Gute Schule aus evangelischer Sicht
Impulse für das Leben, Lehren und Lernen in der Schule, EKD-Text 127, Hrg. EKD, April 2016, ISBN: 978-3-87843-043-8
4. Die Schule zielt auf Entwicklung
Die Schule ist ein pädagogisch gestalteter Entwicklungsraum
Die Schule zeigt je nach Phase des Lebenslaufs ein unterschiedliches Profil und fordert zu entsprechenden persönlichen Entwicklungen heraus. Grundschulen, weiterführende Schulen und berufliche Schulen setzen an verschiedenen Stellen des Lebenslaufs an und verbinden verschiedene lebensgeschichtliche Phasen miteinander. Übergänge zwischen Lebensphasen, etwa vom Kindergarten in die Schule oder aus der Schule in das Studium oder den Beruf, werden sensibel vorbereitet und weitsichtig unterstützt.
Der Unterricht ist dem Curriculum verpflichtet und setzt methodisch reflektierte Lern- und Entwicklungsimpulse. Inhaltlich werden Anregungen, Herausforderungen, Anforderungen und Probleme formuliert, mit denen junge Menschen konfrontiert werden. Im Curriculum manifestiert sich der fachliche Anspruch an die Schule. Der Unterricht spricht, obwohl überwiegend in Alterskohorten organisiert, möglichst individuell die Entwicklung einer jeden Schülerin und eines jeden Schülers an. In diesem fachlichen Kontext ist Unterricht immer auch ein (pädagogisch konzipierter) Lern- und Entwicklungsraum für die Persönlichkeit, denn es geht um die Klärung von Stärken und Interessen und um die je individuelle Auseinandersetzung mit Kultur.
Unterricht ist durch thematische Engführungen gekennzeichnet, die durch die Konzentration auf Themen, Fragestellungen und Fächer Lern- und Entwicklungsherausforderungen bereit stellen. In dieser Zuspitzung können eigene Interessen, eigene Meinungen und Urteilsfähigkeit sowie eigene Problemlösungen ausgebildet und damit eigene Fähigkeiten erprobt werden. Durch den Umgang mit spezifischen Inhalten werden auch generellere Fähigkeiten des Lernens angeeignet und trainiert, die nachfolgendes Lernen erleichtern und insgesamt die Basis für ein Lernen über die gesamte Lebens spanne legen.
Die Vielfalt der schulischen Fächer repräsentiert unterschiedliche "Modi der Weltbegegnung" (Jürgen Baumert), die für das Verständnis der Welt konstitutiv sind. Damit ist gemeint, dass es verschiedene Weisen gibt, sich der Wirklichkeit zu nähern und sie zu erschließen. Schulfächer ordnen die Welt - mit allen Problemen der Verkürzung von Perspektiven, die eine Ordnung mit sich bringt. Mathematik und Naturwissenschaften betrachten die Welt mit den Methoden und Instrumenten des Messens, der Berechnung und rationaler Konstruktion, die Sprachen, Kunst und Sport zielen auf einen ästhetischen und aus drucksorientierten Weltzugang, die Fächer Geschichte, Politik, Geographie, Recht und Ökonomie gehen den rechtlichen Voraussetzungen bzw. den Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf den Grund und die Fächer Religion und Ethik sowie Philosophie befassen sich mit Grundfragen menschlicher Existenz, des Wirklichkeitsverständnisses und der Begründung menschlichen Handelns. Die unterschiedlichen Modi der Weltzugänge implizieren Uneindeutigkeiten und Spannungen, die im Unterricht thematisiert werden. Dieser zielt darauf, die unter schiedlichen Reichweiten verschiedener Wissensformen zu verstehen und den Umgang mit Ambiguitäten als eine wichtige Kompetenz in der Wissensgesellschaft zu erwerben.
Eine gute Schule betrachtet religiöse Bildung als unverzichtbaren Teil allgemeiner Bildung, zumal die Auseinandersetzung mit Religion und der in der Schule daraus folgende interreligiöse Dialog bzw. auch der Dialog zwischen religiös und nicht religiös orientierten Schülerinnen und Schülern immer wichtiger werden. Religiöse Bildung wird durch den - in transparenter Weise konfessionellen und konfessionell-kooperativen - Religionsunterricht in besonderer Weise gewährleistet, aber auch durch Fächer wie Werte und Normen, Ethik und Philosophie unterstützt, sofern sie ein Grundverständnis von Religion als Sinndeutung des Lebens und als kulturelle Tradition vermitteln.
"Für viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene spielt Religion eine bedeutende Rolle, die auch denen verständlich sein sollte, die sich selbst nicht als religiös verstehen. Nicht zuletzt ist religiöse Bildung ein Recht der Kinder und Jugendlichen." [5]
Der Unterricht fordert Schülerinnen und Schüler heraus, Kompetenzen für den Umgang mit der Welt zu erwerben. Dazu brauchen sie fundiertes Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Der Unterricht gibt den Kindern und Jugendlichen kontinuierlich Rückmeldungen über ihren Lernerfolg und Lernstand, um ihre Anstrengungsbereitschaft zu unterstützen und ihre Leistungsfähigkeit zu fördern. Die Bewertung des Lernerfolgs handhaben Lehrkräfte transparent und ohne die Integrität der Person zu verletzen oder Schülerinnen und Schüler zu beschämen. Damit helfen sie diesen, sich mit ihren Leistungen konstruktiv und selbstkritisch auseinanderzusetzen und mit der Zumutung einer Beurteilung durch andere umzugehen, ohne durch diese überwältigt zu werden bzw. diese auf ihre ganze Person zu beziehen. Misserfolge und ein Scheitern im System Schule werden so - wenn irgend möglich - vermieden bzw. werden gemeinsam mit Lehrkräften bearbeitet.
"Der Religionsunterricht bietet Kindern und Jugendlichen eine ihnen sonst nicht verfügbare Möglichkeit, sich im Blick auf religiöse Grundfragen des eigenen Lebens sowie des Zusammenlebens mit anderen zu orientieren und den eigenen Glauben zu klären. Dieser Unterricht sollte ›in Zukunft mehr noch als bisher ein Beitrag zur persönlichen religiösen Orientierung und Bildung sein‹. Weil im evangelischen Religionsunterricht bewusst bleibt, dass ›über den Glauben nicht pädagogisch verfügt werden‹ kann, muss er dem Grundsatz folgen, ›die selbständige, erfahrungsbezogene Aneignung und Auseinandersetzung zu fördern.‹" [6]
Die Schule in ihrer Gesamtheit ist inhaltlich sehr viel offener und breiter als der Unter richt angelegt. Sie bietet Arbeitsgemeinschaften zu bestimmten Themen an, Projektgruppen mit handwerklichen Aktivitäten wie z. B. in einer Fahrradwerkstatt oder der Robotertechnik, Theater-AGs und Theaterbesuche, Orchester, Chor und Big Band, Sport in allen Varianten, schließlich religiös geprägte Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten z. B. in der Kooperation mit der kirchlichen Jugendarbeit oder in Schulgottesdiensten. Sie macht kontinuierliche extracurriculare Aktivitäten im Ganztags betrieb genauso wie einmalig stattfindende kleinere Vorhaben an schulischen und außerschulischen Lernorten zugänglich. Damit reagiert sie einerseits auf Interessen von Schülerinnen und Schülern und weckt bzw. ermöglicht andererseits überhaupt erst ihr Interesse. Schüleraustausch und Klassenfahrten fördern die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler in spezifischer Weise. Die Schule als Organisation unterstützt einzelne Schüle rinnen und Schüler, etwa durch individuelles Tutoring oder andere Förderangebote. Ebenso legt sie Wert auf die bildung weiterer und neuer Fähigkeiten durch spezialisierende Angebote. Sie kennt die Probleme derjenigen Heranwachsenden, die aufgrund ihrer Problemlast zu Hause Mühe haben, sich auf die Angebote in der Schule überhaupt einzulassen. Gerade für diese kann die Schule als Entwicklungsfreiraum ihre Stärke zeigen.
"Die Konfirmandenarbeit ist ein Lernfeld, in dem sich Jugendliche Lebens- und Glaubensorientierungen erschließen sowie Werthaltungen aneignen können, die für die gesamte Gesellschaft bedeutsam sind. Konfirmandenarbeit stellt deshalb ein Bildungsangebot dar, das andere Angebote etwa in der Schule in wichtigen Hinsichten ergänzt. Das gilt besonders im Blick auf das freiwillige Engagement." [7]
Die Schule nimmt darüber hinaus Bildungsmöglichkeiten in ihrem Umfeld wahr und verweist auf sie, so z. B. in Jugendgruppen, in Vereinen, in Kirchengemeinden, in der Konfirmandenarbeit, im Sport und in der Gruppe der Gleichaltrigen. Als Ganztagsschule in Bildungspartnerschaft bietet sie Räume und Zeit, damit Schülerinnen und Schüler diese Angebote nutzen können. Sie weiß um die Grenzen schulischer Bildung und kooperiert mit Bildungsangeboten anderer Träger. Sie lässt Zeitfenster für ehrenamtliche Betätigung in der Kirchengemeinde, im Sport, in der Musik und weiteren zivilgesellschaftlichen Bereichen. In einer guten Schule können sich Lehrkräfte als Lernende wahrnehmen und Schülerinnen und Schüler ihre Lehrkräfte als Menschen mit eigener Entwicklung achten lernen.
Sowohl der Unterricht als auch die Schule in ihrer Gesamtheit stellen damit einen Raum dar, in dem Menschen ihre Fähigkeiten ausbilden und sich erproben können - indem sie mit gesellschaftlichen Bildungsanforderungen einerseits umgehen und andererseits eigene Schwerpunkte und Interessen verfolgen. Die Schule unterstützt Schülerinnen und Schüler dabei, die Spannung zwischen einer verpflichtenden Grundbildung und Wahlmöglichkeiten für die Ausbildung eigener Interessen zu balancieren. Sie macht Bildungsgerechtigkeit erfahrbar und fördert individuelle Entwicklungen.