Gute Schule aus evangelischer Sicht
Impulse für das Leben, Lehren und Lernen in der Schule, EKD-Text 127, Hrg. EKD, April 2016, ISBN: 978-3-87843-043-8
Kontext und Anliegen
Der Anlass: die gegenwärtige Situation der Schule
Die Schule steht gegenwärtig im Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit: An vielen Orten in Deutschland wird über Probleme der Schule gesprochen. Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte machen sich intensiv Gedanken über notwendige Verbesserungen. Internationale Vergleiche zeigen nach wie vor, dass das schulische Lernen in Deutschland zu wenig nachhaltig ist.
"Weder Bollwerk noch Mauern sind beständigere Schutzwehren der Städte als Bürger mit Bildung, Besonnenheit, Klugheit und anderen Tugenden geschmückt." [1]
Ein beträchtlicher Anteil an Schülerinnen und Schülern verlässt die Schule mit einer unzureichenden Grundbildung sowie schlechten Chancen für das Berufsleben und die gesellschaftliche Teil habe. Gleichzeitig hat sich seit der ersten PISA-Untersuchung 2001 aber auch vieles verbessert.
"Das gegenwärtige Bildungswesen entspricht noch immer nicht dem Verständnis einer zeitgemäßen Bildung in der Wissensgesellschaft." [2]
Die Schule ist zudem mit vielen praktischen Herausforderungen konfrontiert, so mit dem Umbau zur Ganztagsschule, der Verwirklichung von Inklusion, der Bewältigung des demografischen Wandels, der Integration von Flüchtlingen und ständig neuen Diskussionen um die Schulstruktur. Die 16 deutschen Bundesländer verfolgen jeweils eigene Strategien zur Entwicklung ihrer Schulen, die sich teilweise im Rhythmus der Wahlen wieder verändern. Die Mobilität zwischen den Ländern ist aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen beeinträchtigt; dies belastet und benachteiligt betroffene Jugendliche und deren Familien. Welche Reformen an welcher Stelle greifen und was sie bewirken, ist angesichts der Vielfalt der Entwicklungen kaum noch überschaubar und schon gar nicht überprüfbar.
Die Vorstellungen darüber, was eine gute Schule sein könnte, variieren und divergieren zwischen den verschiedenen Akteuren - innerhalb der Schulen, bei den durch die Schule Betroffenen wie auch zwischen denen in bildungspolitischer Verantwortung - beträchtlich. Diese Divergenz trägt mit dazu bei, dass manche Schulen von den Ansprüchen einer guten Schule weit entfernt sind. Dennoch: Es gibt in Deutschland auch viele gute, ja hervor ragende Schulen. Das, was man an ihnen ablesen kann, sollte auch für andere Schulen Ermutigung und Wegweiser auf dem eigenen Weg zu einer guten Schule sein.
Das Ziel: Impulse für die Entwicklung der Schule
In dieser Situation möchte die evangelische Kirche zur Weiterentwicklung der Schule beitragen. Diese ist dringend notwendig und kann dann gelingen, wenn alle Mit wirkenden klare und grundlegende Leitlinien einer guten Schule verfolgen. Zentrale Orientierungen für das, was eine gute Schule ausmacht, sollten im bildungspolitischen Tagesgeschäft wie im schulischen Alltag leitend sein. Der vorliegende Text setzt Impulse für vielfältige und regional sehr unterschiedliche Reformbestrebungen im Schulwesen. Selbstverständlich wird dabei von einem Trägerpluralismus ausgegangen: Es werden staatliche Schulen gleichermaßen wie solche in evangelischer Trägerschaft bzw. anderer Träger angesprochen. Die Impulse sollen helfen, die Entwicklung des Schulsystems zu justieren und damit Anregungen für bildungspolitisch Verantwortliche zu bieten; sie können aber genauso dazu bei tragen, die Entwicklung einer einzelnen Schule voranzubringen, Lehrkräfte zu einem Gespräch darüber anzuregen, was eine gute Schule ausmacht, und Eltern zu motivieren, sich an der Entwicklung der Schule ihres Kindes zu beteiligen.
Die Basis: ein evangelisches Verständnis von Bildung - der Mensch im Mittelpunkt, Bildungsgerechtigkeit, gegenseitige Anerkennung und eine am Lebenslauf orientierte Sicht auf Bildung
Die nachfolgenden Überlegungen zur Weiterentwicklung der Schule basieren auf einem evangelischen Verständnis von Bildung und Schule. Die Reformation hat wichtige Grund lagen für das staatliche Schulwesen gelegt.
"Bildung meint den Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertebewusstsein und Handeln im Horizont sinn stiftender Lebensdeutungen." [2]
Seit dieser Zeit begleiten und gestalten evangelische Christinnen und Christen die staatliche Schule mit. Dabei wurde ein differenziertes Bildungsverständnis wirksam, das jeweils zeitbedingt Konkretisierungen erfährt und jeweils neu auf die Situation der Schule zu beziehen ist. Dieses evangelische Bildungsverständnis wurde zuletzt umfassend in der Orientierungshilfe "Kirche und Bildung" (EKD 2009) entfaltet. Es zeichnet sich durch folgende Aspekte aus:
- Ein subjektorientierter Zugang: Bildung geschieht nach evangelischem Verständnis um jedes einzelnen Menschen willen und begründet sich durch die Bedürfnisse des lernenden Subjekts nach Bildung sowie durch die Gottebenbildlichkeit. In der Reformationszeit wurde Bildung eingefordert, damit jeder Christ die Bibel selbst lesen und das Evangelium verstehen konnte. Für ein gelingendes Leben zielt Bildung darauf, je den Einzelnen als "ganzen Menschen" zu fördern und ihn bei seiner Entfaltung zu unterstützen. Dieser Gedanke wurde für die heutige Zeit in der Bildungsdenkschrift "Maße des Menschlichen" (EKD 2003) dargelegt; darin wendet sich die evangelische Kirche ausdrücklich dagegen, dass Bildung einer "ziel- und zweckgerichteten Optimierung eines flexiblen und mobilen Lebensmusters für die Menschen" dienen soll. Stattdessen wurde in dieser Denkschrift ein am Individuum orientiertes Zeit- und Nach haltigkeitsverständnis von Bildung herausgearbeitet, das die individuelle Entwicklung der Lernenden in den Mittelpunkt stellt.
"Erwachsene müssen genauso wie Kinder und Jugendliche als Subjekte darauf angesprochen bleiben, dass sie sich selbst bestimmen können und dürfen." [2]
- Bildung für alle und Bildungsgerechtigkeit: Bildung muss jedem zuteil werden, unabhängig von seiner sozialen oder ethnischen Herkunft. Aus dem Glauben an Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit resultiert das engagierte Eintreten für Befähigungs- und Bildungsgerechtigkeit sowie Teilhabegerechtigkeit für jede und jeden. Deshalb hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in ihrer Kundgebung im Jahr 2010 unter dem Motto "Niemand darf verloren gehen!" für mehr Bildungs- und Befähigungsgerechtigkeit plädiert und zahlreiche sich daraus ergebende Konsequenzen für den Bildungsbereich gefordert. Daraus leitet sich auch das Eintreten für eine durchgängig hohe Bildungsqualität ab, denn diese muss für jeden Menschen und nicht nur für einen Teil der Gesellschaft zur Verfügung stehen. Bildung steht damit immer in globaler, sozialer und generationenübergreifen der Verantwortung.
"Alles menschliche Bemühen um Gerechtigkeit gründet sich in der Gerechtigkeit, die Gott schenkt. Gott gibt niemanden verloren, er geht den Menschen nach, hilft ihnen auf, lädt sie in die Nachfolge ein (Lk 10, 25 ff.; Lk 15,1 ff.; Lk 15,11 ff.). In dieser Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes wurzelt der Auftrag, sich in besonderer Weise den Armen und Schwachen, den Benachteiligten und den Gescheiterten zuzuwenden [...]." [2]
- Die Anerkennung der Person, unabhängig von ihrer Leistung: Jeder Mensch ist von Gott angenommen und wird allein aus Gnade gerechtfertigt. Die Unterscheidung zwischen der Anerkennung als Person und ihrem Werk bzw. ihrer Leistung führt zu einer Pädagogik der Anerkennung, der Ermöglichung von Umkehr und Neuanfang, der Fehlertoleranz und des Respekts.
"Menschen dürfen weder auf ihre Leistungsfähigkeit reduziert noch an ihrer Leistungsfähigkeit gehindert werden." [2]
- Ein lebensweltliches, umfassendes Bildungsverständnis: Aus evangelischer Sicht ist die Schule ein unersetzbar wichtiger, aber nicht der einzige Ort der Bildung. Vielmehr ist die Schule im Verbund mit der Familie, der Gemeinde, der Kinder- und Jugend arbeit, den Kindertagesstätten und anderen Bildungsinstitutionen zu sehen und in ihren Bildungsbemühungen auf diese verwiesen. Dieses umfassende lebensförderliche Bildungsverständnis ist ebenfalls in den letzten Jahren mehrfach entfaltet worden, so z. B. in der Handreichung "Kirche und Jugend" (EKD 2010).
Die Zielgruppe: Verantwortliche und Engagierte im Feld der Schule
Die vorliegenden Impulse wenden sich an all jene, die im Kontext der Schule Verantwortung tragen. Dies sind zum einen die Akteure, die in der Schule arbeiten und durch ihre Arbeit der Schule tagtäglich ein wahrnehmbares Gesicht geben. Zum anderen sind es diejenigen, die in Verwaltungen und Parlamenten mit der Gestaltung von Schule befasst sind. Sie alle setzen sich mit der Wirklichkeit der Schule auseinander und arbeiten täglich an deren Qualität. Die Impulse wenden sich schließlich in besonderer Weise an all jene, die in der evangelischen Kirche Verantwortung für die Schule übernommen haben, sei es im öffentlichen Engagement, sei es für Schulen in evangelischer Trägerschaft.
"Bildung gehört zum Verkündigungsauftrag der Kirche. […] Dabei verbindet der konstitutive Bezug auf das Evangelium als Zentrum des christlichen Glaubens die verschiedenen Handlungsfelder evangelischer Bildungsarbeit, so z. B. die Konfirmandenarbeit, die evangelische Kinder- und Jugendarbeit ebenso wie die Arbeit in den evangelischen Kindertageseinrichtungen, den evangelischen Familienbildungsstätten, der evangelischen Kinder- und Jugendhilfe, den evangelischen Schulen oder im evangelischen Religionsunterricht." [2]
Der Impuls: Visionen für die Entwicklung von Schule
Im Folgenden werden zehn zentrale Botschaften zur Schule formuliert. Sie transportieren keine auf die Realität begrenzte Beschreibung, sondern enthalten die Aufforderung, die Schule weiter auf das Ziel einer guten Schule hin zu entwickeln. Sie sollen als realistische (und vielerorts bereits realisierte) Vorwegnahme einer wünschenswerten pädagogischen und bildungspolitischen Zukunft verstanden werden. Auch wenn die darin enthaltenen Visionen noch nicht Realität sind, sollen sie als Orientierung dienen, um das Projekt einer guten Schule voran zutreiben. Eine gute Schule wird sich daran messen lassen, inwiefern die beschriebenen Aspekte sichtbar und lebendig werden. Von daher lassen sich die nachfolgenden Ausführungen gleichzeitig als Entwurf einer guten Schule, als Impuls für deren Entwicklung und als Prüfstein für die alltägliche Praxis lesen.