Gefährdetes Klima
5. Was folgt aus der Klimaschutzproblematik für den Lebensstil der Menschen in der Bundesrepublik?
(111) Das uns bedrängende Klimaproblem erfordert also - zusammen mit anderen globalen Umweltproblemen und mit dem Problem der weltweiten Gerechtigkeit - eine sehr deutliche Abkehr von der in Europa und Nordamerika vorherrschenden Wirtschafts- und Lebensweise mit ihrem starken Energie- und Ressourcenverbrauch. Das ist im letzten Abschnitt noch einmal deutlich geworden. Die EKD-Synode in Bad Wildungen 1991 formulierte dazu:
"Die derzeitige Lebensweise, vor allem in den westlichen Industriegesellschaften ist nicht mehr schöpfungsverträglich. Dazu gehören insbesondere die Höhe des Energieverbrauchs, die Vergiftung von Boden und Grundwasser und die anhaltende Verschwendung von Ressourcen. Wir können nicht weiterleben wie bisher."
(112) Schon 1980 hatte die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR auf die Notwendigkeit einer "Veränderung des Wohlstandsanspruchs als Beitrag zur Lösung der Umweltprobleme" hingewiesen. Ein bescheidener Lebensstil sollte auch nach den Worten der Versammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen während der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (Rio 1992) ein Hauptbeitrag der Christen und der Kirchen sein. Die europäische Ökumenische Versammlung 1989 in Basel forderte die Kirchen zu einer Halbierung ihres Energieverbrauchs auf.
(113) Der Treibhauseffekt und die Ozonschichtverdünnung machen vor allem die Umstellung auf CO2- und FCKW-vermeidende Produktionsweisen und Verbrauchsgewohnheiten notwendig. Die pro Kopf gerechnete CO2-Emission von derzeit jährlich rund 12 t in unserem Land soll nach den Empfehlungen der Enquete-Kommission "Schutz der Erdatmosphäre" bis zum Jahr 2050 um mehr als 10 t auf etwa 2 bis 3 t gesenkt werden. Davon soll in einem ersten Schritt schon bis zum Jahr 2005 eine Reduktion der Pro-Kopf-Emission um 3 bis 4 t erfolgen. Das bedingt eine entsprechende Verminderung des Verbrauchs an den Energieträgern Kohle, Öl und Erdgas, die heute noch 87 % unseres Energiebedarfs in Deutschland decken. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn neben der technisch besseren Ausnutzung von eingesetzter Energie und dem Übergang zu anderen, nicht fossilen Energieträgern auch der Verzicht der Endverbraucher auf energieintensive Güter und Aktivitäten zum Erfolg beiträgt.
(114) Ein solcher Verzicht berührt unsere derzeitigen individuellen Lebensgewohnheiten und deren strukturelle Vorgaben. Aber auch technische Lösungen, die den Lebensstil nicht zu tangieren scheinen, wie die rationellere Energienutzung und der verstärkte Einsatz erneuerbarer Energien, wirken auf das Alltagsleben ein, weil ihre Mehrkosten über Preise oder Steuern letztlich aus dem Geldbeutel der Bürger bestritten werden müssen. Einige Zahlen sollen das beispielhaft verdeutlichen: Um von den genannten 12 t CO2 eine einzige zu vermeiden, müßte eine Person rund 4000 km im Jahr weniger mit ihrem PKW fahren - heutige Technik vorausgesetzt. Und um eine jährliche Emission von 1 t CO2 aus Heizöl durch Solarkollektoren zu vermeiden. ergeben sich bei heutigen Preisen Mehrkosten von etwa 1000 DM pro Jahr.
(115) Ohne Frage, die Herausforderung ist groß. Von der Notwendigkeit solcher Veränderungen ist bereits viel geredet worden, von ihrer breitenwirksamen Realisierung kann aber bisher keine Rede sein. Die Erfahrungen seit 1990 zeigen: Es reicht nicht, wenn man sich darauf verläßt, daß richtige Einsichten schon irgendwie von selbst zu den nötigen Veränderungen führen. Es bedarf vielmehr einer gemeinsamen großen Anstrengung von Wirtschaft, Politik und den Verbrauchern
(116) Es gibt Menschen und Menschengruppen, die das von ihnen als richtig Erkannte konsequent in ihrer Lebensgestaltung umsetzen und ihre Lebensweise im besonderen Maße auf die neuen Herausforderungen einstellen. Sie sind damit Vorreiter für die Gesamtgesellschaft. Maximalforderungen und Utopien, die sie zu leben versuchen, können eine wichtige zielmarkierende Rolle spielen und können helfen, daß die Mehrheit sich nicht vorschnell mit "zweitbesten" Lösungen zufriedengibt. Eine Umorientierung der individuellen Lebensgewohnheiten bedarf in der Regel individueller Anpassungshilfen.
(117) Obwohl die unmittelbare Auswirkung ihrer behutsameren Verbrauchsgewohnheiten auf die Umweltbelastung quantitativ kaum zu Buche schlägt, ist das Beispiel der Vorreiter in der Frühphase eines Umdenkprozesses wichtig und notwendig. Es gibt den Anstoß, gewohnte Verhaltensweisen zu überdenken. Eine große Bedeutung kommt dabei prominenten Vorbildern eines bescheidenen und umweltschonenden Lebensstils zu, denn das Verhalten vieler Menschen orientiert sich an Vorbildern, obwohl deren Lebensweisen häufig nur unter besonderen Bedingungen durchführbar und dann nicht verallgemeinerungsfähig sind.
(118) Neben der Einsicht in die Notwendigkeit ihres Tuns motiviert oft ein starkes Selbstbewußtsein die Vorreiter dazu, ihre Modelle gegen erhebliche strukturelle Widerstände - wie eine auf ihre Belange nicht angepaßte Infrastruktur und trotz frustrierender Erfahrungen durchzuhalten. Sie geraten damit manchmal in eine extreme Außenseiterstellung oder werden da hineingedrängt. Dann kann ihr elitäres Selbstverständnis zuweilen für Außenstehende auch abstoßend und abschreckend wirken. Es ist dann nicht mehr ansteckend. Deshalb brauchen wir ein gesellschaftliches Klima, in dem solche abweichenden Lebensstile nicht ausgegrenzt, sondern als Bereicherung empfunden werden. Zugleich sollten die Vorreiter das Gefühl und Verständnis für die Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Normalbürger nicht verlieren, der Versuchung der Überheblichkeit widerstehen und einen langen Atem für die gesellschaftlichen Umdenkprozesse behalten. Manchmal behindern indessen auch überkommene Vorschriften und Verfahrensgewohnheiten unnötigerweise die unkonventionellen Modelle. Vorschriften müssen mit Aufgeschlossenheit auf der einen und beharrlicher Geduld auf der anderen Seite den neuen Notwendigkeiten angepaßt werden.
(119) Erst wenn die notwendigen Veränderungen in der Breite der Gesellschaft Platz finden, kann sich wirklich etwas bewegen. Für die Verbreitung und Ausweitung ökologisch angemessener Lebensstile kommt es darauf an, eine Mehrzahl von abgestuften Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die zwar in eine eindeutige Richtung zielen, dabei aber die unterschiedlichen Situationen, Charaktere und Stellungen von Menschen berücksichtigen.
(120) Daß ein neuer Lebensstil auch "Spaß machen" kann, zeigt zum Beispiel das wiederkehrende Wohlbefinden der Anwohner und Passanten in den neuen Fußgängerzonen im Zentrum vieler Städte, vor allem, wenn deren Gestaltung architektonisch gelungen ist; ähnlich geht es mit der Aktion "Mobil ohne Auto" - seit 1981 in den ostdeutschen Landeskirchen, seit 1990 deutschlandweit - wo an einem Wochenende Anfang Juni mit Spaß, aber in allem Ernst punktuell die Möglichkeiten einer umweltfreundlichen Mobilität entdeckt werden. In der Regel wird man die erfreulichen Aspekte eines neuen Lebensstils erst wahrnehmen können, wenn man ihn selbst lebt. Daher sollte es vermehrt Angebote geben, wo ein geänderter Lebensstil - zunächst punktuell und mit geringen Hemmschwellen - probiert werden kann. Kirchengemeinden und Gruppen können solche Werkstattangebote beheimaten oder selbst anbieten.
(121) Im Grunde ist die Suche nach erfreulichen Aspekten einer veränderten Lebensweise kein pädagogischer Trick - wie man zunächst mutmaßen mag -, sondern die praktische Umsetzung der Erkenntnis von der Einheit der Welt. Was die Menschheit der außermenschlichen Schöpfung an Wohltat antut, ist im allgemeinen auch Wohltat für sie selber - nicht nur in abstrakter Ferne, sondern nah und erfahrbar. Auf keinen Fall ist hier die Askese - der Verzicht auf Annehmlichkeiten und das Wohlbefinden - für sich das Ziel der Veränderung, es geht vielmehr immer um die Vermeidung zukünftiger Gefahren für Mensch und Umwelt.
(122) Viele Menschen werden freilich bereits kleine Absenkungen eines Lebensstandards auf hohem materiellen Niveau, die noch nicht im mindestem etwas mit Askese zu tun haben, dennoch als herben Verzicht empfinden. Sie müssen erst die Schwelle der "Entzugserscheinungen" überwinden, um die Möglichkeiten neuer Lebensverwirklichung erfahren zu können.
(123) Wenn die Grundbedürfnisse befriedigt sind, bekommt der Verbrauch und der Besitz von Sachen häufig Stellvertretercharakter. Man will - meistens ohne daß dies bewußt ist - gar nicht die Dinge selbst, sondern braucht sie für etwas anderes, zum Beispiel zur Darstellung seines Wertes, seines "auf der Höhe der Zeit Seins", um mithalten zu können, oder weil man glaubt, nur so seinem Leben einen Sinn geben zu können. Die Verknüpfung solcher Bedürfnisse mit dem konkreten Verbrauch von Sachen ist vielfach eine Frage der gesellschaftlichen Konvention und sogar der Mode. Es muß aber möglich sein, vieles davon auf umweltverträglichere Weise zu befriedigen, ohne Abstriche an den eigentlichen darunter liegenden Zielen machen zu müssen.
(124) Erstaunlich viele Menschen - oft dort, wo man es nicht vermutet praktizieren Umweltschutz und insbesondere Energiesparen in individuell ausgewählten Aktivitäten ihres privaten Lebens. Sie fahren - wo es geht - mit dem Fahrrad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln, drehen den Thermostaten herunter oder investieren gezielt in energiesparende Geräte.
(125) Darüber hinaus gibt es noch viel mehr an grundsätzlicher Bereitschaft, die jedoch nicht in Handlungen umgesetzt wird. Die Umsetzung solcher Bereitschaft ist indessen nötig, um im Ganzen spürbare Wirkungen zu erzielen. Umwelterziehung, die auf individuelle Verhaltensänderungen abzielt und durch das Beispiel von engagierten Gruppen und Einzelpersonen unterstützt wird, bringt offensichtlich allein nicht die Veränderungen in der Breite zuwege, die zur Lösung der Probleme nötig sind. Verantwortlich dafür sind Hemmschwellen, die nur mit Hilfestellung von außen überwunden werden können.
(126) Ein Haupthindernis für die Umsetzung der guten Absichten ist der Umstand, daß der Beitrag des Einzelnen im Ganzen keine spürbare Wirkung hat, sein Aufwand den gutwillig Handelnden jedoch merklich belastet. Ist dagegen durch äußere Einwirkung, durch öffentlich kontrollierte Regelungen dafür gesorgt, daß alle im gleichen Sinne zur Wirkung beitragen und sich dann auch ein meßbarer Erfolg einstellt, werden sehr viel mehr Menschen ihren Einsichten entsprechend handeln und für das allgemeine Wohl auch Belastungen und Einschränkungen hinnehmen. Eine Mehrheit der Bundesbürger würde zum Beispiel eine allgemein verordnete Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen akzeptieren, die sich der einzelne in der Regel nicht selbst freiwillig auferlegt.
(127) Ein weiterer Grund betrifft die wechselseitige Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage, die bei ohnehin schwach motivierter Nachfrage zu einer Blockierung führen kann. Autos mit minimalem Treibstoffverbrauch werden aufgrund fehlender Marktbedingungen nicht nachgefragt. weil sie bisher nicht preiswert und kundennah angeboten wurden. Sie werden bei den gegenwärtigen Treibstoffpreisen aber nicht preiswert und kundennah angeboten, solange nicht eine für die Massenfertigung ausreichende Nachfrage vorhanden ist. Mancher wird davon abgehalten, den öffentlichen Nahverkehr zu benutzen, weil ihm die Fahrfrequenz zu gering ist. Wichtig ist auch hier, daß Menschen von sozialem Ansehen öffentliche Verkehrsmittel benutzen, um deren Ansehen aufzuwerten. Vermutlich werden dann auch die Sicherheitsmaßnahmen erhöht und damit auch andere Fahrgäste vor Übergriffen bewahrt. Die Verantwortlichen des öffentlichen Personennahverkehrs zögern aber, Bahnen und Busse häufiger fahren zu lassen, solange das bestehende Angebot nicht einmal ausgelastet ist.
(128) Man darf sich über die bleibende Schwierigkeit der Umsetzung gewonnener Einsichten in wirksames Handeln nicht hinwegtäuschen. Die erforderlichen starken Veränderungen der europäisch-nordamerikanischen Lebensweise sind mit fühlbaren Einschränkungen und wirklichen Einbußen an erreichtem materiellem Lebensstandard und der Aufgabe von Besitzständen verbunden. Dies wird mit Sicherheit bedeuten: weniger Mobilität, zusätzliche Abgaben und höhere Preise, die nicht durch höhere Lohn- und Gehaltstarife aufgefangen werden, mehr Nachdenken-Müssen bei dem was man täglich tut. Wenn auch keine Partei das öffentlich zu sagen wagt - die Kirchen müssen und können das sagen, zumal in ihnen noch die Vorstellung lebendig ist, daß die Lebensqualität nicht von einem hohen Lebensstandard abhängig ist.
(129) Die Veränderungen sind unbequem, ohne daß für den einzelnen gleich ein zu Buche schlagender und vorzeigbarer Nutzen dagegen aufzurechnen wäre. Dramatische Folgen der Klimaveränderung werden kaum für die eigene Lebenszeit erwartet und werden gern als ein Problem anderer Weltregionen gesehen. Lösungen können deshalb nur gelingen, wenn Menschen bereit sind - mehr als es heute schon sichtbar wird - das Wohl der Menschengemeinschaft und das der heranwachsenden und kommenden Generationen gleichberechtigt neben dem eigenen Wohlergehen wichtig zu nehmen.