Gemeinsam evangelisch!
Erfahrungen, theologische Orientierungen, EKD-Text 119, Hrg. EKD, 2014, ISBN 978-3-87843-033-9
3 Bisherige theologische Ansätze zur Beschreibung des Verhältnisses einheimischer Kirchen zu christlichen Zuwanderern und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft
In Erklärungen und Veröffentlichungen der EKD und ihrer Gliedkirchen, aber auch in anderen Texten sind unterschiedliche Zugänge zur theologischen Verhältnisbestimmung zu christlichen Migranten bzw. zu ihren Gemeinden erkennbar. Vielfach wird deutlich, dass theologische Begründungen und der Rückgriff auf biblische Traditionen sich zunächst generell auf Zuwanderer beziehen, die dann als „die Anderen“, als „die Fremden“ wahrgenommen werden. So können viele der bisherigen Ansätze verstanden werden als Versuche, aus biblisch-theologischen Begründungen heraus den Schutz der Fremden, ihr Recht auf Teilhabe und Rechtssicherheit, auf Gastfreundschaft und Unterstützung zu unterstreichen. Oft beziehen sich solche theologischen Aussagen auf Migranten im Allgemeinen, also gleichermaßen auf christliche Geschwister wie auf Angehörige anderer Religionen.
Das Modell der „Koinonia“, welches vor allem von Raiser ins Gespräch gebracht worden ist, unternimmt den Versuch, eine gemeinsame, konfessionsübergreifende Ekklesiologie zu entwickeln. Dieser Entwurf ist jedoch umstritten, da er im Verdacht steht, bestehende theologische Differenzen zu verwischen und - den Gedanken der „Hausgenossenschaft“ (Eph 2,19 - 22) aufgreifend - die kulturell bedingte Verschiedenartigkeit des Christ- und Kirche-Seins zu nivellieren.
Da das Verhältnis zu christlichen Migranten und ihren Gemeinden bisher kaum reflektiert wurde, fehlt vielen dieser Überlegungen die ekklesiologische Fragestellung bzw. Zuspitzung. Das Modell der „Konvivenz“ von Sundermeier hilft hier nur bedingt weiter. Zum einen erscheint es vor allem als eine Methodik, wie z. B. bislang nebeneinander existierende Gemeinden oder Kirchen einander begegnen und stufenweise ihre Wahrnehmung stärken können, bis sie ein Stadium der „Konvivenz“, d. h. ein verständnisvolles und reflektiertes Miteinander erreichen. Insofern enthält es wichtige Anregungen etwa für das Verhältnis von Ortsgemeinden und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. Jedoch ist zu bedenken, dass es sich gerade nicht nur auf solche Verhältnisbestimmungen bezieht, sondern auch ganz allgemein Beziehungen zu „Fremden“, d. h. auch zu Angehörigen anderer Religionen beschreiben und gestalten will.
Möglicherweise stoßen die von Sundermeier und Raiser entwickelten Denkmodelle gerade deshalb an ihre Grenzen, weil sie von dem hoch gesteckten Anspruch geleitet sind, ein theologisches Modell zu finden, das gleichsam universal - kon-fessions- und religionsübergreifend - Anerkennung und Anwendung findet. Dagegen erscheint es angebracht, zunächst aus dem eigenen theologischen und kirchlichen Kontext heraus zu bedenken, was die Präsenz christlicher Migranten in Deutschland für unser Kirche-Sein bedeuten könnte.
In den Schriften der EKD wird hingegen biblisch Bezug genommen auf die Vielfalt der Schöpfung (EKD-Text 108, 2009), auf das Bild vom „wandernden Gottesvolk“, auf den Schutz für die Schwachen (2. Mose 22,20ff; 3. Mose 19,33ff; 5. Mose 10,18f, Jes 58,7), auf das Pfingstgeschehen (Glaube lebt von Vielgestaltigkeit), auf Gal 3,28 und Apg 15.
Die Bezugnahme auf diese Texte führte zu theologischen Aussagen, die den Schutz der Fremden, die Notwendigkeit und die Chancen von Integration, den Wert von kultureller Vielfalt auch innerhalb des christlichen Lebens hervorheben. So spricht z. B. die EKD-Handreichung „Zur ökumenischen Zusammenarbeit mit Gemeinden fremder Sprache und Herkunft“ aus dem Jahr 1996 von den Landeskirchen als „alteingesessenen Kirchen“, deren „besonderer Auftrag“ darin bestehe, „ökumenische Gastfreundschaft zu praktizieren“. Das paulinische Bild des Leibes mit den vielen Gliedern, die wechselseitig aufeinander angewiesen sind, diente dabei als verpflichtendes ökumenisches Modell.
15 Jahre nach dieser Veröffentlichung ist deutlich, dass sich das Konzept der „ökumenischen Gastfreundschaft“, so wichtig es gerade in ersten Kontakten zwischen Kirchen und Zuwanderern sein kann, auf Dauerweder als Grundlage für die Zusammenarbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft noch für die Integration von Christen mit Migrationshintergrund in deutsche Kirchenstrukturen eignet. Hierfür gibt es mehrere Gründe:
Zum einen legt das Konzept der Gastfreundschaft nahe, dass die Migranten auf Dauer Gäste und damit Fremde bleiben. Auch wenn einige und vor allem Migranten der ersten Generation mit ihren jeweiligen Spezifika christlichen Glaubens eher unter sich bleiben wollen, so verstehen sich viele jedoch als Einwandernde, als Menschen, die auf Dauer hier bleiben wollen. Sie weiterhin als Gäste zu behandeln, nimmt ihre Absicht nicht ernst, dauerhaft in Deutschland zu leben. Sie empfinden es so, dass sie als Gäste darauf angewiesen bleiben, dass die einheimischen Gastgeber sie freundlich dulden. So wurde es immer wieder zum Ausdruck gebracht von Kommissionsmitgliedern aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft und zahlreichen Gemeindevertretern, mit denen die Kommission im Gespräch war.
Neben allen Vorzügen, welche das Konzept von der ökumenischen Gastfreundschaft im Rahmen der kirchlichen Selbstöffnung für viele Kirchengemeinden gebracht hat, impliziert es letztlich ein Machtgefälle. Die Gastgeber sind diejenigen, die bestimmen und entscheiden, wen sie aufnehmen und wen nicht. Die Gäste dagegen sind abhängige Empfänger von Wohltaten. In einer solchen Beziehung wird eine Begegnung von Geschwistern auf Augenhöhe erschwert.
Damit sollen die positiven Erfahrungen mit Gastfreundschaft weder beiseite geschoben noch diskreditiert werden. Für viele Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft ist und bleibt es wichtig, dass einheimische Christen und Gemeinden ihnen gastfreundlich begegnen und dass sie ihrerseits Gastgeber sein können. Jedoch ist gleichzeitig festzuhalten, dass die Rede von Gästen im innerkirchlichen Kontext zu kurz greift. Denn die biblischen Texte von der Gastfreundschaft, auf die sie sich bezieht (z. B. Gen 18,2-8), haben Menschen fremden Glaubens im Blick.
Eingewanderte Christen sind jedoch nicht Fremde, sondern ganz unabhängig von ihrem politischen und rechtlichen Status vielmehr „Mitbürger und Hausgenossen“ (Eph 2,19), Schwestern und Brüder in Jesus Christus. Darum empfinden viele von ihnen die Rede von der ökumenischen Gastfreundschaft als verletzend und ausgrenzend. Der Apostel Paulus entwickelte mit seinem Bild vom Leib und den Gliedern, die aufeinander angewiesen sind (1. Kor 12), eine theologische Orientierung für ein gelingendes Miteinander innerhalb der Kirche Jesu Christi. Und diese war auch in seiner Wahrnehmung von großer Vielfalt und zuweilen auch von Differenzen, ja Gegensätzen geprägt. Bedingt durch die von Paulus vehement propagierte Öffnung des noch jungen Christentums hin zur hellenistischen Welt kam es immer wieder zu Herausforderungen durch diejenigen, die das Evangelium hörten und für sich annahmen. Die daraus resultierende Diversität von kulturellen und religiösen Prägungen nötigte den Apostel schließlich zu einer integrativen Formgestalt christlicher Gemeinschaft, in der „nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau“ ist, sondern „allesamt einer in Christus“ (Gal 3,28).
Damit wird klar, dass eine ekklesiologisch begründete Verhältnisbestimmung zu Gemeinden anderer Sprache und Herkunft die bestehenden Unterschiedlichkeiten, Differenzen und auch mögliche Konflikte nicht überspringt oder verwischt (s. 4.3). Sie legt auch keineswegs nahe, dass nun möglichst alle Gemeinden anderer Sprache und Herkunft die Integration in eine evangelische Kirche in Deutschland anstreben sollten. Mit guten Gründen werden sich die Beteiligten auf beiden Seiten in bestimmten Situationen dafür und in anderen dagegen entscheiden. Immer jedoch gilt, dass sie einander als Geschwister in der einen Kirche Jesu Christi betrachten dürfen.