Gemeinsam evangelisch!
Erfahrungen, theologische Orientierungen, EKD-Text 119, Hrg. EKD, 2014, ISBN 978-3-87843-033-9
Einleitung
Wenn am Sonntagmorgen in den evangelischen Gottesdiensten in Deutschland das Orgelvorspiel ertönt, dann sitzen und agieren in den Kirchen - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - ausschließlich Menschen, deren Vorfahren allesamt deutschsprachig waren. Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, feiern ihre eigenen Gottesdienste in anderen Sprachen, entweder als Untermieter in deutschen Kirchen und Gemeindehäusern oder in gemieteten Ladenlokalen und Fabrikhallen.
Deutschland ist Einwanderungsland, und die evangelischen Kirchen haben in den letzten 20 Jahren viel dazu beigetragen, dass diese Erkenntnis sich durchgesetzt hat. Menschen mit Migrationshintergrund sind inzwischen in allen gesellschaftlichen Bereichen aktiv und sichtbar: in Schulen und Industriebetrieben, in der Politik, im Sport und in den Medien. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass im kirchlichen Bereich die Präsenz von Migranten in haupt- und nebenamtlichen Arbeitsverhältnissen immer noch schwach ausgeprägt ist. Dass bestimmte Migranten Parallelgesellschaften bilden, ist gesamtgesellschaftlich nicht erwünscht. Das parallele Nebeneinander von evangelischen Kirchengemeinden unterschiedlicher Sprachen und Kulturen ist dagegen erst von wenigen als Problem erkannt worden. Die Frage, wie sich die EKD und ihre Gliedkirchen für diejenigen öffnen können, die in den letzten Jahrzehnten hier eingewandert sind oder sich auch nur vorübergehend hier aufhalten, ist aber von großer Bedeutung für alle Beteiligten.
Die evangelische Kirche kann auf Integrationserfahrungen zurückgreifen, die sie jahrhundertelang immer wieder selbst gemacht hat. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In die streng reformierten evangelischen Gemeinden am linken Niederrhein kamen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zahlreiche evangelischlutherische Flüchtlinge. Sie wurden ganz selbstverständlich in die bestehenden Gemeinden integriert. Doch hielt sich bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts die Sitte, sonntags zwei Gottesdienste zu feiern: einen lutherischen mit Kruzifix, Kerzen, Blumen und lutherischer Liturgie (von den Einheimischen leicht spöttisch als „Blömschesjottesdienst“ tituliert), und einen reformierten. Anderenorts bestanden nebeneinander lutherische und reformierte Kirchengemeinden. Erst mit dem Heranwachsen der nächsten Generation bildeten sich neue Formen aus beiden Traditionen: Heute stehen auch in den niederrheinisch-reformierten Gemeinden Blumen auf dem Tisch, und an den meisten Orten haben sich die ursprünglich nebeneinander bestehenden reformierten und lutherischen Gemeinden vereinigt und unierte Gottesdienstformen entwickelt.
Grundlegend für diese Prozesse war, dass die reformierten Gemeinden die lutherischen Christen trotz ihres Andersseins als Teil ihres Selbst akzeptieren konnten. Das scheint aber viel schwieriger zu sein, wenn Menschen eine andere Sprache sprechen oder eine andere Hautfarbe haben. Seit Herder wurden in Deutschland Sprache, Kultur und Glaube als untrennbare Einheit gedacht, die eine Identität konstituieren, die man sich als abgeschlossen und unveränderbar vorstellt. Die Erkenntnis der Kulturwissenschaften, dass Identitäten permanenter Veränderung und Verhandlung unterliegen und niemals abgeschlossen und unveränderbar sind, hat sich zwar im wissenschaftlichen Diskurs, noch nicht aber im gesellschaftlichen Bewusstsein durchsetzen können. Dies zeigt sich auch im Umgang der einheimischen mit eingewanderten Christen in den letzten 50 Jahren: Er ist im Wesentlichen geprägt von der Vorstellung, dass sowohl die eigene Kirche als auch die der anderen ihre je eigene Identität zu bewahren hätten.