonischen Trägern und Diensten finden und auch Freiwillige und Selbsthilfegruppen dort Unterstützung suchen. Zugleich macht die Flexibilität diakonischer Unternehmen, die wachsende Zahl von Ausgliederungen und neuen Kooperationen mit dezentralen Angeboten eine „Verortung“ in den Kirchengemeinden notwendig. Eine professionelle und dabei gemeinwesenorientierte, aktivierende soziale Arbeit braucht die Kooperation von Kirche und Diakonie, die Verbindung von Leistungsträgern und Hilfesuchenden, von individualisierten Dienstleistungen und einer tragenden Gemeinschaft. Hier können Gemeinden und diakonische Unternehmen neu voneinander profitieren.