Gute Schule aus evangelischer Sicht
Impulse für das Leben, Lehren und Lernen in der Schule, EKD-Text 127, Hrg. EKD, April 2016, ISBN: 978-3-87843-043-8
2. Die Schule ist ein Lebensraum
Subjektorientierte Bildung wäre verkürzt verstanden, wenn sie sich nur an Entwicklungsaufgaben und gesellschaftlich postulierten Bedürfnissen von Heranwachsenden orientierte. Die Schule ist immer auch ein vielfältiger, spannender und aktiver Lebensraum. Sie lädt aus der Erfahrung eines gestaltbaren sozialen und freudvollen Miteinanders ein, sich auf "unter schiedliche Weltzugänge" einzulassen und gemeinsame Wege zu gehen.
"Bildung und Erziehung haben in christlicher Sicht nicht nur jene Fähigkeiten zu wecken und zu stärken, die gerechten, sondern die zugleich auch fürsorglichen Lebensverhältnissen dienen: einer Kultur des Mitgefühls, der Barmherzigkeit und der Hilfsbereitschaft." [3]
Personen prägen das schulische Leben
Der Lebensraum Schule lebt von Personen, die sich auf Schülerinnen und Schüler einlassen, sie begleiten, stützen und fördern, ihnen aber auch als Widerlager - als Begleitung und Gegenüber - dienen. In erster Linie sind es Lehrerinnen und Lehrer, die in ihrer Professionalität und Persönlichkeit den Lebensraum Schule prägen. Sie schaffen es mittels ihrer didaktischen und fachlichen Kompetenz, Themen bearbeitbar zu machen, neue Erkenntnis räume zu eröffnen, individuelle Lernvoraussetzungen zu diagnostizieren, durch anspruchsvolle Aufgaben herauszufordern und klares und verständliches Feedback zu geben. Sie transportieren Visionen gelingenden Zusammenlebens und setzen sich für dieses ein. Sie eröffnen reflexiv Zukunftsperspektiven und hören auf die Zukunftsentwürfe der Heranwachsenden. Lehrerinnen und Lehrer kooperieren miteinander und unterstützen sich gegenseitig.
Auch außerunterrichtlich tätige Personen tragen zum Lebensraum Schule bei. Schulsekretariate, Hausdienste und anderes Servicepersonal versehen in Schulen nicht nur einen technischen Dienst, sondern sind häufig Ansprechpartner für viele Fragen und Probleme von Schülerinnen und Schülern; sie steuern Prozesse und Konflikte im Schulalltag lösungsorientiert. Mit arbeitende aus sozialpädagogischen Diensten und der Schulpsychologie tragen zu den erzieherischen Aufgaben von Schule bei. Die Schulseelsorge unterstützt Kinder und Jugendliche nicht nur in existenziellen Fragen.
In besonderer Form beteiligen sich Eltern an den Aufgaben der Schule wie auch Großeltern und Ehrenamtliche. Als soziale Institution werden in ihr Repräsentanten der Gesellschaft über Kooperationen erlebbar, wie beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit Einrichtungen, Kommunen, Parlamenten, Betrieben, Kirchengemeinden, anderen nicht christlichen Religionsgemeinschaften oder Nichtregierungsorganisationen. Expertinnen und Experten bereichern das Schulleben oder den Unterricht durch ihre Fachkenntnis, ihre Authentizität und Persönlichkeit. Die Gelegenheit, besonderen Personen zu begegnen, eine Dichterin, einen Zeitzeugen oder eine Unternehmerin kennenzulernen, eröffnet nicht alltägliche Erfahrungen. Über die Beteiligung von Personen aus vielfältigen Bereichen des Lebens wird die Schule so in die Zivilgesellschaft eingebunden.
Die Schule ist Lebensraum durch einladende Räume
Die Schule wird zum Lebensraum durch eine einladende Architektur und funktionsgerechte, ergonomische Arbeitsplätze. Sie bedarf eines kind- und jugendgerechten Raum- und Gestaltungskonzeptes, das gemeinsames Arbeiten und individuelle Konzentration gleichermaßen unterstützt. Sie ist anregend gestaltet und macht damit das, was sie anbieten kann, sichtbar. In der Gestaltung von Wänden, in Ausstellungsflächen, Materialkisten, Leseecken, Computerstationen, Bibliotheken und naturwissenschaftlichen Sammlungen sollte Lust auf Lernen wahrnehmbar werden. Einladende Sportstätten machen Lust auf Bewegung und schaffen Raum für körperlichen Ausdruck. Werkstätten laden zum eigenen Tun, zum Basteln, Kleben, Hand arbeiten und Werken ein; Musik- und Kunsträume eröffnen die Möglichkeit zum eigenen Ausdruck sowie den Umgang mit Kunst; Räume der Stille regen zur Meditation, zur Andacht und zum Innehalten an. Arbeitsräume helfen bei der Erprobung selbst stän digen Lernens.
Nicht umsonst wird in der pädagogischen Tradition vom "Raum als Lehrer" gesprochen. Der Schulhof trägt zur Rhythmisierung des Lernens bei, bietet Erholung zwischen den Lernphasen und ist ansprechend und altersgerecht gestaltet. Ein Schulgarten erschließt Naturerfahrungen, die viele Heranwachsende zu Hause nicht machen können. In einer flexiblen Aula können Klassen- und Schulkonferenzen durchgeführt, Theateraufführungen, Schulkonzerte, Discoabende und Andachten gestaltet werden. Die Schule hält aber auch für Lehrerinnen und Lehrer einladende Räume bereit, nicht nur für die Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern, sondern auch im Hinblick auf den Austausch untereinander, die eigene Arbeit, das Gespräch mit Eltern sowie die Gestaltung von Pausen und Ruhephasen.
Im Schulablauf wird Zeit gestaltet Die Schule gliedert Zeit, nicht nur über den täglichen Unterrichtsablauf mit unter schiedlichen Fächern, Stunden, Aufgaben, Arbeitsweisen, Spannung und Entspannung, Beschleunigung und Verlangsamung, Beteiligung und Distanzierung. Sie strukturiert das Jahr auch durch Feiern und Feste, die häufig religiös durch Schulgottesdienste oder interreligiöse Feiern begleitet werden oder selbst religiös veranlasst sind. Ostern und Weihnachten verdeutlichen die religiöse Prägung des Jahreslaufs.
Stundenpläne ord nen den wöchentlichen Alltag, in dem Anstrengung und Entspannung, Konzentration und Muße ihren Platz haben. Ein gestalteter Tages beginn, Pausen und der Abschluss des Tages geben dem einzelnen Tag eine Struktur. Der Lebensraum Schule bietet verlässliche Zeiteinheiten, die den ganzen Tag, die ganze Woche und das ganze Jahr, ja sogar die ganze Schulzeit im Blick haben und dennoch hinreichend offen sind für das, was sich in der Zeit ereignet. In dem Verhältnis zwischen einem genauen Ablauf von Tagen, Wochen und Jahren ("chronos"), einer wieder kehrenden Gestaltung unterschiedlicher Elemente ("rhythmos") durch Feste und Feiern und sich in der Zeit ereignenden singulären Momenten spezifischer Bedeutung und besonderer Bildungserlebnisse ("kairos") erschließt sich der Lebensraum Schule. In der Spannung aller drei Zeiterlebnisse zueinander wird Schul zeit zu einer Lebenszeit besonderer Intensität und Güte.
Die Schule gliedert den Lebenslauf Die Schule als Lebensraum steht nicht für sich, sondern knüpft an Bildungserfahrungen aus der Zeit vor der Schule in Familien und Kindertagesstätten an. Die Einschulung und die Entlassung in die berufliche Ausbildung, eine berufliche Tätigkeit oder das Weiter lernen an anderen Bildungsinstitutionen wie Schulen, Hochschulen und Universitäten stellen markante Lebenseinschnitte dar. Diese Wechsel ermöglichen die Gestaltung von Biografie, wenn sie pädagogisch begleitet werden, wenn Eltern und Heranwachsende beraten werden und die Institution selbst sich der Übergänge bewusst ist. Anfänge, Zäsuren und Enden - sei es des Schuljahrs, sei es der Schulzeit selbst oder beim Übergang zwischen Schulen - werden häufig mit Schulgottesdiensten oder interreligiösen Feiern be gangen. Dort, wo es gewünscht ist, begleitet Schulseelsorge biografische Übergänge und hilft z. B. im Umgang mit Krankheit, Tod und Trauer auch einschneidende Grenz- und Krisenerfahrungen der Schulgemeinschaft zu bewältigen.
In der Schule wird Gemeinschaft erlebbar
In der Schule als Lebensraum wird Gemeinschaft erfahren. Heranwachsende finden Freundinnen und Freunde in der Schule. Gemeinsame Aktivitäten und Aktionen ermutigen, Verantwortung füreinander und für die Umgebung der Schule zu übernehmen. Gemeinschaft wird erfahr bar, wenn Lernen als eigen- verantwortlicher Prozess organisiert wird, in dem Mitschülerinnen und Mitschüler jeweils zu unterstützenden Experten werden. Gemeinschaft wird gelebt, wenn gemeinsam an anspruchsvollen Aufgaben gearbeitet wird. In Aktionen für die Schule, deren Umgebung oder gar im weiteren Umfeld, etwa im Hinblick auf Umweltschutz, die Eine Welt oder die weltweite Ökumene, wird Verantwortung erlebbar. Gemeinschaft wird auch dann spürbar, wenn die Schule ein Raum ist, in dem Gerechtigkeit ein leitendes Prinzip ist und Heranwachsende als Person Wertschätzung und Respekt erfahren. Dies dient gleicher maßen jenen, die aus einer Perspektive des Überflusses lernen müssen, den Wert eigener Leistung zu erfahren, wie jenen, die aus einer Situation der Benachteiligung Kompetenzen und Selbstwertgefühl aufbauen lernen.